EUGH C-258/16

ECLI:ECLI:EU:C:2018:252
bei uns veröffentlicht am12.04.2018

Gericht

Europäischer Gerichtshof

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

12. April 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Luftverkehr – Übereinkommen von Montreal – Art. 31 – Haftung der Luftfrachtführer für aufgegebenes Reisegepäck – Anforderungen an die Form und den Inhalt einer schriftlichen Schadensanzeige an den Luftfrachtführer – Elektronisch eingegebene und im Informationssystem des Luftfrachtführers registrierte Schadensanzeige – Von einem Vertreter des Luftfrachtführers im Namen des Empfängers eingegebene Schadensanzeige“

In der Rechtssache C‑258/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) mit Entscheidung vom 2. Mai 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Mai 2016, in dem Verfahren

Finnair Oyj

gegen

Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter J. Malenovský (Berichterstatter), M. Safjan, D. Šváby und M. Vilaras,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. März 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Finnair Oyj, vertreten durch T. Väätäinen, asianajaja,

der Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia, vertreten durch V. Teiramaa, asianajaja,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. Capolupo, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch I. Koskinen und K. Simonsson als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 20. Dezember 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 31 des Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr, das am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossen und im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 (ABl. 2001, L 194, S. 38) genehmigt wurde (im Folgenden: Übereinkommen von Montreal).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Finnair Oyj, einer Fluggesellschaft, und der Keskinäinen Vakuutusyhtiö Fennia (im Folgenden: Fennia), einer Versicherungsgesellschaft, wegen der Haftung der Finnair Oyj für den aus dem Verlust von Gegenständen aus einem Gepäckstück entstandenen Schaden.

Rechtlicher Rahmen

Übereinkommen von Montreal

3

Nach dem dritten Absatz der Präambel des Übereinkommens von Montreal erkennen dessen Vertragsstaaten die „Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr und eines angemessenen Schadensersatzes nach dem Grundsatz des vollen Ausgleichs“ an.

4

Im fünften Absatz dieser Präambel heißt es:

„… gemeinsames Handeln der Staaten zur weiteren Harmonisierung und Kodifizierung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr durch ein neues Übereinkommen [ist] das beste Mittel …, um einen gerechten Interessenausgleich zu erreichen“.

5

Art. 17 („Tod und Körperverletzung von Reisenden – Beschädigung von Reisegepäck“) des Übereinkommens von Montreal sieht in Abs. 2 vor:

„Der Luftfrachtführer hat den Schaden zu ersetzen, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht, jedoch nur, wenn das Ereignis, durch das die Zerstörung, der Verlust oder die Beschädigung verursacht wurde, an Bord des Luftfahrzeugs oder während eines Zeitraums eingetreten ist, in dem sich das aufgegebene Reisegepäck in der Obhut des Luftfrachtführers befand. Der Luftfrachtführer haftet jedoch nicht, wenn und soweit der Schaden auf die Eigenart des Reisegepäcks oder einen ihm innewohnenden Mangel zurückzuführen ist. Bei nicht aufgegebenem Reisegepäck, einschließlich persönlicher Gegenstände, haftet der Luftfrachtführer, wenn der Schaden auf sein Verschulden oder das Verschulden seiner Leute zurückzuführen ist.“

6

Art. 31 („Fristgerechte Schadensanzeige“) bestimmt:

„(1)   Nimmt der Empfänger aufgegebenes Reisegepäck oder Güter vorbehaltlos an, so begründet dies die widerlegbare Vermutung, dass sie unbeschädigt und entsprechend dem Beförderungsschein oder den anderen Aufzeichnungen im Sinne des Artikels 3 Absatz 2 und Artikels 4 Absatz 2 abgeliefert worden sind.

(2)   Im Fall einer Beschädigung muss der Empfänger unverzüglich nach Entdeckung des Schadens, bei aufgegebenem Reisegepäck jedenfalls binnen sieben und bei Gütern binnen vierzehn Tagen nach der Annahme, dem Luftfrachtführer Anzeige erstatten. Im Fall einer Verspätung muss die Anzeige binnen einundzwanzig Tagen, nachdem das Reisegepäck oder die Güter dem Empfänger zur Verfügung gestellt worden sind, erfolgen.

(3)   Jede Beanstandung muss schriftlich erklärt und innerhalb der dafür vorgesehenen Frist übergeben oder abgesandt werden.

(4)   Wird die Anzeigefrist versäumt, so ist jede Klage gegen den Luftfrachtführer ausgeschlossen, es sei denn, dass dieser arglistig gehandelt hat.“

Unionsrecht

7

Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2027/97 des Rates vom 9. Oktober 1997 über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei der Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr (ABl. 1997, L 285, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 889/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Mai 2002 (ABl. 2002, L 140, S. 2) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2027/97) sieht vor:

„Diese Verordnung setzt die einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal über die Beförderung von Fluggästen und deren Gepäck im Luftverkehr um und trifft zusätzliche Bestimmungen. …“

8

Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2027/97 lautet:

„Für die Haftung eines Luftfahrtunternehmens der Gemeinschaft für Fluggäste und deren Gepäck gelten alle einschlägigen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9

Frau Kristiina Mäkelä-Dermedesiotis reiste mit einem Finnair-Flug von Malaga (Spanien) nach Helsinki (Finnland). Bei ihrer Ankunft in Helsinki am 1. November 2010 stellte sie fest, dass mehrere Gegenstände aus dem von ihr aufgegebenen Reisegepäck fehlten.

10

Am selben Tag teilte sie dies einem Mitarbeiter des Kundendiensts von Finnair telefonisch mit. Sie bezeichnete die verschwundenen Gegenstände im Einzelnen und teilte deren Wert dem Kundendienstmitarbeiter mit, der ihre Angaben in das Informationssystem von Finnair aufnahm. Am 3. November 2010 rief Frau Mäkelä-Dermedesiotis erneut den Kundendienst von Finnair an und bat um einen Beleg für ihre Versicherungsgesellschaft Fennia. Auf diese Bitte hin stellte ihr Finnair einen Beleg über die Erstattung einer Schadensanzeige aus.

11

Fennia leistete Frau Mäkelä-Dermedesiotis Entschädigung für ihren Verlust. Da sie in die Rechte ihrer Versicherten eingetreten war, erhob sie beim Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki, Finnland) am 2. September 2011 eine Regressklage gegen Finnair.

12

Finnair wandte ein, diese Klage sei unzulässig, und machte zur Begründung im Wesentlichen geltend, dass Frau Mäkelä-Dermedesiotis nicht binnen der in Art. 31 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal vorgesehenen Frist von sieben Tagen nach Annahme des Reisegepäcks eine schriftliche Beanstandung erklärt habe.

13

Mit Urteil vom 4. September 2012 entschied das Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki) zugunsten von Finnair und wies die Regressklage ab.

14

Fennia legte gegen dieses Urteil Berufung beim Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki, Finnland) ein.

15

Dieses prüfte u. a. die auf den Internetseiten von Finnair veröffentlichten Hinweise für Flugreisende, die verschiedene Anleitungen für die Meldung eines Schadens und die Erklärung einer schriftlichen Beanstandung im eigentlichen Sinne enthielten. Nach den Feststellungen dieses Gerichts konnte eine Schadensanzeige telefonisch erstattet werden, während eine schriftliche Beanstandung auf einem gesonderten Formular binnen sieben Tagen nach Annahme des Gepäcks zu erfolgen hatte. Das Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) hielt die den Internetseiten von Finnair zu entnehmende Anleitung „aus der Sicht eines Fluggastes als Verbraucher nicht für hinreichend klar und eindeutig“. Da in der Anleitung der Zweck der Schadensanzeige nicht erwähnt sei, habe bei der Flugreisenden in ihrer Eigenschaft als Verbraucher der Eindruck entstehen können, dass auch eine telefonisch erstattete Anzeige, die ein Mitarbeiter des Unternehmens registriere, die Anforderung der förmlichen schriftlichen Beanstandung erfüllen könne. Im vorliegenden Fall habe Frau Mäkelä-Dermedesiotis den genau bezeichneten Schaden bei Finnair angezeigt. Dem von Finnair ausgestellten schriftlichen Beleg über die Erstattung einer Schadensanzeige sei zu entnehmen, dass die Anzeige fristgerecht im Informationssystem von Finnair registriert worden sei. Überdies habe Finnair die Schadensanzeige erhalten, Frau Mäkelä-Dermedesiotis aber nicht darüber informiert, dass dies nicht ausreiche, um eine Haftungsklage gegen Finnair erheben zu können, und ihr nicht mitgeteilt, dass sie auch eine schriftliche Beanstandung hätte erklären müssen.

16

Mit Urteil vom 28. Februar 2014 hob das Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) das Urteil des Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki) auf und verurteilte Finnair, an Fennia Entschädigung zu leisten.

17

Finnair legte beim vorlegenden Gericht, dem Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof, Finnland) ein Rechtsmittel ein, das sie u. a. darauf stützt, dass das Helsingin hovioikeus (Berufungsgericht Helsinki) im Unterschied zum Helsingin käräjäoikeus (erstinstanzliches Gericht Helsinki) Art. 31 des Übereinkommens von Montreal fehlerhaft ausgelegt habe.

18

Vor diesem Hintergrund hat der Korkein oikeus (Oberster Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Zu den Vorlagefragen

Vorbemerkungen

19

Das Übereinkommen von Montreal wurde am 9. Dezember 1999 von der Europäischen Gemeinschaft unterzeichnet und am 5. April 2001 vom Rat der Europäischen Union in deren Namen genehmigt. Es ist für die Europäische Union am 28. Juni 2004 in Kraft getreten.

20

Da das Übereinkommen von Montreal seit diesem Zeitpunkt integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung ist, ist der Gerichtshof dafür zuständig, im Wege der Vorabentscheidung über seine Auslegung zu entscheiden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, EU:C:2006:10, Rn. 36, sowie vom 6. Mai 2010, Walz,C‑63/09, EU:C:2010:251, Rn. 20).

21

Insoweit stellt Art. 31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, mit dem Regeln des allgemeinen Völkerrechts kodifiziert werden, an die die Union gebunden ist, insoweit klar, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist (Urteil vom 17. Februar 2016, Air Baltic Corporation, C‑429/14, EU:C:2016:88, Rn. 24).

22

Im vorliegenden Fall sind die maßgeblichen Bestimmungen des Übereinkommens von Montreal im Licht dieser Erwägungen auszulegen.

Zur ersten Frage

23

Mit der ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 4 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass die Beanstandung innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 vorgeschriebenen Fristen schriftlich gemäß Art. 31 Abs. 3 zu erklären ist, anderenfalls jegliche Klage gegen das Luftfahrtunternehmen unzulässig ist.

24

Zunächst ist hierzu Art. 31 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal u. a. zu entnehmen, dass der Empfänger dem Luftfrachtführer im Fall einer Beschädigung unverzüglich nach Entdeckung des Schadens, spätestens aber innerhalb der Fristen, die nach dieser Bestimmung jeweils für Reisegepäck bzw. für Güter vorgesehen sind, Anzeige erstatten muss.

25

Außerdem muss nach Art. 31 Abs. 3 dieses Übereinkommens jede Beanstandung schriftlich erklärt und innerhalb der dafür vorgesehenen Fristen übergeben oder abgesandt werden.

26

Die Bestimmungen von Art. 31 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens von Montreal sind komplementär. Während in Art. 31 Abs. 2 lediglich die Fristen festgelegt werden, innerhalb deren die verschiedenen Arten von Anzeigen dem Luftfrachtführer zu erstatten sind, präzisiert Art. 31 Abs. 3 zum einen, in welcher Art und Weise diese Anzeigen an den Luftfrachtführer zu richten sind und zum anderen, in welcher Form sie zu erstatten sind, wobei die Verpflichtung, die in Art. 31 Abs. 2 vorgesehenen Fristen einzuhalten, davon unberührt bleibt.

27

Daraus folgt, dass Art. 31 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass eine Beanstandung schriftlich zu erklären und innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 vorgesehenen Fristen an den Luftfrachtführer zu richten ist.

28

Des Weiteren ist nach Art. 31 Abs. 4 des Übereinkommens von Montreal bei Versäumung der Anzeigefrist jede Klage gegen den Luftfrachtführer ausgeschlossen, es sei denn, dass dieser arglistig gehandelt hat.

29

Daraus ergibt sich, dass, wer der Ansicht ist, infolge der Beschädigung von Reisegepäck oder Gütern einen Schaden erlitten zu haben, seine Beanstandung innerhalb der nach Art. 31 Abs. 2 dieses Übereinkommens vorgesehenen Fristen an den Luftfrachtführer zu richten hat, anderenfalls jede Klage gegen den Luftfrachtführer unzulässig ist.

30

Außerdem kann in Anbetracht der besonderen Verknüpfung zwischen Art. 31 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens von Montreal, auf die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist, eine Beanstandung nicht als wirksam innerhalb der Anzeigefristen im Sinne von Art. 31 Abs. 4 erklärt angesehen werden, wenn sie nicht in der nach Art. 31 Abs. 3 vorgeschriebenen Schriftform erfolgt ist.

31

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 31 Abs. 4 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass die Beanstandung innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 vorgeschriebenen Fristen schriftlich gemäß Art. 31 Abs. 3 zu erklären ist, anderenfalls jegliche Klage gegen das Luftfahrtunternehmen unzulässig ist.

Zur zweiten Frage

32

Mit der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine im Informationssystem des Luftfrachtführers registrierte Beanstandung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem Schriftformerfordernis nach Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal genügt.

33

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass sich das Adjektiv „schriftlich“ nach seinem gewöhnlichen Wortsinn auf eine Gesamtheit grafischer Zeichen bezieht, die eine Bedeutung aufweist.

34

In Anbetracht des dritten Absatzes der Präambel des Übereinkommens von Montreal, wo auf die Bedeutung des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr hingewiesen wird, und des im fünften Absatz der Präambel genannten Grundsatzes des „gerechten Interessenausgleichs“ kann das Schriftformerfordernis außerdem nicht dazu führen, die Möglichkeit des Flugreisenden, die konkrete Art und Weise der Erklärung seiner Beanstandung zu wählen, übermäßig einzuschränken, solange dieser Flugreisende als Urheber der Beanstandung erkennbar bleibt.

35

Folglich ist das Adjektiv „schriftlich“ im Kontext von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal dahin zu verstehen, dass es jede Gesamtheit grafischer Zeichen, die eine Bedeutung aufweist, erfasst, gleich, ob handgeschrieben, auf Papier ausgedruckt oder in elektronischer Form registriert.

36

Somit genügt eine im Informationssystem des Luftfrachtführers registrierte Beanstandung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem Schriftformerfordernis nach Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal.

37

Nach den vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass eine im Informationssystem des Luftfrachtführers registrierte Beanstandung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem Schriftformerfordernis nach Art. 31 Abs. 3 des Übereinkommens von Montreal genügt.

Zur dritten Frage

38

Mit der dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, das Schriftformerfordernis als erfüllt anzusehen, wenn ein Vertreter des Luftfrachtführers die Schadensanzeige mit Wissen des Flugreisenden schriftlich entweder auf Papier oder elektronisch in das System des Luftfrachtführers aufnimmt.

39

Wie sich aus den Rn. 24 und 25 des vorliegenden Urteils ergibt, folgt insbesondere aus Art. 31 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal, dass der Empfänger dem Luftfrachtführer im Fall einer Beschädigung innerhalb der vorgeschriebenen Fristen Anzeige erstatten muss. Nach Art. 31 Abs. 3 dieses Übereinkommens muss außerdem jede Beanstandung schriftlich erklärt und innerhalb der dafür vorgesehenen Frist übergeben oder abgesandt werden.

40

Aus dem klaren Wortlaut dieser – zusammen betrachteten -Bestimmungen ergibt sich, dass es einem Empfänger wie im Ausgangsverfahren, d. h. einem Flugreisenden, dessen aufgegebenes Reisegepäck beschädigt wurde, obliegt, eine Anzeige zu erstatten und diese an den betreffenden Luftfrachtführer zu richten.

41

Der betroffene Flugreisende ist nämlich in der Lage, die Beschädigung festzustellen, und verfügt über die notwendigen Angaben, um die Art und den Wert der konkreten Gegenstände, die beschädigt wurden, sowie letztlich die Höhe des Schadens zu bestimmen.

42

Zwar liegt die Verantwortung, eine Anzeige zu erstatten, ausschließlich beim Flugreisenden, doch ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 31 des Übereinkommens von Montreal keineswegs, dass der Flugreisende gehindert wäre, bei der Erstattung seiner Anzeige die Hilfe anderer Personen in Anspruch zu nehmen.

43

Eine gegenteilige Auslegung liefe außerdem dem im dritten Absatz der Präambel dieses Übereinkommens genannten Ziel des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im Luftverkehr zuwider, dem nach der in Rn. 21 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs Rechnung zu tragen ist.

44

Die dem Flugreisenden offenstehende Möglichkeit, die Hilfe anderer Personen in Anspruch zu nehmen, erlaubt es ihm auch, sich – wie im Ausgangsverfahren – der Hilfe eines Vertreters des Luftfrachtführers zu bedienen, um seine mündliche Erklärung schriftlich festzuhalten und in das zu diesem Zweck vorgesehene Informationssystem des Luftfrachtführers einzugeben.

45

Indessen lässt sich nicht bestreiten, dass die Interessen des Flugreisenden und des Luftfrachtführers, bei dem der Vertreter angestellt ist, unterschiedlich, ja sogar gegenläufig sind. Denn Ersterer macht einen an seinem Reisegepäck entstandenen Schaden geltend, für den Letzterer einstehen soll.

46

Dem Ziel des Schutzes der Verbraucherinteressen bei der Beförderung im internationalen Luftverkehr sowie der Notwendigkeit, sicherzustellen, dass der Vertreter die mündliche Erklärung des Flugreisenden wortgetreu und gewissenhaft aufnimmt, kann jedoch dadurch hinreichend Rechnung getragen werden, dass dafür gesorgt wird, dass der betroffene Flugreisende die Richtigkeit des Anzeigentexts, wie er von dem Vertreter des Luftfrachtführers schriftlich festgehalten und in das Informationssystem eingegeben wurde, vor Ablauf der in Art. 31 Abs. 2 des Übereinkommens von Montreal vorgesehenen Frist überprüfen und gegebenenfalls ändern, vervollständigen oder ersetzen kann.

47

Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Art. 31 Abs. 2 und 3 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass er es nicht verbietet, das Schriftformerfordernis als erfüllt anzusehen, wenn ein Vertreter des Luftfrachtführers die Schadensanzeige mit Wissen des Flugreisenden schriftlich entweder auf Papier oder elektronisch in das System des Luftfrachtführers aufnimmt, sofern der Flugreisende die Möglichkeit hat, die Richtigkeit des Anzeigentexts, wie er schriftlich festgehalten und in das Informationssystem eingegeben wurde, vor Ablauf der in Art. 31 Abs. 2 dieses Übereinkommens vorgesehenen Frist zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, zu vervollständigen oder zu ersetzen.

Zur vierten Frage

48

Mit der vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 31 des Übereinkommens von Montreal an die Beanstandung weitere inhaltliche Anforderungen stellt als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer zur Kenntnis zu bringen ist.

49

Hierzu ist dem Wortlaut von Art. 31 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal u. a. zu entnehmen, dass, wenn der Empfänger aufgegebenes Reisegepäck vorbehaltlos annimmt, dies die widerlegbare Vermutung begründet, dass es unbeschädigt und entsprechend dem Beförderungsschein oder den anderen Aufzeichnungen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieses Übereinkommens abgeliefert worden ist.

50

Aus diesem Wortlaut ergibt sich, dass eine an den Luftfrachtführer gerichtete Beanstandung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende den Zweck hat, dem Luftfrachtführer mitzuteilen, dass das aufgegebene Reisegepäck nicht unbeschädigt und entsprechend dem Beförderungsschein oder den anderen Aufzeichnungen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 dieses Übereinkommens abgeliefert worden ist.

51

Zu dem Kontext, in dem Art. 31 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal steht, ist zudem darauf hinzuweisen, dass nach Art. 17 Abs. 2 Satz 1 erster Halbsatz dieses Übereinkommens der Luftfrachtführer den Schaden zu ersetzen hat, der durch Zerstörung, Verlust oder Beschädigung von aufgegebenem Reisegepäck entsteht.

52

Daraus folgt, dass Art. 31 Abs. 1 des Übereinkommens von Montreal im Licht von Art. 17 Abs. 2 Satz 1 erster Halbsatz dieses Übereinkommens dahin auszulegen ist, dass eine von dem betreffenden Flugreisenden erklärte Beanstandung wie die im Ausgangsverfahren dazu dient, dem Luftfrachtführer den entstandenen Schaden mitzuteilen.

53

Da in Art. 31 Abs. 2 bis 4 des Übereinkommens von Montreal, wie der Antwort auf die erste und die zweite Frage zu entnehmen ist, lediglich festgelegt wird, innerhalb welcher Fristen die verschiedenen Arten von Anzeigen dem Luftfrachtführer zu erstatten sind, in welcher Art und Weise und in welcher Form diese Anzeigen zu erstatten sind und schließlich welche Folgen sich aus der Nichteinhaltung dieser Vorgaben ergeben, stellt dieser Artikel indessen keine inhaltliche Anforderung an die genannten Anzeigen.

54

Daraus ergibt sich, dass Art. 31 des Übereinkommens von Montreal dahin auszulegen ist, dass er an die Beanstandung keine weiteren inhaltlichen Anforderungen stellt als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer zur Kenntnis zu bringen ist.

Kosten

55

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 31 Abs. 4 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen und im Namen der Europäischen Gemeinschaft durch den Beschluss 2001/539/EG des Rates vom 5. April 2001 genehmigten Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ist dahin auszulegen, dass die Beanstandung innerhalb der in Art. 31 Abs. 2 vorgeschriebenen Fristen schriftlich gemäß Art. 31 Abs. 3 zu erklären ist, anderenfalls jegliche Klage gegen das Luftfahrtunternehmen unzulässig ist.

 

2.

Eine im Informationssystem des Luftfrachtführers registrierte Beanstandung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende genügt dem Schriftformerfordernis nach Art. 31 Abs. 3 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr.

 

3.

Art. 31 Abs. 2 und 3 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ist dahin auszulegen, dass er es nicht verbietet, das Schriftformerfordernis als erfüllt anzusehen, wenn ein Vertreter des Luftfrachtführers die Schadensanzeige mit Wissen des Flugreisenden schriftlich entweder auf Papier oder elektronisch in das System des Luftfrachtführers aufnimmt, sofern der Flugreisende die Möglichkeit hat, die Richtigkeit des Anzeigentexts, wie er schriftlich festgehalten und in das Informationssystem eingegeben wurde, vor Ablauf der in Art. 31 Abs. 2 dieses Übereinkommens vorgesehenen Frist zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern, zu vervollständigen oder zu ersetzen.

 

4.

Art. 31 des am 28. Mai 1999 in Montreal geschlossenen Übereinkommens zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr ist dahin auszulegen, dass er an die Beanstandung keine weiteren inhaltlichen Anforderungen stellt als die, dass der entstandene Schaden dem Luftfrachtführer zur Kenntnis zu bringen ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Finnisch.

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