Landgericht Hamburg Urteil, 18. Aug. 2016 - 330 O 330/16

published on 18.08.2016 00:00
Landgericht Hamburg Urteil, 18. Aug. 2016 - 330 O 330/16
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Tenor

1. Der Verfügungsbeklagten wird es im Wege der einstweiligen Verfügung geboten, die Leistungen aus dem Wohn- und Betreuungsvertrag vom 16.12.2013 gegenüber der Verfügungsklägerin auch im Zeitraum vom 01. September 2016 bis 30. November 2016 zu erbringen.

2. Der weitergehende Antrag vom 14.07.2016 auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wird zurückgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.

4. Hinsichtlich des Streitwertes bewendet es bei der Festsetzung mit Beschluss vom 19.07.2016 auf € 35.724,84.

Tatbestand

1

Die Verfügungsbeklagte betreibt auf dem in ihrem Eigentum stehenden Grundstück in der W. Str. ... in ... seit 28 Jahren eine Seniorenresidenz als stationäre Pflegeeinrichtung.

2

Die am ... April 1931 geborene Verfügungsklägerin ist pflegebedürftig und lebt aufgrund des Wohn- und Betreuungsvertrages vom 16. Dezember 2013 (Anlage ASt 1) in der von der Verfügungsbeklagten betriebenen Seniorenresidenz W..

3

Im Juni 2016 wurde für den Bereich der Seniorenresidenz und des Nachbargrundstücks eine Baugenehmigung für den Bau von Mehrfamilienhäusern mit 16 Wohneinheiten erteilt.

4

Mit Schreiben vom 22. Juni 2016 (Anlage ASt 2) erklärte die Verfügungsbeklagte die Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrages mit der Begründung der geplanten Betriebseinstellung der Seniorenresidenz zum 31. August 2016. Die Verfügungsbeklagte kündigte Verträge mit den Pflegekassen und beendete Arbeitsverträge mit Mitarbeitern des Pflegepersonals (Anlage AG 9).

5

Die Verfügungsklägerin ist entsprechend ihres Alters und ihrer Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe 1) in körperlich stabiler Verfassung mit Einschränkungen aufgrund ihrer Demenzerkrankung, beim Sehvermögen, der Orientierung sowie der Mobilität. Sie kann mit ihrem Gehwagen ihr Zimmer verlassen und bekannte Wege absolvieren, etwa zum Essen gehen, die Angehörigen in der W. Str. ... besuchen oder mit dem Bus zum Augenarzt fahren. Aufgrund der Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrages ist sie verunsichert und spürt aufgrund der Demenzerkrankung besonders sensibel, dass etwas nicht in Ordnung ist. Ihre Angehörigen führen Verhandlungen für einen Umzug in die Seniorenresidenz „D. J.“.

6

Ihre nächsten Bezugspersonen sind ihr Sohn Dr. D. L., der als Geschäftsführer einer GmbH beruflich stark belastet ist, seine Ehefrau, die als selbständige Architektin durch Beruf und Kinderbetreuung stark eingespannt ist, und die Tochter der Verfügungsklägerin, Frau H. B., die vom 13. bis 27. August 2016 im Urlaub weilt und am 30. August 2016 ihren Dienst als Lehrerin mit dem arbeitsintensiven Beginn des neuen Schuljahres wieder aufnimmt.

7

Die Verfügungsklägerin meint, sie habe aus dem Pflege- und Betreuungsvertrag (Anlage ASt 1) auch nach dem 1. September 2016 einen Anspruch gegen die Verfügungsbeklagte auf die Erbringung der dort vereinbarten Pflege- und Unterkunftsleistungen. Die Kündigung vom 22. Juni 2016 zum 31. August 2016 sei nicht wirksam erfolgt.

8

Die Kündigung sei aus formalen Gründen rechtswidrig, weil die Angabe des Kündigungsgrundes nicht den Anforderungen des § 12 Abs. 1 Satz 2 WBVG genüge. Die Kündigungserklärung stelle nicht nachvollziehbar dar, welche konkreten Veränderungen des Pflegebedarfes, der baulichen Anforderungen oder der wirtschaftlichen Verhältnisse der Verfügungsbeklagten die Einstellung des Betriebes der Seniorenresidenz erfordern.

9

Darüber hinaus meint die Verfügungsklägerin, die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Kündigung liegen nicht vor. Ein wichtiger Grund im Sinne von § 12 WBVG sei mit der Betriebseinstellung zwar gegeben, die Fortsetzung des Pflege- und Betreuungsvertrages mit der Verfügungsklägerin stelle für die Verfügungsbeklagte jedoch keine unzumutbare Härte dar. Eine unzumutbare Härte könne nur angenommen werden, wenn der Vertrag auf Dauer nur unwirtschaftlich mit Verlust oder einer Gefährdung des Bestands der Seniorenresidenz fortgeführt werden könne. Eine solche unzumutbare Härte aus betriebswirtschaftlichen Gründen entfalle, wenn der Unternehmer nicht vor der beabsichtigten Betriebsschließung sämtliche zumutbaren Maßnahmen unternommen habe, um gegenzusteuern.

10

Jedenfalls ergebe eine Interessenabwägung, dass das Interesse der pflegebedürftigen Bewohnerin an der vorübergehend - bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens - gesicherten Wahrung ihres Lebensmittelpunktes, ihres sozialen Umfelds und der Beziehungen zu den ihr bekannten Pflegern das wirtschaftliche Interesse der Verfügungsbeklagten an der Betriebseinstellung und Verwertung des Grundstücks überwiege.

11

Die Verfügungsklägerin beantragt,

12

der Verfügungsbeklagten im Wege der einstweiligen Verfügung aufzugeben,

13

1. bis zur Entscheidung in der Hauptsache sämtliche Leistungen des Wohn- und Betreuungsvertrages vom 16.12.2013 vereinbarungsgemäß zu erbringen,
insbesondere auch ab dem 01.09.2016,
2. es bei Meidung eines vom Gericht für den Fall jeder Zuwiderhandlung festzusenden Ordnungsgeldes bis zu einer Höhe von € 70.000,00 zu unterlassen, Maßnahmen durchzuführen, die geeignet sind, die Beendigung des Betriebes der Seniorenresidenz W. vorzubereiten, durchzusetzen oder zu fördern, insbesondere

14

a) laufende Verträge mit Dienstleistern und Personal zu kündigen, die im Zusammenhang mit dem Betrieb der Anlage stehen,
b) gesellschaftsrechtliche Änderungen vorzunehmen, die eine Fortführung des Betriebes beeinträchtigen könnten,
c) das Grundstück der Anlage, W. Str. …, in der Weise zu veräußern oder zu belasten, dass die Fortführung des Betriebes beeinträchtigt werden könnte,
d) Gegenstände, die für den laufenden Betrieb benötigt werden, insbesondere Inventar, Möbel, Geräte, medizinische Hilfsmittel und dergleichen an Dritte zu veräußern oder Dritten den Besitz auf andere Weise einzuräumen oder
e) Verbrauchsgüter, die für den laufenden Betrieb benötigt werden, insbesondere Heilmittel, Pflegemittel, Lagerbestände, Vorräte an Lebensmitteln, Sanitärartikel und dergleichen zu veräußern oder Dritten den Besitz auf andere Weise einzuräumen.

15

Die Verfügungsbeklagte beantragt,

16

den Antrag auf Erlass einstweiliger Anordnungen zurückzuweisen.

17

Die Verfügungsbeklagte meint, die von ihr erklärte Kündigung vom 22.06.2016 sei formell und materiell-rechtlich wirksam.

18

Die Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrages sei durch Schreiben vom 22.06.2016 wirksam erklärt und auch inhaltlich ausreichend begründet worden. Hintergrund der Kündigung des Vertrages sei, dass die Verfügungsbeklagte mit dem Betrieb der Seniorenresidenz in den Jahren 2011 bis 2015 trotz großer Anstrengungen bei Auslastung und Bewirtschaftung jeweils Verluste erzielt habe (Bestätigung des Steuerberaters vom 17.07.2016, Anlage AG 10). In den nächsten Jahren seien erhebliche Baumaßnahmen (Brandschutz, Rettungswege, Einzelzimmer, Bäder, Barrierefreiheit) und eine Reduzierung der 28 Plätze auf 19 Einzelzimmer erforderlich, die nicht wirtschaftlich zu unterhalten wären.

19

Mit dem Zeitraum von zehn Wochen zwischen der Kündigung vom 22. Juni 2016 und dem Ablauf der Kündigungsfrist am 31. August 2016 stehe ein hinreichender Zeitraum zur Verfügung, in dem die Verfügungsklägerin unproblematisch eine neue Seniorenresidenz finden könne.

20

Die Verfügungsbeklagte habe hingegen keine Möglichkeit, die Vertragserfüllung im Zeitraum nach dem 31. August 2016 fortzusetzen. Die Aufstellung der Mitarbeiter (Anlage AG 9) zeige, dass ab dem 31. August 2016 keine Arbeitskräfte mehr zur Verfügung stünden. Sämtliche Mitarbeiterinnen hätten das Unternehmen bereits verlassen oder würden bis zum 31. August 2016 in Rente oder in andere Beschäftigungsverhältnisse wechseln.

21

Auch die Abwägung der Interessen der Parteien ergebe, dass der Verfügungsbeklagten eine Fortsetzung des Vertrages über den 31. August 2016 hinaus nicht zumutbar sei. Es bestünden keine Schwierigkeiten, eine andere Pflegeeinrichtung zu finden. Seit der Kündigung habe es in der Seniorenresidenz der Verfügungsbeklagten zahllose Besuche von Belegungsmanagern anderer Pflegeeinrichtungen gegeben, alle Bewohner befänden sich in Gesprächen. Im D. J. stehe ein Wohnbereich leer, in dem acht Bewohner der Seniorenresidenz W. einziehen könnten, auch die Verfügungsklägerin. Das erforderliche Pflegepersonal könne im Rahmen einer Paketlösung zum 31. August 2016 in das D. J. wechseln. Schließlich ergebe sich auch kein finanzielles Risiko der Verfügungsklägerin. Die Preise in den umliegenden Pflegeeinrichtungen lägen unter dem Niveau der Verfügungsbeklagten (Vergleich, Anlage AG 12).

22

Wegen der Einzelheiten des Sachvortrags der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze und das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19. Juli 2016 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

23

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ist zulässig und teilweise begründet.

A.

24

Die Verfügungsklägerin hat gegen die Verfügungsbeklagte einen Anspruch aus dem Wohn- und Betreuungsvertrag vom 16.12.2013 (Anlage ASt 1) auf Erbringung der geschuldeten Pflege- und Unterbringungsleistungen für den begrenzten Zeitraum vom 01. September 2016 bis 30. November 2016.

I.

25

Der Verfügungsanspruch ergibt sich aus nachvertraglichen Fürsorgepflichten der Verfügungsbeklagten im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen zwischen den Parteien geschlossenen Wohn- und Betreuungsvertrag.

26

Zwischen den Parteien ist unstreitig ein Wohn- und Betreuungsvertrag vom 16.12.2013 zustande gekommen, der die Verfügungsbeklagte zur Unterbringung und Pflege der Verfügungsklägerin in der Seniorenresidenz W. verpflichtet.

27

Dieser Vertrag ist zwar durch die Kündigung vom 22. Juni 2016 wirksam gekündigt worden, aber die Verfügungsklägerin hat gegen die Verfügungsbeklagte aus nachvertraglichen Fürsorgepflichten einen Anspruch auf Fortsetzung der Pflege- und Betreuungsleistungen bis zu einem ihrem Alter und Gesundheitszustand angemessenen Zeitpunkt ihres geordneten Umzuges, spätestens bis zum 30. November 2016.

1.

28

Die Kündigung des Vertrages durch die Verfügungsbeklagten am 22.06.2016 aus wichtigem Grund der Betriebseinstellung im Sinne von § 12 Abs. 1 Satz 1, 3 Nr. 3 WBVG ist rechtmäßig und wirksam erfolgt.

a)

29

Die Kündigung ist formell wirksam.

30

Die Kündigungsfrist wird eingehalten, § 12 Abs. 4 WBVG. Bei einer nach § 12 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 WBVG ausgesprochenen Kündigung richtet sich die Frist nach § 12 Abs. 4 Satz 2 WBVG. Danach kann die Kündigung bis zum dritten Werktag eines Kalendermonats zum Ablauf des nächsten Monates erklärt werden. Das Kündigungsschreiben der Verfügungsbeklagten datiert vom 22. Juni 2016 und erklärt die Kündigung zum 31.08.2016. Die Kündigungsfrist ist gewahrt.

31

Die Kündigung ist schriftlich erfolgt und weist auch eine schriftliche Begründung aus. Die Verfügungsbeklagte teilt im Kündigungsschreiben vom 22.06.2016 hinreichend konkret mit, dass der Kündigungsgrund die Einstellung des Betriebes des Seniorenheimes ist. Damit ist für die Verfügungsklägerin deutlich erkennbar, dass es nicht um personen- oder verhaltensbezogene Aspekte der Verfügungsklägerin, sondern schlicht die geplante Schließung des Heimes aus betriebswirtschaftlichen Gründen geht. Entgegen der Rechtsansicht der Verfügungsklägerin ist die Verfügunsgbeklagte nicht verpflichtet, den - unstreitigen - Kündigungsgrund zu beweisen, diese betriebswirtschaftliche Entscheidung näher zu begründen oder schriftliche Unterlagen über bauordnungsrechtliche Auflagen, Brandschutz oder Barrierefreiheit des Gebäudes vorzulegen. Für den Verbraucher muss aus der Kündigungserklärung lediglich klar werden, ob es sich um eine Kündigung handelt, die auf seinem Fehlverhalten oder betriebswirtschaftlichen Entscheidungen des Betreibers beruhen. Der Kündigungsgrund der Einstellung des Betriebes der Seniorenresidenz ist durch die Verfügungsbeklagte im Schreiben vom 22.06.2016 hinreichend konkret angegeben worden und wird von der Verfügungsklägerin auch nicht bestritten. Die Verfügungsklägerin rügt lediglich, dass die wirtschaftliche Entscheidung der Verfügungsbeklagten, den Betrieb der Seniorenresidenz einzustellen und stattdessen auf dem Grundstück sowie dem Nachbargrundstück Mehrfamilienhäuser mit 48 Wohneinheiten zu errichten, in ethisch-moralischer Weise nicht zu vertreten sei, weil die Verfügungsklägerin bei Einzug in die Seniorenresidenz davon ausgegangen sei, hier ihren Lebensabend vollständig verbringen zu können.

b)

32

Die Kündigung ist materiell-rechtlich wirksam.

33

Ein wichtiger Grund zur Kündigung des Vertrages seitens des Pflegeunternehmens nach § 12 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 WBVG liegt vor, weil die Verfügungsbeklagte unstreitig die Einstellung des Betriebes ihrer Seniorenresidenz beabsichtigt. Damit ist eines der ausdrücklich genannten Regelbeispiele gemäß § 12 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 WBVG erfüllt.

34

Die Fortsetzung des Pflege- und Betreuungsvertrages mit der Verfügungsklägerin würde für die Verfügungsbeklagte auch eine unzumutbare Härte darstellen. Die unternehmerische Entscheidung der Verfügungsbeklagten, den Betrieb der Seniorenresidenz einzustellen, ist im Rahmen der Prüfung der Wirksamkeit der Kündigung nicht zu beanstanden. Es steht dem Unternehmer frei, die Einstellung oder Änderung seines Betriebes vorzunehmen. Einer betriebswirtschaftlichen Rechtfertigung dieses Schrittes bedarf es im Rahmen der Privatautonomie nicht. Die im Rahmen der Prüfung der unzumutbaren Härte der Vertragsfortsetzung zu prüfende Frage liegt allein darin, ob unter Berücksichtigung der Betriebseinstellung dieser Seniorenresidenz der Verfügungsbeklagten gleichwohl die Fortsetzung des Vertrages mit der Verfügungsklägerin zugemutet werden kann. Dies ist vorliegend nicht der Fall. Die Verfügungsbeklagte hat unstreitig keine Möglichkeit, nach der Einstellung des Betriebes der Seniorenresidenz in W. der Verfügungsklägerin an anderer Stelle die gewünschten Pflege- und Betreuungsleistungen anzubieten. Bei der Verfügungsbeklagten handelt es sich nicht um eine Betreibergesellschaft mehrerer Seniorenheime, sondern die Verfügungsbeklagte betreibt unstreitig nur das eine Seniorenheim in W. mit 28 Plätzen. Entscheidet sie sich zur vollständigen Betriebseinstellung der Seniorenresidenz, stehen weitere Pflegeplätze der Verfügungsbeklagten nicht zur Verfügung. Die Verfügungsbeklagte hat auch nachvollziehbar dargetan, dass sie in den letzten fünf Jahren durch den Betrieb der Seniorenresidenz Verluste erzielt hat und in den kommenden Jahren durch Baumaßnahmen weitere Investitionen und Einnahmeverluste absehbar waren.

2.

35

Die Verfügungsklägerin hat gegen die Verfügungsbeklagte aus nachvertraglichen Fürsorgepflichten einen Anspruch auf Fortsetzung der Pflege- und Betreuungsleistungen bis zum 30. November 2016.

36

Obgleich die Kündigung des Pflege- und Betreuungsvertrages zum 22. Juni 2016 seitens der Verfügungsbeklagten wirksam zum 31. August 2016 erklärt wurde, enden die Verpflichtungen der Verfügungsbeklagten zur Erbringung der Pflege- und Betreuungsleistungen nicht mit Ablauf der Kündigungsfrist am 31. August 2016.

37

Die gesundheitliche und familiäre / soziale Situation der Verfügungsklägerin gebietet es, ihr für den Wechsel in eine angemessene andere Unterkunft einen Zeitraum von weiteren drei Monaten nach Ablauf der Kündigung einzuräumen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die im Jahre 1931 geborene, hochaltrige Verfügungsklägerin nicht nur altersbedingt körperlich eingeschränkt ist, sondern zudem an einer Demenzerkrankung leidet, sie also weder die wirtschaftlichen Entscheidungen der Auswahl der neuen Seniorenresidenz und des Abschlusses des dortigen Pflegevertrages noch die praktische Gestaltung der Abwicklung ihres konkreten Umzuges allein bewältigen kann. Die demente Verfügungsklägerin wird durch ihre Familienangehörigen betreut. Ihr Sohn und dessen Ehefrau sind indes beide berufstätig, ihre Tochter erwarten als Lehrerin mit Beginn des neuen Schuljahres am 30. August 2016 umfangreiche Verpflichtungen.

38

Aufgrund der Pflegebedürftigkeit der Verfügungsklägerin und ihrer räumlichen Desorientierung in ungewohnten Situationen ist für den Umzug eine über den Zeitraum für die Abwicklung eines Umzugs eines lediglich körperlich eingeschränkten Menschen hinausgehender Zeitraum erforderlich. Der Sohn der Verfügungsklägerin ist aufgrund seiner Berufstätigkeit bis Ende September 2016 stark belastet. Er hat im Termin zur mündlichen Verhandlung eindrücklich erläutert, dass neben dem von der Verfügungsbeklagten als neue Pflegeeinrichtung empfohlenen „Paketlösung“ im D. J. weitere Pflegeeinrichtungen erwogen werden. Da auch die Tochter der Verfügungsklägerin, Frau H. B., aufgrund ihrer Berufstätigkeit als Lehrerin zum Beginn des Schuljahres im Monat September / Oktober 2016 beruflich besonders stark eingebunden ist, überwiegt das Interesse der Verfügungsklägerin an der Fortsetzung des Wohn- und Betreuungsvertrages bis 30. November 2016 das berechtigte Interesse der Verfügungsbeklagten an der zügigen Verwertung bzw. Bebauung des Grundstücks gemäß der im Juni 2016 erteilten Baugenehmigung mit Mehrfamilienhäusern.

3.

39

Ein über den Zeitraum ab 01. Dezember 2016 hinausgehender Verfügungsanspruch ist nicht ersichtlich, weil die Verfügungsklägerin einräumt, dass ihr Umzug in eine andere Pflegeeinrichtung sich - nach der Entscheidung für eine neue Einrichtung - innerhalb kurzer Zeit realisieren lässt. Problematisch ist allein die Auswahl einer geeigneten Pflegeeinrichtung einschließlich der Entscheidung zwischen mehreren, derzeit zur Auswahl stehenden Pflegeplätzen unter Berücksichtigung der örtlichen Lage dieser Einrichtung und der Erreichbarkeit für die betreuenden Familienangehörigen.

40

Insgesamt erscheint daher eine Sicherungsverfügung für die Zeit vom 01. September 2016 bis 30. November 2016, mithin insgesamt ein Zeitraum von fünf Monaten, für die Regelung des Umzugs der Verfügungsklägerin erforderlich, aber auch angemessen, um die Suche nach einer für eine demenzerkrankte Person geeigneten Pflegeeinrichtung sorgfältig und mit der gebotenen Ruhe abzuwickeln.

II.

41

Der Verfügungsgrund ergibt sich aus dem unstreitigen Sachverhalt:

42

Die Verfügungsbeklagte plant nicht nur die langfristige Betriebseinstellung nach Auszug aller Bewohner, sondern sie hat in der mündlichen Verhandlung in ethisch bedenklicher Verkennung der nachvertraglichen Fürsorgepflichten erklärt, jegliche Pflege und Versorgung der Bewohner der Seniorenresidenz am 1. September 2016 schlicht einzustellen. Da das erforderliche Pflegepersonal nicht zur Verfügung stehe, werde die Heimaufsicht etwa noch in der Seniorenresidenz aufhältige Bewohner per Krankentransport in beliebige andere Pflegeeinrichtungen verlegen. Aus diesem Umstand ergibt sich die Dringlichkeit der Sicherungsanordnung ohne Weiteres.

43

Für den Zeitraum vor dem 31. August 2016 bedarf es hingegen einer einstweiligen Verfügung nicht, weil die Verfügungsbeklagte ihre Verpflichtung zur Erbringung der Pflege- und Betreuungsleistungen nicht in Abrede nimmt, sondern in der Kündigungserklärung ausdrücklich anerkannt hat.

B.

44

Der Verfügungsantrag zu 2) ist in vollem Umfang unbegründet.

45

Die Verfügungsklägerin hat gegen die Verfügungsbeklagte keinen Anspruch auf Unterlassung solcher Maßnahmen, die geeignet sind, die Betriebseinstellung vorzubereiten oder zu fördern.

46

Die Frage, welche Verträge die Verfügungsbeklagte als Betreiberin einer Seniorenresidenz mit Dienstleistern oder Personal abschließt, fortführt oder kündigt, fällt ebenso wie die Frage, welche Gegenstände sie einkauft und welche Verbrauchsgüter / Lagerbestände sie vorhält, allein in das unternehmerische Ermessen der Verfügungsbeklagten.

47

Auch die Änderung der gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse der Verfügungsbeklagten und ihres Eigentums an dem streitgegenständlichen Grundstück obliegt allein der Verfügungsbeklagten.

48

Die Verfügungsklägerin hat Anspruch aus nachvertraglichen Fürsorgepflichten auf weiterhin fortgesetzte Erbringung der Wohn- und Pflegeleistungen im Zeitraum vom 01. September 2016 bis 30. November 2016. Die Frage, durch welche Dienstleister oder mit welchen Hilfsmitteln oder Lagerbeständen diese Leistungen erbracht werden, kann die Verfügungsbeklagte selbst entscheiden, sofern gesetzliche und behördliche Auflagen ordnungsgemäß erfüllt werden.

C.

49

Der Schriftsatz der Verfügungsbeklagten vom 12.08.2016 bot keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung. Die Prognose der Verfügungsbeklagten, die Verfügungsklägerin werde „spätestens am 29.08.2016 oder 30.08.2016“ in eine andere Einrichtung umziehen, ist weder hinreichend datiert noch glaubhaft gemacht. Pläne für künftige Umzüge können sich ändern. Die handschriftliche Eintragung des Namens der Verfügungsklägerin in einer unleserlichen Tabelle „Umzugsplanung“ der D. Seniorenpflegeheim J. GmbH (Anlage AG18) genügt zur Glaubhaftmachung eines künftigen Ereignisses nicht.

D.

50

Die Kosten des Rechtsstreits sind gegeneinander aufzuheben, weil die Verfügungsklägerin einen Anspruch auf fortgesetzte Erbringung der Leistungen aus dem Pflege- und Betreuungsvertrag für einen eingeschränkten Zeitraum von drei Monaten vom 01. September 2016 bis 30. November 2016 hat, ein Anspruch für den späteren Zeitraum und auf Unterlassung von konkreten Maßnahmen zur Betriebseinstellung jedoch nicht besteht.

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(1) Der Unternehmer kann den Vertrag nur aus wichtigem Grund kündigen. Die Kündigung bedarf der Schriftform und ist zu begründen. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn 1. der Unternehmer den Betrieb einstellt, wesentlich einschränkt oder i

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(1) Der Unternehmer kann den Vertrag nur aus wichtigem Grund kündigen. Die Kündigung bedarf der Schriftform und ist zu begründen. Ein wichtiger Grund liegt insbesondere vor, wenn

1.
der Unternehmer den Betrieb einstellt, wesentlich einschränkt oder in seiner Art verändert und die Fortsetzung des Vertrags für den Unternehmer eine unzumutbare Härte bedeuten würde,
2.
der Unternehmer eine fachgerechte Pflege- oder Betreuungsleistung nicht erbringen kann, weil
a)
der Verbraucher eine vom Unternehmer angebotene Anpassung der Leistungen nach § 8 Absatz 1 nicht annimmt oder
b)
der Unternehmer eine Anpassung der Leistungen aufgrund eines Ausschlusses nach § 8 Absatz 4 nicht anbietet
und dem Unternehmer deshalb ein Festhalten an dem Vertrag nicht zumutbar ist,
3.
der Verbraucher seine vertraglichen Pflichten schuldhaft so gröblich verletzt, dass dem Unternehmer die Fortsetzung des Vertrags nicht mehr zugemutet werden kann, oder
4.
der Verbraucher
a)
für zwei aufeinander folgende Termine mit der Entrichtung des Entgelts oder eines Teils des Entgelts, der das Entgelt für einen Monat übersteigt, im Verzug ist oder
b)
in einem Zeitraum, der sich über mehr als zwei Termine erstreckt, mit der Entrichtung des Entgelts in Höhe eines Betrags in Verzug gekommen ist, der das Entgelt für zwei Monate erreicht.
Eine Kündigung des Vertrags zum Zwecke der Erhöhung des Entgelts ist ausgeschlossen.

(2) Der Unternehmer kann aus dem Grund des Absatzes 1 Satz 3 Nummer 2 Buchstabe a nur kündigen, wenn er zuvor dem Verbraucher gegenüber sein Angebot nach § 8 Absatz 1 Satz 1 unter Bestimmung einer angemessenen Annahmefrist und unter Hinweis auf die beabsichtigte Kündigung erneuert hat und der Kündigungsgrund durch eine Annahme des Verbrauchers im Sinne des § 8 Absatz 1 Satz 2 nicht entfallen ist.

(3) Der Unternehmer kann aus dem Grund des Absatzes 1 Satz 3 Nummer 4 nur kündigen, wenn er zuvor dem Verbraucher unter Hinweis auf die beabsichtigte Kündigung erfolglos eine angemessene Zahlungsfrist gesetzt hat. Ist der Verbraucher in den Fällen des Absatzes 1 Satz 3 Nummer 4 mit der Entrichtung des Entgelts für die Überlassung von Wohnraum in Rückstand geraten, ist die Kündigung ausgeschlossen, wenn der Unternehmer vorher befriedigt wird. Die Kündigung wird unwirksam, wenn der Unternehmer bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit des Räumungsanspruchs hinsichtlich des fälligen Entgelts befriedigt wird oder eine öffentliche Stelle sich zur Befriedigung verpflichtet.

(4) In den Fällen des Absatzes 1 Satz 3 Nummer 2 bis 4 kann der Unternehmer den Vertrag ohne Einhaltung einer Frist kündigen. Im Übrigen ist eine Kündigung bis zum dritten Werktag eines Kalendermonats zum Ablauf des nächsten Monats zulässig.

(5) Die Absätze 1 bis 4 sind in den Fällen des § 1 Absatz 2 auf jeden der Verträge gesondert anzuwenden. Der Unternehmer kann in den Fällen des § 1 Absatz 2 einen Vertrag auch dann kündigen, wenn ein anderer Vertrag gekündigt wird und ihm deshalb ein Festhalten an dem Vertrag unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Verbrauchers nicht zumutbar ist. Er kann sein Kündigungsrecht nur unverzüglich nach Kenntnis von der Kündigung des anderen Vertrags ausüben. Dies gilt unabhängig davon, ob die Kündigung des anderen Vertrags durch ihn, einen anderen Unternehmer oder durch den Verbraucher erfolgt ist.