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| Das Amtsgericht - Strafrichter - Kehl (im Folgenden: das Gericht) hat über einen Antrag der Staatsanwaltschaft Offenburg zu entscheiden, im Wege eines Strafbefehls gegen den Angeschuldigten eine Geldstrafe wegen eines Vergehens des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu verhängen. |
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| 1. Nach dem bisherigen Stand der Untersuchung ist im Vorabentscheidungsverfahren folgender Sachverhalt zu Grunde zu legen: |
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| Der Angeschuldigte, der türkischer Staatsangehörigkeit ist und in einem Vorort von Straßburg (Frankreich) wohnt, führte am 13.06.2015 gegen 11:00 Uhr am Busbahnhof Kehl, Straßburger Straße, 77694 Kehl, 3,75 Subutex-Tabletten mit einem Wirkstoffgehalt von 8 mg Buprenorphin pro Tablette wissentlich und willentlich mit, wobei er nicht die für den Umgang mit Betäubungsmitteln erforderliche Erlaubnis besaß. Der Angeschuldigte wurde ohne besonderen Anlass von Beamten der Bundespolizei kontrolliert, die bei einer Durchsuchung seiner mitgeführten Umhängetasche die Tabletten fanden. |
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| 2. Die Tat wäre strafbar als Vergehen des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln gemäß § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 3 Betäubungsmittelgesetz, der die Verhängung einer Kriminalstrafe in Form einer Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder einer Geldstrafe vorsieht. |
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| Das Gericht hält die Beantwortung der Vorlagefragen zur Entscheidung über den Antrag auf Erlass eines Strafbefehls für erforderlich. Es legt sie deshalb dem Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: der Gerichtshof) gemäß Artikel 267 Absatz 1 Buchstabe a, Absatz 2 AEUV zur Vorabentscheidung vor. |
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| Bei der Entscheidung über den Erlass des beantragten Strafbefehls hat das Gericht zu prüfen, ob ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten besteht. Dies setzt voraus, dass eine Verurteilung mit den zur Verfügung stehenden Beweismitteln wahrscheinlich ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass unrechtmäßig erlangte Beweismittel einem Verwertungsverbot unterliegen können. Im vorliegenden Fall sind die bei der Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten aufgefundenen Subutex-Tabletten das einzige Beweismittel. Ein hinreichender Tatverdacht gegen den Angeschuldigten läge damit nicht vor, wenn dieses Beweismittel unrechtmäßig erlangt worden wäre (1.) und daraus ein Verbot der Verwertung im Strafverfahren folgen würde (2.). |
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| 1. Nach deutschem Recht wäre die Durchsuchung der Tasche rechtmäßig gewesen (a.). Fraglich ist für das Gericht aber, ob sie gegen das Recht der europäischen Union verstieß (b.). |
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| a. Die Beamten der Bundespolizei stützten die Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten auf § 44 Absatz 2 Bundespolizeigesetz (in der Folge: BPolG). Danach kann die Bundespolizei im Gebiet einer Landgrenze zu einem fremden Staat bis zu einer Tiefe von 30 km zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten im Sinne des § 12 Absatz 1 Nummern 1 bis 4 BPolG eine Sache durchsuchen. Dabei sind Straftaten im Sinne des § 12 Absatz 1 Nummern 1 bis 4 BPolG solche Vergehen, die gegen die Sicherheit der Grenze oder die Durchführung der Aufgaben der Bundespolizei gerichtet oder den Grenzübertritt betreffen oder im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem stehen. Eines besonderen Anlasses oder eines Tatverdachts gegen die Person, die die Sache mit sich führt, bedarf es nach dieser Vorschrift nicht. Die Durchsuchung wäre danach rechtmäßig erfolgt. |
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| b. Der Zulässigkeit der Kontrolle des Angeschuldigten, insbesondere die Durchsuchung seiner Tasche auf der Grundlage von § 44 Absatz 2 BPolG, könnte gegen das allgemeine Verbot von Kontrollen an Binnengrenzen des Schengenraums (Artikel 67 Absatz 2 AEUV, Artikel 20 und 21 SGK) verstoßen und damit rechtswidrig sein. Darauf bezieht sich die erste Frage des Gerichts an den Gerichtshof zur Auslegung des Rechts der Europäischen Union. Soweit für das Gericht ersichtlich, sind die mit diesem Vorabentscheidungsersuchen gestellten Fragen noch nicht vom Gerichtshof geklärt. |
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| (1.) Der Gerichtshof hat zwar in seinem Urteil vom 22.06.2010, verbundene Rechtssachen C-188/10 und C-189/10, MELKI und ABDELI gegen Frankreich, entschieden, dass Artikel 67 Absatz 2 AEUV sowie die Artikel 20 und 21 SGK einer nationalen Regelung entgegenstehen, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaates die Befugnis einräumt, in einem Gebiet mit einer Tiefe von 20 km entlang der Landgrenze dieses Staates zu den Vertragsstaaten des Schengener Durchführungsübereinkommens die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände, aus denen sich die Gefahr einer Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung ergibt, zu kontrollieren, um die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen zu überprüfen, ohne dass diese Regelung den erforderlichen Rahmen für diese Befugnis vorgibt, der gewährleistet, dass die tatsächliche Ausübung der Befugnis nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann. |
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| (2.) Die erste Frage dieses Vorabentscheidungsersuchens betrifft aber nicht - nur - die Ermächtigung zur anlasslosen Überprüfung der Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen in Bezug auf den Besitz, das Mitführen und das Vorzeigen von Urkunden und Bescheinigungen. Denn § 44 Absatz 2 BPolG dient seinem Wortlaut nach nicht nur der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch der Verhütung von Straftaten. Insoweit wäre Artikel 21 Buchstabe a SGK, der unter bestimmten Bedingungen polizeiliche Befugnisse zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität unberührt lässt, zu beachten. In diesem Zusammenhang erscheint es für das Gericht insbesondere fraglich, ob es im Sinne des Artikel 21 Buchstabe a Nummer ii) SGK schon genügt, wenn die mögliche Bedrohung der öffentlichen Sicherheit bereits aus der Begehung von typischen Straftaten des Grenzübertritts, beispielsweise unerlaubte Einreise oder Einfuhr von verbotenen Gegenständen, herrührt, was im Ergebnis dazu führen würde, dass solche polizeiliche Maßnahmen immer zulässig wären. |
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| 2. Nach deutschem Recht würde in dem hier zu entscheidenden Fall trotz Rechtswidrigkeit der Durchsuchung kein Verbot der Verwertung des aufgefundenen Beweismittels bestehen (a.). Fraglich ist für das Gericht aber, ob das Recht der Europäischen Union ein solches Verwertungsverbot verlangt (b.). |
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| a. Das deutsche Strafverfahrensrecht kennt kein allgemeines aus der Rechtswidrigkeit der Erlangung des Beweismittels folgendes Beweisverwertungsverbot. Bis auf einige spezialgesetzliche Regelungen, die ausdrücklich ein Verwertungsverbot vorsehen (siehe dazu die Übersicht bei Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Aufl. 2015, Einleitung, Rn. 55), folgt aus einer fehlerhaften Beweiserhebung nicht immer ein Verwertungsverbot (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 21.02.1964, Az. 4 StR 519/63, NJW 1964, 1139). Vielmehr ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs eine Abwägung aller maßgeblichen Gesichtspunkte des Einzelfalls und der widerstreitenden Interessen vorzunehmen, nämlich des Grundsatzes des deutschen Strafverfahrensrechts, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, und dem individuellen Interesse des von der rechtswidrigen Maßnahme Betroffenen (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 19.09.2006, Az. 2 BvR 2115/01, NJW 2007, 499 Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 13.01.2011, Az. 3 StR 332/10, NJW 2011, 1827). Ein Beweisverwertungsverbot stellt eine begründungsbedürftige Ausnahme dar, wobei es zumindest aber bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten ist (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 09.11.2010, Az. 2 BvR 2101/09, NJW 2011, 2417). Diese Rechtsprechungspraxis ist grundsätzlich mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in der Folge: EMRK), insbesondere Artikel 6, vereinbar (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 12.07.1988, Nummer 8/1987/183/182). Das von der Rechtsprechung postulierte Regel-Ausnahme-Verhältnis wird von Teilen der Literatur kritisiert, die umgekehrt ein Beweisverwertungsverbot als Regel und für die Verwertung eines rechtswidrig gewordenen Beweises eine besondere Legitimation fordert (vgl. die Übersicht dazu bei Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, a.a.O.). Nach Maßgabe der obergerichtlichen Rechtsprechung bestünde somit in dem vom Gericht zu entscheidenden Fall kein Verbot der Verwertung der aufgrund der Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten sichergestellten Subutex-Tabletten als Beweismittel, auch wenn die Rechtswidrigkeit der Maßnahme aus einem Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union herrührt. |
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| b. Wenn die Durchsuchung der Tasche des Angeschuldigten aber gegen die Vorgaben des Rechts der Europäischen Union verstößt und damit rechtswidrig war, stellt sich für die effektive Durchsetzung des Rechts der Europäischen Union und seiner einheitlichen Anwendung, insbesondere im Hinblick auf die möglicherweise in anderen Mitgliedstaaten bestehenden strengeren Regeln über die Möglichkeit der Verwertung rechtswidrig erlangter Beweismittel, die Frage, ob das Recht der Europäischen Union verlangt, dass Beweise, die unter Verstoß gegen das Recht der Europäischen Union erlangt wurden, in einem Strafverfahren nicht verwertet werden dürfen. Soweit für das Gericht ersichtlich, hat der Gerichtshof diese Frage noch nicht - allgemein - beantwortet. Allerdings deutet beispielsweise das Urteil des Gerichtshof vom 10.04.2003 in der Rechtssache STEFFENSEN (C-276/01) darauf hin, dass das Recht der Europäischen Union einen solchen Einfluss auf das Recht und die Praxis der Beweiserlangung und -verwertung in einem Mitgliedstaat haben kann. Darauf bezieht sich die zweite Vorlagefrage. |
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| Das Gericht ersucht den Gerichtshof anzuordnen, dass über das Vorabentscheidungsersuchen mit Vorrang entschieden wird. Die Vorabentscheidungsfragen sind in einem schwebenden Strafverfahren entscheidungserheblich, für das in besonderem Maße der aus Artikel 6 Absatz 1 EMRK resultierende Anspruch des Angeschuldigten gilt, dass über die Stichhaltigkeit der gegen ihn erhobenen öffentlichen Klage in angemessener Zeit entschieden wird. |
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| Weiterhin ersucht das Gericht den Gerichtshof nach Artikel 95 Absatz 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Union, den Namen des Angeschuldigten des Ausgangsverfahrens zu anonymisieren. |
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