Bundesgerichtshof Beschluss, 20. Nov. 2019 - 2 StR 467/19

bei uns veröffentlicht am20.11.2019
vorgehend
Landgericht Schwerin, 126 , s 14643/18
Landgericht Schwerin, 3, KLs 30/18

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
2 StR 467/19
vom
20. November 2019
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
ECLI:DE:BGH:2019:201119B2STR467.19.0

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts – zu 2. auf dessen Antrag – und des Beschwerdeführers am 20. November 2019 gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Schwerin vom 8. April 2019 mit den Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe verurteilt ist,
b) in den Strafaussprüchen zu den Fällen 1 bis 3 der Urteilsgründe ,
c) in den Gesamtstrafenaussprüchen. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels , an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 2. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung, des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei rechtlich zusammentreffenden Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Vergewaltigung und des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit Nötigung schuldig gesprochen. Es hat ihn deswegen unter Auflösung eines Beschlusses zur nachträglichen Bildung einer Gesamtstrafe und Einbeziehung von Einzelstrafen aus zwei Strafbefehlen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zehn Monaten verurteilt. Darüber hinaus hat es den Angeklagten wegen exhibitionistischer Handlungen in drei Fällen (Fälle 1 bis 3 der Urteilsgründe) zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt.
2
Die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
3
1. Die Verurteilung des Angeklagten wegen der Taten zum Nachteil der seinerzeit zwischen fünf und neun Jahre alten Geschädigten P. und H. in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe kann keinen Bestand haben. Die Strafkammer stützt ihre Überzeugung von der Täterschaft darauf, der Angeklagte habe die Vorwürfe „bestätigt“, was durch die Angaben der Ge- schädigten H. „gestützt und ergänzt“ werde. Die dem zugrundeliegende Beweiswürdigung hält sachrechtlicher Nachprüfung nicht stand.
4
a) Mit der Formulierung, der Angeklagte habe in den Fällen 4 bis 9 der Urteilsgründe „die Vorwürfe bestätigt“, soll offenbar zum Ausdruck gebracht werden, der Angeklagte habe die Begehung der ihm zur Last liegenden Taten gestanden. Die dem zugrundeliegende Würdigung des Prozessverhaltens des Angeklagten begegnet durchgreifenden Bedenken.
5
aa) Ausweislich der Urteilsgründe hat der Angeklagte die Vorwürfe zum Nachteil der Geschädigten P. und H. ausdrücklich in Abrede gestellt und sich sinngemäß dahingehend eingelassen, das mache er nicht, das sei verboten. Allerdings habe der Angeklagte, so die Urteilsgründe, „hierzu im Widerspruch“ während des Berichts der aussagepsychologischen Sachverständi- gen über die Angaben der Geschädigten H. ihr gegenüber „versonnenlächelnd , offensichtlich in Erinnerungen schwelgend, jeweils zustimmend genickt und dies teilweise durch ein geäußertes ‚ja‘ bestätigt“.
6
bb) Es kann dahinstehen, inwieweit auch nonverbales Verhalten eines ansonsten zu den Tatvorwürfen im Wesentlichen schweigenden Angeklagten, wovon hier nach den Urteilsgründen auszugehen ist, verwertet werden darf. Voraussetzung ist jedenfalls, dass es in seiner Äußerungsform eindeutig und erheblich ist und dass durch die Bewertung einer spontanen, unreflektierten und in seiner Bedeutung unklaren Körpersprache das Schweigerecht des Angeklagten nicht unterlaufen wird (vgl. Miebach NStZ 2000, 234 mwN). Dies zugrunde gelegt, erweist sich die von der Strafkammer gegebene Begründung, warum im Verhalten des Angeklagten ein Geständnis sexueller Übergriffe auf die Geschädigten zu sehen sei, als nicht tragfähig.
7
Die nur sehr knapp dargestellte Verfahrenssituation (Bericht über Zeugenaussagen ) lässt für sich genommen einen eindeutigen Schluss auf den Aussagegehalt der Mimik des Angeklagten nicht zu. Die Strafkammer teilt nicht mit, worauf konkret sie ihre Annahme gründet, der Angeklagte habe „offensichtlich in Erinnerungen schwelgend“ genickt. Die Möglichkeit, dass der an einer geistigen Behinderung im Sinne einer leichten Intelligenzminderung leidende Angeklagte, der seine sexuellen Bedürfnisse nach den Feststellungen durch täglich mehrfache Selbstbefriedigung und den Besuch von Bordellen befriedigt, allein durch die Tatschilderung zu einer „versonnen lächelnden“, „schwelgen- den“ Mimik veranlasst worden sein könnte, hat das Landgericht nicht erkennbar in den Blick genommen und erörtert. Die von der Strafkammer für ihre Annah- me einer „Bestätigung“ herangezogenen weiteren Spontanreaktionen des An- geklagten erweisen sich ebenfalls als nicht hinreichend tragfähig. Bei „sponta- nen Reaktionen“ des Angeklagten während der Vernehmungen der Geschädig- ten zu Fall 1 der Urteilsgründe und der Zeugin P. zu einem von dieser geschilderten weiteren Vorfall nimmt die Strafkammer nicht erkennbar in den Blick, dass der Angeklagte die Tat zu Fall 1 – anders als in den mit Fall 1 in keinem Zusammenhang stehenden Fällen 4 bis 9 – zumindest zu Beginn eingeräumt hat und dass der weitere Vorfall weder Gegenstand der Anklage war noch als zutreffend festgestellt wur- de. Soweit der Angeklagte „ungefragt“ den Standort seines Fernsehers mitge- teilt hat, ist ein hinreichend klarer Tatbezug nicht erkennbar. Damit bleibt die Würdigung der Strafkammer, der Angeklagte habe entgegen seinem ausdrücklichen Bestreiten die Begehung der ihm zur Last liegenden Taten gestanden, ohne revisionsgerichtlich nachvollziehbaren Beleg.
8
b) Soweit sich die Strafkammer auf die Angaben der Geschädigten H. stützt, fehlt es an einer hinreichenden Würdigung des eingeholten aussagepsychologischen Gutachtens.
9
aa) Zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der nach den Feststellungen des Landgerichts „geistig behinderten, neunjährigen Zeugin“ H. , auf deren Angaben die Verurteilung des Angeklagten fußt, hat die Strafkammer ein aussagepsychologisches Gutachten eingeholt. Sie hat dessen Inhalt augenscheinlich vollständig auf den Seiten 41 bis 66 der Urteilsgründe wiedergege- ben und den Satz angefügt, dass sich die Strafkammer „den Ausführungen der Sachverständigen nach eigener kritischer Würdigung“ anschließe. Dies wird den Anforderungen an eine eigene tatrichterliche Beurteilung nicht gerecht.
10
bb) Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts. Will das Tatgericht dem Gutachten eines Sachverständigen folgen, hat es zunächst die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen, die zum Verständnis des Gutachtens erforderlich sind, darzulegen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 – 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 182). Dabei ist aber schon eine ins einzelne gehende Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der erfolgten Begutachtung regelmäßig nicht erforderlich, vielmehr ist es ausreichend, dass die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind (vgl. BGH, Urteil vom 23. Oktober 2002 ‒ 1 StR 274/02, NStZ 2003, 165, 166). Das Urteil muss sodann erkennen lassen,dass sich das Tatgericht dem Gutachten aus eigener Überzeugung anschließt und warum es ihm folgt; erforderlich ist eine eigenverantwortliche Prüfung der Ausführungen des Sachverständigen, andernfalls besteht die Besorgnis, das Gericht habe eine Frage, zu deren Beantwortung es eines besonderen Sachverständigenwissens bedurfte, ohne diese Sachkunde entschieden oder es habe das Gutachten nicht richtig verstanden (KK-StPO/Ott, 8. Aufl., § 261 Rn. 141 mwN).
11
cc) Diesem Maßstab werden die Urteilsgründe nicht gerecht. Weder durch die lediglich floskelhafte Behauptung eigener kritischer Prüfung noch durch eine erkennbar von Sachkunde getragene Zusammenfassung der wesentlichen Anknüpfungspunkte und methodischen Darlegungen der Sachverständigen bringen die Urteilsgründe zum Ausdruck, dass die Strafkammer dem Gutachten nur aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung folgt. Die Urteilsgründe lassen vielmehr besorgen, dass die Strafkammer nicht hinreichend beachtet hat, dass es nicht Aufgabe des Sachverständigen ist, darüber zu befinden, ob die zu begutachtende Aussage wahr ist oder nicht; das Gutachten soll vielmehr dem Gericht die Sachkunde vermitteln, mit deren Hilfe es die Tatsachen feststellen kann, die für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit wesentlich sind (Senat, Urteil vom 12. November 2003 – 2 StR 354/03 Rn. 8, NStZ-RR 2004, 87 f.).
12
2. Soweit der Angeklagte wegen dreier exhibitionistischer Handlungen verurteilt ist, hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung zum Schuldspruch keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Die Strafzumessung hingegen ist durchgreifend rechtsfehlerhaft, was zur Aufhebung der Strafaussprüche in den Fällen 1 bis 3 der Urteilsgründe führen muss.
13
Die Strafkammer hat das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 StGB verneint und sich insoweit den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen. Hierzu hat sie dessen Gutachten wiederum augenscheinlich (nahezu ) vollständig auf den Seiten 70 bis 77 der Urteilsgründe wiedergegeben und wiederum floskelhaft angefügt, dass sie sich den Ausführungen des Sachver- ständigen „nach eigener kritischer Würdigung anschließe“. Dies kann aus den oben unter 1. b) bb) dargelegten Gründen den Anforderungen an eine eigenverantwortliche tatrichterliche Prüfung nicht genügen. Allerdings kann der Senat nach dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe ausschließen, dass der Angeklagte bei Begehung der exhibitionistischen Handlungen unfähig im Sinne des § 20 StGB war, das Unrecht seiner Taten einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

14
3. Der Wegfall der Einzelstrafen zieht die Aufhebung der Gesamtstrafenaussprüche nach sich. Für die neue Gesamtstrafenbildung sind, was das Landgericht zutreffend gesehen hat, die Grundsätze aus dem Beschluss des 1. Strafsenats vom 27. April 1993 (1 StR 131/93) zu beachten. Der Tatrichter, dem sich die Frage nachträglicher Gesamtstrafenbildung stellt, muss sich jeweils in die Lage des Richters versetzen, dessen Entscheidung für eine nachträgliche Einbeziehung in Betracht kommt und alle Strafen für die vor jenem Urteil begangenen Taten unter Beachtung des Zweifelsgrundsatzes (Senat, Beschluss vom 13. April 2011 – 2 StR 664/10; LK-StGB/Rissing-van Saan/Scholze, 13. Aufl., § 55 Rn. 11; SSW-StGB/Eschelbach, 4. Aufl., § 55 Rn. 11) auf eine Gesamtstrafe zurückführen. Hat der Täter sich nach dem früheren Urteil erneut strafbar gemacht, so sind insoweit eine Einzelstrafe oder eine oder mehrere weitere Gesamtstrafen festzusetzen. § 55 StGB lässt keinen Raum für weitergehende Überlegungen, was für den Angeklagten am günstigsten sei (BGH, Beschluss vom 27. April 1993 – 1 StR 131/93).
Franke Krehl Eschelbach Zeng Meyberg

Vorinstanz:
Schwerin, LG, 08.04.2019 - 126 Js 14643/18 33 KLs 30/18 jug.

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafgesetzbuch - StGB | § 21 Verminderte Schuldfähigkeit


Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Strafgesetzbuch - StGB | § 20 Schuldunfähigkeit wegen seelischer Störungen


Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der

Strafgesetzbuch - StGB | § 55 Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe


(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen h

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Bundesgerichtshof Urteil, 23. Okt. 2002 - 1 StR 274/02

bei uns veröffentlicht am 23.10.2002

BUNDESGERICHTSHOF IM NAMEN DES VOLKES URTEIL 1 StR 274/02 vom 23. Oktober 2002 in der Strafsache gegen wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen u.a. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 23. Oktober 2002, an der te

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(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

BUNDESGERICHTSHOF

IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 274/02
vom
23. Oktober 2002
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 23. Oktober
2002, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
Dr. Boetticher,
Schluckebier,
Hebenstreit,
Staatsanwalt ,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,

für Recht erkannt:
Auf die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Traunstein vom 14. Dezember 2001 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts München II zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Gründe:


Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Jugendlichen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat. Hiergegen richten sich die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft, die zu Ungunsten des Angeklagten auch eine Verurteilung wegen Vergewaltigung erstrebt. Beide Rechtsmittel haben Erfolg. Die Beweiswürdigung des Landgerichts leidet unter durchgreifenden rechtlichen Mängeln. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen kann überdies die Verneinung einer Vergewaltigung keinen Bestand haben.

I.

Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen hatte der Angeklagte einen Haustechnikbetrieb inne. In einer Ferienwoche der Pfingstschulferien leistete die am 2. November 1985 geborene M. H. , die zur Vor- fallszeit 14 Jahre und 7 ½ Monate alt war, bei dem Angeklagten, der mit ihrer Familie bekannt war, eine sogenannte Schnupperlehre ab. Am Nachmittag des ersten Tages des von Montag bis Freitag dauernden Betriebspraktikums bog er mit seinem "Van" vom Typ Chrysler Voyager, mit dem er mit dem Mädchen unterwegs war, in einen Waldweg ab. Dort setzte er M. H. schließlich im Bereich der Schiebetüre des Fahrzeuges auf den Wagenboden, zog ihr die kurze Hose aus und vollzog den Geschlechtsverkehr. Das Mädchen sagte, daß ihm das weh tue und daß er aufhören solle. Der Angeklagte hielt ihre Arme mit beiden Händen oberhalb ihres Kopfes fest. Als sie ansetzte zu rufen, hielt er ihr den Mund zu. Auf ihre Bitte aufzuhören reagierte der Angeklagte nicht. M. H. arbeitete sodann in der Praktikumswoche weiter bei dem Angeklagten. Sie fuhr auch mit ihm an einen See zum Baden, wobei das Landgericht letztlich offen läßt, ob dies nach der Tat oder aber am Tattage selbst der Fall war. Die Strafanzeige gegen den Angeklagten wurde erstattet, nachdem das Mädchen sich etwa ein Jahr später mit ihrem Freund über "besondere geschlechtliche Erlebnisse" unterhalten und dabei auch von der Tat berichtet hatte. Der nicht vorbestrafte Angeklagte hat die Tat bestritten. Das Landgericht folgt der Aussage der Zeugin M. H. . Eine Vergewaltigung hat es verneint , weil es jedenfalls an einer Verknüpfung von Gewalt und "Taterfolg" fehle. Der Geschlechtsverkehr habe bereits stattgefunden, als der Angeklagte die Arme des Mädchens festgehalten und ihm den Mund zugehalten habe, was damit lediglich "die Aufrechterhaltung" des Geschlechtsverkehrs ermöglicht
habe. Zudem fehle es am Vorsatz des Angeklagten. Angesichts des passiven Verhaltens von M. H. habe der Angeklagte davon ausgehen müssen, daß das Mädchen sich in sein Schicksal füge und den Geschlechtsverkehr "zwar widerwillig, aber doch freiwillig" durchführe (UA S. 15). Seine Äußerung, es "tue ihr weh und er solle aufhören", habe er auch dahin verstehen können, daß ihr der Verkehr "lediglich körperlich unangenehm" sei (UA S. 16).

II.

Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten sind begründet. 1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts zur Täterschaft des bestreitenden Angeklagten hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand; sie ist lückenhaft und nicht tragfähig. Die tatsächliche Würdigung genügt zudem nicht den Anforderungen , die an die Bewertung der Glaubhaftigkeit der Aussage eines Hauptbelastungszeugen zu stellen sind, wenn - wie vorliegend - im wesentlichen Aussage gegen Aussage steht, objektive Beweisanzeichen fehlen und die Strafkammer im Blick auf ihre Aufklärungspflicht die Zuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen für geboten erachtet hat (vgl. dazu auch BGHSt 45, 164, 182).
a) Zieht der Tatrichter einen aussagepsychologischen Sachverständigen hinzu, so bedarf es in den Urteilsgründen regelmäßig nicht einer ins einzelne gehenden Darstellung von Konzeption, Durchführung und Ergebnissen der Begutachtung. Es reicht aus, daß die diesbezüglichen Ausführungen die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und methodischen Darlegungen in einer Weise enthalten, die zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner
Schlüssigkeit und sonstigen Rechtsfehlerfreiheit erforderlich sind (BGHSt 45, 164, 182). Um die revisionsrechtliche Nachprüfung in diesem Sinne zu ermöglichen , wäre es hier geboten gewesen, näher auf die Aussageentstehung einzugehen sowie darzulegen und zu erörtern, welche Möglichkeiten als Erklärung für eine - unterstellt - unwahre Aussage der Zeugin M. H. in Betracht kommen konnten (sog. Unwahrhypothese; dazu BGHSt 45, 164, 167/168). Ob die vernommene Sachverständige bei ihrer Prüfung auf die Weise vorgegangen ist, daß sie sog. Hypothesen gebildet und sie mit den sonst erhobenen Fakten abgeglichen hat (BGHSt 45, 164, 168), ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Die Strafkammer allerdings hätte unter Berücksichtigung der Grundsätze der Aussagebewertung und der Sachleitungsbefugnis gegenüber der Sachverständigen die sich aufdrängende Möglichkeit bedenken und würdigen müssen, daß die Beschuldigung des Angeklagten durch die Zeugin erstmals in einem Gespräch der Zeugin mit ihrem jugendlichen Freund über "besondere geschlechtliche Erlebnisse" erhoben wurde, wobei sich zunächst der Freund "offenbart" hatte (UA S. 8). Vor diesem Entstehungshintergrund war die Möglichkeit einer erfundenen Geschichte aus Gründen, die auch im Verhältnis der Zeugin zu ihrem Freund liegen konnten, als naheliegende Hypothese im Urteil anzusprechen und zu würdigen. Die Strafkammer teilt indes bei Wiedergabe des Sachverständigengutachtens nach anderen, eher allgemein gehaltenen Ausführungen lediglich mit, "die Unwahrhypothesen" könnten verworfen werden (UA S. 8). Welche konkreten Hypothesen gemeint sind, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung hierzu fehlt. Die Beweiswürdigung krankt zudem daran, daß Entstehung und Entwicklung der Aussage der Zeugin, auf die es hier ersichtlich mit ankommt, in
einem wesentlichen Teil nicht mitgeteilt und erörtert werden. Es ist nicht erkennbar , wie es nach der Schilderung der Zeugin gegenüber ihrem Freund zur Anzeigeerstattung kam. Das wäre als Grundlage einer auch insoweit erschöpfenden Aussagebewertung und Beweiswürdigung aber erforderlich gewesen.
b) Zu Recht weist der Generalbundesanwalt auf weitere Mängel der Beweiswürdigung hin, die diese als lückenhaft erscheinen lassen: So hatte die Zeugin früher ausgesagt, sie habe sich auf Aufforderung des Angeklagten vor dem Geschlechtsverkehr selbst ausgezogen (UA S. 9), in der Beweisaufnahme indessen bekundet, der Angeklagte habe ihr die Hose ausgezogen (UA S. 5). Die Strafkammer meint, es handele sich dabei um ein untergeordnetes Detail, dem keine eigenständige Bedeutung zukomme (UA S. 9). Das trifft ersichtlich nicht zu. Ob sich das Tatopfer einer Sexualstraftat auf Aufforderung des Täters selbst entkleidet oder ob es ausgezogen wird, ist erfahrungsgemäß in aller Regel eine nachhaltig im Gedächtnis haftende Einzelheit der Tatbegehung. Werden hierzu unterschiedliche Angaben gemacht, bedürfen diese der Erklärung und einer nachvollziehbaren Einordnung in das Beweisgebäude. Das kann nicht dadurch ersetzt werden, daß die abweichenden Angaben mit einer sachlich nicht ausdruckskräftigen und im Zusammenhang auch nicht zutreffenden allgemeinen Wendung in ihrer Bedeutung herabgespielt werden. Damit bleibt der Tatrichter die systematische und sachliche Einordnung des Aussageverhaltens in diesem nicht unwesentlichen Punkte schuldig. Dem Urteil fehlt darüber hinaus eine inhaltliche Bewertung der Aussage der Zeugin, der Angeklagte habe den Geschlechtsverkehr mit ihr nicht am selben Tag vollzogen, am dem sie gemeinsam mit ihm im Ho. See gebadet habe (UA S. 10). Vor dem Hintergrund der Einlassung des Angeklagten, er habe am ersten Tag des Betriebspraktikums mit der Zeugin im See gebadet und
diese danach nach Hause gefahren, hält die Strafkammer es für möglich, daß das Baden im See und - wie der Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt - der Geschlechtsverkehr am selben Tag stattfanden. Dem Angeklagten sei auf dem Heimweg vom See noch genügend Zeit für die Tat verblieben. Die Kammer meint, die Praktikumswoche der Zeugin habe zeitlich rekonstruiert werden müssen; der "datumsmäßigen Einordnung" der Tat einerseits und des Badens im See andererseits durch die Zeugin dürfe deshalb kein entscheidendes Gewicht beigelegt werden (UA S. 10). Damit verstellt sich die Kammer den Blick darauf, daß es hier vorrangig nicht um die Frage des Datums beider Ereignisse ging, sondern darum, ob sich beides am selben Tag zugetragen hat. Da die Strafkammer das für möglich hält, hätte sie den damit in einem wesentlichen Punkt gegebenen möglichen Widerspruch zur Aussage der Zeugin erörtern und sachlich behandeln müssen. Er konnte auf Erinnerungsschwäche oder auf eine Erinnerungstäuschung zurückgehen, ebenso aber auch ein Lügenindiz sein. Dabei war der Zusammenhang mit der Einlassung des Angeklagten zu bedenken, die das Landgericht insofern - hinsichtlich des angegebenen Tages des Besuchs am See - durchaus auch für widerlegt hätte erachten können. Das hat es jedoch nicht getan, sondern die Darstellung des Angeklagten dazu (Badeseebesuch am Tattag, dem Montag) für möglich gehalten. Dann aber mußte diese Frage in der bezeichneten Weise bei der inhaltlichen Bewertung der Aussage der Zeugin berücksichtigt werden, zumal die Einlassung des Angeklagten zum Ablauf dieses Tages von vier Zeugen in nicht näher dargelegten Punkten bestätigt worden war (UA S. 10). Nach allem erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts in der vorliegenden Form als nicht tragfähig. Schon dies führt zur Aufhebung des Urteils in vollem Umfang zu Gunsten des Angeklagten.
2. Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen ist allerdings auch die Annahme der Strafkammer rechtlich nicht haltbar, der Angeklagte habe keine Vergewaltigung begangen (§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 Nrn. 1, 3 StGB). Die Kammer geht daran vorbei, daß auch eine erst im Verlaufe des Geschlechtsverkehrs einsetzende Gewaltanwendung, mit der die Fortsetzung des Geschlechtsverkehrs gegen nun erst beginnenden Widerstand des Opfers erzwungen wird, für die tatbestandliche Verknüpfung zwischen Nötigungsmittel und Nötigungserfolg genügt (BGH GA 1970, 57). Die Würdigung des Landgerichts zur subjektiven Tatseite, der Angeklagte habe davon ausgehen "müssen", der Zeugin sei der Geschlechtsverkehr unangenehm, sie habe sich aber letztlich "freiwillig" in ihr Schicksal gefügt, wird von den Feststellungen nicht getragen. Diese belegen ohne weiteres Gewaltanwendung durch den Angeklagten und nach den Umständen auch noch hinreichend den entgegenstehenden Willen der Zeugin (es tue ihr weh, er solle aufhören; Festhalten der Arme, Zuhalten des Mundes, um ein Schreien zu verhindern ) und damit den wenigstens bedingten Vorsatz des Angeklagten. Ebensowenig kann der Auffassung des Landgerichts gefolgt werden, die Zeugin habe sich nicht in einer schutzlosen Lage befunden, "weil sie nicht konkret wehrlos" gewesen sei (§ 177 Abs. 1 Nr. 3 StGB, UA S. 16). Eine solche Lage besteht für das Opfer regelmäßig dann, wenn es sich dem Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann, wobei es allerdings eines gänzlichen Beseitigens jeglicher Verteidigungsmöglichkeit nicht bedarf (BGHSt 44, 238, 232; vgl. weiter BGHSt 45, 253, 257 ff.). Das Landgericht hätte im Blick darauf nähere Feststellungen zur Tatörtlichkeit treffen müssen, um auf dieser Grundlage die Frage der Schutzlosigkeit und einer etwaigen Ausnutzung durch den Angeklagten zu prüfen. Anlaß dazu bestand, weil der
Angeklagte von einer Kreisstraße abgebogen und ca. 70 Meter weit in einen Wald hineingefahren war. Daß die Zeugin M. H. , die von kleiner und äußerst zierlicher Statur war (UA S. 6), sich möglicherweise stärker als geschehen hätte wehren können, steht der Annahme ihrer Schutzlosigkeit nicht entgegen. Das Urteil unterliegt danach auch auf die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft der Aufhebung. Auf die weiteren Beanstandungen des angefochtenen Urteils kommt es deshalb nicht an. 3. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an ein anderes Landgericht zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 StPO). Der neue Tatrichter wird zu erwägen haben, ob er mit einer etwaigen erneuten aussagepsychologischen Begutachtung der Zeugin M. H. einen anderen Sachverständigen beauftragt. Schäfer Nack Boetticher Schluckebier Hebenstreit

Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.

Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewußtseinsstörung oder wegen einer Intelligenzminderung oder einer schweren anderen seelischen Störung unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

(1) Die §§ 53 und 54 sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat. Als frühere Verurteilung gilt das Urteil in dem früheren Verfahren, in dem die zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen letztmals geprüft werden konnten.

(2) Nebenstrafen, Nebenfolgen und Maßnahmen (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), auf die in der früheren Entscheidung erkannt war, sind aufrechtzuerhalten, soweit sie nicht durch die neue Entscheidung gegenstandslos werden.