Verwaltungsgericht Minden Urteil, 24. Juni 2014 - 1 K 1597/11
Tenor
Die Bauordnungsverfügung der Beklagten vom 15.06.2011 wird aufgehoben.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Beklagte. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
1
Tatbestand:
2Die Klägerin ist Eigentümerin des auf dem Gebiet der Beklagten gelegenen Grundstücks Gemarkung N. , Flur , Flurstück mit der Lagebezeichnung T.-----straße – . Auf der südlich angrenzenden Liegenschaft mit der Lagebezeichnung T1.----straße und schließt sich eine grenznahe Bebauung an. Diese wurde durch Bauschein vom 21.09.1950 unter Befreiung von den Vorschriften über den Grenzabstand bauaufsichtlich genehmigt.
3Mit Bauschein vom 25.11.2008 erteilte die Beklagte der Klägerin die Erlaubnis zur Errichtung eines Mehrfamilienhauses mit neun Wohneinheiten auf dem Grundstück T1.----straße – . Ausweislich der zu Grunde liegenden Antragsunterlagen war im Erdgeschoss ein Abstand zur südlichen Grundstücksgrenze von 3,37 m bis 3,57 m einzuhalten.
4Der Baubeginn des Vorhabens wurde zum 24.12.2008 angezeigt, die Fertigstellung des Rohbaus zum 20.07.2009.
5Auf Grund von Nachbaranfragen leitete die Beklagte im März 2010 eine Überprüfung der Abstände zur südlichen Grundstücksgrenze ein. Interne Ermittlungen ergaben, dass im Bereich der beiden unteren Stockwerke nur ein Grenzabstand zwischen 2,70 m und 2,88 m eingehalten worden war. Der von der Klägerin beauftragte öffentlich bestellte Vermessungsingenieur Dipl.-Ing. X. – Beigeladener zu 1. – bestätigte diese Erkenntnisse in seiner Stellungnahme vom 25.02.2011 und bezifferte den tatsächlich vorhandenen Grenzabstand im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss mit 2,69 m bis 2,88 m und in den beiden oberen Geschossen mit 3,94 m und 4,13 m.
6Nach Anhörung forderte die Beklagte die Klägerin mit der streitbefangenen Bauordnungsverfügung vom 15.06.2011 auf, das auf dem Flurstück errichtete Mehrfamilienhaus zu beseitigen. Hierfür wurde eine Frist von 20 Wochen nach Eintritt der Bestandskraft der Ordnungsverfügung gesetzt. Zur Begründung führte die Beklagte im Wesentlichen aus: Sie sei zum Einschreiten verpflichtet, weil das Bauvorhaben sowohl formell als auch materiell rechtswidrig sei und das Abrissverlangen nicht gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße. Das Gebäude sei mit einer geringeren als der in der Baugenehmigung vorgesehenen Abstandfläche zur südlichen Grundstücksgrenze errichtet worden. Die tatsächliche Bauausführung sei auch nicht genehmigungsfähig. Im Bereich der beiden unteren Stockwerke sei der Mindestgrenzabstand von 3,00 m um 0,12 m bis 0, 31 m unterschritten. Hinsichtlich der beiden oberen Geschosse betrage die Unterschreitung des zulässigen Grenzabstandes 0,47 m bzw. 0,66 m. Diese Unterschreitung löse einen Abwehranspruch der betroffenen Nachbarn aus. Eine Abweichung gem. § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW komme nicht in Betracht. Die dafür erforderliche besondere Grundstückssituation liege nicht vor. Die Beseitigungsanordnung sei auch verhältnismäßig.
7Die Klägerin hat am 13.07.2011 Klage erhoben. Sie trägt zur Begründung im Wesentlichen vor: Das von ihr errichtete Bauvorhaben füge sich in die Eigenart der vorhandenen Umgebungsbebauung ein. Die Ergebnisse des von ihr beauftragten Vermessungsingenieurs bedürften einer Überprüfung. Die Beklagte habe im Rahmen ihrer Ermessensausübung nicht berücksichtigt, dass die Beseitigung des Gebäudes für sie – die Klägerin – eine existenzvernichtende Wirkung habe. Die Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks hätten eine Unterschreitung des Grenzabstands erst bei der Beklagten geltend gemacht, als eine Korrektur infolge des Baufortschritts nur noch mit erheblichem Aufwand möglich war. Erkennbar sei der Verstoß aber bereits im Frühjahr 2009 nach Fertigstellung des Kellergeschosses gewesen. Da für das südlich angrenzende Grundstück eine Abweichung von den Abstandvorschriften zugelassen worden sei, stehe ihr – der Klägerin – eine entsprechende Vergünstigung zu.
8Die Klägerin beantragt,
9die Bauordnungsverfügung der Beklagten vom 15.06.2011 aufzuheben.
10Die Beklagte beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Ordnungsverfügung und vertieft die darin enthaltenen Ausführungen. Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass die Frage, ob die Eigentümer des südlich angrenzenden Grundstücks ein Abwehrrecht im Hinblick auf den Abstandflächenverstoß hätten, keine allein tragende Erwägung im Rahmen der Ermessensentscheidung gewesen sei. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen werde auch eingeschritten, wenn ein subjektives Abwehrrecht eines Nachbarn nicht bestehe.
13Der Beigeladene zu 1. trägt im Wesentlichen vor: Der tatsächliche Standort des Gebäudes entspreche der erteilten Baugenehmigung. Die Tatsache, dass der vorgesehene Abstand zur Südgrenze nicht eingehalten werde, sei nur durch eine nachträgliche „Verschiebung“ der südlichen Grenze erklärbar. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung seien die Voraussetzungen für eine Abweichung nach § 73 BauO NRW gegeben. Ein atypischer Sonderfall liege vor, da die südliche Grundstücksgrenze nicht vollständig geradlinig verlaufe und deshalb ein möglicher Verstoß nicht ohne Weiteres zu erkennen sei. Die Beseitigungsanordnung sei ermessensfehlerhaft. Die Beklagte habe nicht hinreichend berücksichtigt, dass das südliche Nachbargrundstück nicht den gebotenen Abstand wahre und deshalb von der Klägerin auch nicht dessen Einhaltung gefordert werden könne. Die Unverhältnismäßigkeit der Beseitigungsverfügung ergebe sich daraus, dass auch eine die Klägerin weniger belastende Teilrückbauverfügung in Betracht zu ziehen sei. Die für die Beseitigung eingeräumte Frist sei unangemessen kurz.
14Der Beigeladene zu 2. macht im Wesentlichen geltend: Eine Abweichung nach § 73 Abs. 1 Satz 2 BauO NRW komme, ohne dass es einer grundstücksbezogenen Atypik bedürfe, schon deshalb in Betracht, weil das Gebäude den zur nördlichen Grundstücksgrenze erforderlichen Grenzabstand nicht ausschöpfe und das Grundstück deshalb insgesamt nicht stärker ausgenutzt werde als bei einer rechtlich zulässigen Inanspruchnahme. Die Beseitigungsanordnung sei bereits deshalb unverhältnis-mäßig, weil eine Teil-Beseitigungsverfügung ausgereicht hätte. Die Beklagte habe es versäumt, die Frage der Angemessenheit der Maßnahme zu untersuchen. Insbeson-dere habe geprüft werden müssen, ob der Klägerin die Kosten für den kompletten Abriss samt Neubau innerhalb der durch das Abstandflächenrecht festgelegten Grenzen zuzumuten seien.
15Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
16Die Eigentümerin des südlich an das Grundstück der Klägerin angrenzenden Grundstücks mit der Lagebezeichnung T1.----straße und ist aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 24.06.2014 beigeladen worden, weil ihre rechtlichen Interessen durch die Entscheidung berührt werden.
17Entscheidungsgründe:
18Die Klage hat Erfolg. Sie ist mit dem zur Entscheidung gestellten Anfechtungsantrag gem. § 42 Abs. 1 VwGO zulässig und auch in der Sache begründet. Die angefochtene Beseitigungsanordnung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
19Rechtsgrundlage für die angefochtene Beseitigungsanordnung ist § 61 Abs. 1 BauO NRW. Danach haben die Bauaufsichtsbehörden bei der Errichtung baulicher Anlagen darüber zu wachen, dass die öffentlich-rechtlichen Vorschriften und die auf Grund dieser Vorschriften erlassenen Anordnungen eingehalten werden. Sie haben in Wahrnehmung dieser Aufgaben nach pflichtgemäßem Ermessen die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Zur Herstellung baurechtsgemäßer Zustände kann die Bauaufsichtsbehörde die Beseitigung eines Gebäudes verlangen, wenn dessen Errichtung sowohl formell als auch materiell rechtswidrig ist. Das ist insbesondere der Fall, wenn eine ursprünglich genehmigte Anlage nicht mehr von der Baugenehmigung gedeckt ist und im Widerspruch zum materiellen Baurecht steht.
20Vgl. BVerwG, Urteil vom 10.12.1982 - 4 C 52/78 –, juris Rn. 13; OVG NRW, Urteil vom 13.10.1999 – 7 A 998/99 –, juris Rn. 23; VG N. , Urteil vom 10.10.2002 – 1 K 1268/01 –, juris Rn. 22; Schönenbroicher/
21Kamp, BauO NRW, § 61 Rn. 13
22Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Eingriffsermächtigung sind hier erfüllt. Das Bauvorhaben der Klägerin ist formell und materiell baurechtswidrig.
23Die formelle Illegalität ergibt sich aus einer Abweichung der tatsächlichen Bauausführung von der Baugenehmigung. Ausweislich der zu Grunde liegenden Antragsunterlagen, die durch Grünstempelung und Grünpaginierung zum Gegenstand der Baugenehmigung gemacht worden sind, war zur südlichen Grundstücksgrenze ein Abstand von 3,37 m bis 3,57 m einzuhalten. Tatsächlich hält die südliche Außenmauer des Wohngebäudes im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss nur einen Abstand von 2,70 m bis 2,88 m ein. Das Gericht folgt insoweit den Feststellungen des von der Klägerin beauftragten öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs X. (Beigeladener zu 1.) vom 25.02.2011. Diese werden durch das im Verlauf des gerichtlichen Verfahrens eingeholte Gutachten des öffentlich bestellten Vermessungsingenieurs T2. vom 04.10.2012, ergänzt durch die Stellungnahme vom 26.03.2013, bestätigt. Bereits diese Abweichung, die von den Verfahrensbeteiligten nicht substantiiert in Frage gestellt wird, führt zur formellen Illegalität des Bauvorhabens.
24Das Wohngebäude ist auch materiell illegal. Es ist in dem erstellten Umfang nicht genehmigungsfähig, weil es gegen abstandrechtliche Vorschriften verstößt. Gem. § 6 Abs. 5 Satz 5 BauO NRW muss die Tiefe der Abstandflächen mindestens 3 m betragen. Nach den Feststellungen des Beigeladenen zu 1., denen aus den oben bereits dargelegten Gründen zu folgen ist, beträgt der Abstand zwischen der Außenwand des Gebäudes und der südlichen Grundstücksgrenze nur 2,69 m bis 2,88 m. Gründe der Gestaltung des Stadtbildes oder besondere städtebauliche Verhältnisse, die eine geringere Tiefe der Abstandfläche rechtfertigen könnten (§ 6 Abs. 5 Satz 6 i. V. m. Abs. 16 BauO NRW), sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
25Die Voraussetzungen für die Zulassung einer Abweichung nach § 73 BauO NRW liegen nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann nur eine grundstücksbezogene Atypik eine Abweichung rechtfertigen. Diese kann sich ergeben aus Besonderheiten der Lage und des Zuschnitts der benachbarten Grundstücke zueinander oder aus topografischen Besonderheiten des Geländeverlaufs, nicht aber aus den Wünschen eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen. § 73 BauO NRW ist kein Instrument zur Legalisierung gewöhnlicher Rechtsverletzungen.
26OVG NRW, Beschluss vom 05.03.2007 – 10 B 274/07 –, juris Rn. 17.
27Derartige Besonderheiten liegen hier nicht vor. Sie ergeben sich insbesondere nicht aus einer in der Liegenschaftskarte dargestellten leichten Verschwenkung der Grenze in nördliche Richtung. Insofern ist nicht ersichtlich, unter welchem Gesichtspunkt die Klägerin für die Bebaubarkeit des Grundstücks im Hinblick auf einen leicht verschwenkenden Grenzverlauf auf eine Abweichung von den abstandflächenrechtlichen Anforderungen angewiesen war.
28Die angefochtene Beseitigungsanordnung ist jedoch ermessensfehlerhaft (§ 114 VwGO). Die Beklagte hat das ihr eingeräumte Entschließungsermessen nicht ausgeübt, weil sie sich zu Unrecht für verpflichtet gehalten hat, zu Gunsten der Grundstücksnachbarn einzuschreiten.
29Allerdings entspricht es gefestigter Rechtsprechung, dass die Nichteinhaltung der erforderlichen baurechtlichen Abstandflächen grundsätzlich einen nachbarlichen Abwehranspruch auslöst, dem die Bauaufsichtsbehörde mit einer Beseitigungsanordnung Rechnung tragen muss. Inwieweit die bauliche Nutzbarkeit des Nachbargrundstücks eingeschränkt ist und die Unterschreitung der Abstandfläche zu einer tatsächlichen Beeinträchtigung des Nachbarn führt, ist regelmäßig unerheblich.
30Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.02.2012 – 2 A 2463/11 –, juris Rn. 9; Urteil vom 25.10.2010 – 7 A 290/09 –, juris Rn. 30.
31Die regelmäßig bestehende Pflicht zum Einschreiten bedeutet jedoch nicht, dass bei einem Abstandflächenverstoß stets und unter allen Umständen zu Gunsten des betroffenen Nachbarn eingeschritten werden muss. In besonders gelagerten Einzelfällen kann vielmehr auch die Entscheidung, auf Grund der speziellen Situation von einem Einschreiten abzusehen, ausnahmsweise noch ermessensgerecht sein. Hierzu bedarf es allerdings besonderer Gründe, die es rechtfertigen, auch unter Berücksichtigung der vom Abstandflächenrecht vorgenommenen Bewertung der nachbarlichen Interessen von der Durchsetzung des Nachbarschutzes abzusehen.
32Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14.02.2012 – 2 A 2463/11 –, juris Rn. 11; Urteil vom 25.10.2010 – 7 A 290/09 –, juris Rn. 30.
33Ein derartiger besonders gelagerter Ausnahmefall ist vorliegend gegeben. Die Beklagte hat bei ihrer Entscheidung verkannt, dass sie nicht verpflichtet war, zu Gunsten der Nachbarn gegen den Abstandflächenverstoß einzuschreiten. Die Nachbarn waren im Hinblick auf den im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis geltenden Grundsatz von Treu und Glauben gehindert, sich auf die Verletzung von Abstandflächenvorschriften durch die Klägerin zu berufen, weil die Gebäude auf ihrem Grundstück den Grenzabstand ebenfalls nicht einhalten. Das allgemeine Rechtsverständnis billigt es einem Grundstückseigentümer nicht zu, rechtliche Abwehrmaßnahmen gegen eine durch einen Nachbarn hervorgerufene Beeinträchtigung zu ergreifen und zugleich diesem Nachbarn gleichsam spiegelbildlich dieselbe Beeinträchtigung zuzumuten. Aus den nachbarlichen Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten folgt, dass derjenige, der selbst mit seinem Gebäude den erforderlichen Grenzabstand nicht einhält, billigerweise nicht verlangen kann, dass der Nachbar die Abstandfläche freihält.
34Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.02.2010 – 7 B 1840/09 –, juris Rn. 9; Beschluss vom 07.08.1997 – 7 A 150/96 ‑, juris Rn. 10 unter Hinweis auf Nds. OVG, Urteil vom 12.09.1984 ‑ 6 A 49/83 ‑; OVG Mecklenburg-Vor-pommern, Beschluss vom 14.07.2005 – 3 M 69/05 –, juris Rn. 34; Hess. VGH, Urteil vom 11.05.1989 – 3 UE 368/86 –, juris Rn. 29; BayVGH, Beschluss vom 09.10.2006 – 26 ZB 06.1926 –, juris Rn. 12.
35Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Nachbarn sich im Hinblick auf die Nichteinhaltung der Abstandflächenvorschriften auf ihrem Grundstück auf eine durch Erteilung einer Baugenehmigung formell abgesicherte Position berufen können, wie es hier der Fall ist. Für das südlich angrenzende Grundstück mit der Lagebezeichnung T1.----straße ist mit Bauschein vom 21.09.1950 eine Baugenehmigung unter Befreiung von den Abstandvorschriften erteilt worden. Der genehmigte Grenzabstand beträgt hinsichtlich des Vorderhauses durchschnittlich 0,60 m und hinsichtlich des Hofgebäudes 1,70 m. Die Erteilung dieser Genehmigung vermittelt den Eigentümern zwar Bestandschutz gegenüber behördlichen Maßnahmen. Sie ändert jedoch nichts an der faktischen Nichteinhaltung der gesetzlich geforderten Abstandflächen und hat daher keinen Einfluss auf die zwischen den Nachbarn bestehende Wechselbeziehung.
36Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.02.2010 – 7 B 1840/09 –, juris Rn. 10; Beschluss vom 07.08.1997 – 7 A 150/95 ‑, juris Rn. 10 unter Hinweis auf Nds. OVG, Urteil vom 12.09.1984 – 6 A 49/83 ‑; OVG Mecklenburg-Vor-pommern, Beschluss vom 14.07.2005 – 3 M 69/05 –, juris Rn. 34; VG Ansbach, Beschluss vom 14.03.2011 – AN 3 S 10.02357 ‑, juris Rn. 35 ff.; Bay VGH, Beschluss vom 09.10.2006, - 26 ZB 06.1926 ‑, juris Rn. 12.
37Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis löst in diesen Fällen Abwehrrechte nur aus, wenn die Verletzung der Abstandregelungen durch das Bauwerk des Nachbarn schwerwiegender ist als der eigene Verstoß oder wenn in gefahrenrechtlicher Hinsicht untragbare Zustände entstanden sind. Für die Vergleichbarkeit der die Nachbarn in diesem Sinne wechselseitig beeinträchtigenden Rechtsverstöße ist jeweils neben dem konkreten Grenzabstand auch die Qualität der mit der Verletzung der Abstandflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigung von Bedeutung.
38Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 12.02.2010 – 7 B 1840/09 –, juris Rn. 12; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 14.07.2005 – 3 M 69/05 –, juris Rn. 34.
39Die vorstehend dargestellten Grundsätze für Abwehrrechte im Nachbarrechtsverhältnis wirken sich auch auf die Anforderungen an die Ermessensausübung bei Beseitigungsanordnungen aus. Entschließt sich die Behörde, zur Durchsetzung nachbarlicher Abwehrrechte einzugreifen, handelt sie ermessensfehlerhaft, wenn derartige Abwehrrechte in Wahrheit nicht bestehen.
40Vgl. VG N. , Urteil vom 19.11.2013 – 1 K 2482/12 ‑, juris Rn. 21, 32: Abwehranspruch des Nachbarn verwirkt.
41Die diesbezüglichen Voraussetzungen sind zu ermitteln und in die Ermessensent-scheidung einzubeziehen. Das bedeutet in dem vorliegenden Fall eines auf dem Nachbargrundstück gleichsam „spiegelbildlich“ eingetretenen Verstoßes gegen die Abstandvorschriften, dass vor Erlass einer Beseitigungsanordnung die konkreten Auswirkungen der wechselseitigen Verstöße zu prüfen und zu bewerten gewesen wären. Dies ist hier jedoch nicht geschehen. Die Option, wegen der Unterschreitung der Abstandflächen auf dem Nachbargrundstück von einer Beseitigungsanordnung abzusehen, ist nicht geprüft worden. Vielmehr hat sich die Beklagte für verpflichtet gehalten, eine Beseitigungsanordnung zu erlassen.
42Bereits der Eingangsformulierung der Bauordnungsverfügung vom 15.06.2011 ist zu entnehmen, dass von einer Pflicht zum Einschreiten ausgegangen worden ist („muss ich sie leider auffordern, das Wohngebäude zu beseitigen“). Auf S. 3 wird darauf hingewiesen, dass eine Unterschreitung der notwendigen Abstandflächen regel-mäßig einen Abwehranspruch des Nachbarn auslöse. Die betroffenen Angrenzer hätten wiederholt ihre Bedenken vorgetragen. Im drittletzten Absatz auf S. 4 heißt es, die Angrenzer könnten im Hinblick auf den nachbarschützenden Charakter der Abstandflächenvorschrift ihren Abwehranspruch geltend machen. Zu der Tatsache, dass die Abstandflächen auf dem Nachbargrundstück nicht eingehalten werden, äußert sich der Bescheid auf S. 4 im drittletzten Absatz nur dahingehend, dass die Maßnahme auch verhältnismäßig sei, da für den Neubau der Klägerin keine grenznahe Bebauung aus der bestandsgeschützten Umgebungsbebauung abgeleitet werden könne. Diese Erwägung verstellt den Blick für die Prüfung der Frage, ob im Hinblick auf die grenznahe Bebauung auf dem Nachbargrundstück im Rahmen der Ermessensausübung von einer Beseitigungsanordnung abgesehen werden konnte. Dem stand ‑ wie ausgeführt - der geltende Bestandsschutz für das Nachbargebäude nicht entgegen.
43Eine Heilung des Ermessensfehlers ergibt sich auch nicht aus der von dem Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 19.02.2013 abgegebenen Erklärung. Darin wird ausgeführt, die Frage, ob der südlich angrenzende Nachbar ein subjektives Abwehrrecht im Hinblick auf den Abstandflächenverstoß habe, sei keine allein tragende Erwägung im Rahmen der Ermessensentscheidung gewesen. Dies ergebe sich z. B. daraus, dass im letzten Absatz auf S. 3 des Bescheides darauf hingewiesen worden sei, dass ein solcher Abwehranspruch „regelmäßig“ bestehe. Die Verwaltungspraxis im Hinblick auf Abstandflächenverstöße verfolge einen stringenten Ansatz, da die Rechtsprechung des OVG NRW insoweit auch einen geringen Spielraum ermögliche. Deshalb werde regelmäßig auch ohne das Bestehen eines subjektiven Abwehrrechtes eingeschritten. Dieser Protokollerklärung kann, selbst wenn es sich um eine zulässige Ergänzung von Ermessenserwägungen gem. § 114 Satz 2 VwGO handeln sollte, nicht entnommen werden, dass die grenznahe Bebauung des Nachbargrundstücks bei der Ermessensausübung berücksichtigt worden ist. Insbesondere fehlt es nach wie vor an der Ermittlung und der vergleichenden Bewertung der mit der wechselseitigen Inanspruchnahme der Abstandflächen verbundenen konkreten Beeinträchtigungen.
44Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kosten beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Minden Urteil, 24. Juni 2014 - 1 K 1597/11
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(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts (Anfechtungsklage) sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts (Verpflichtungsklage) begehrt werden.
(2) Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt oder seine Ablehnung oder Unterlassung in seinen Rechten verletzt zu sein.
(1) Soweit der Verwaltungsakt rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, hebt das Gericht den Verwaltungsakt und den etwaigen Widerspruchsbescheid auf. Ist der Verwaltungsakt schon vollzogen, so kann das Gericht auf Antrag auch aussprechen, daß und wie die Verwaltungsbehörde die Vollziehung rückgängig zu machen hat. Dieser Ausspruch ist nur zulässig, wenn die Behörde dazu in der Lage und diese Frage spruchreif ist. Hat sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt, so spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, daß der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat.
(2) Begehrt der Kläger die Änderung eines Verwaltungsakts, der einen Geldbetrag festsetzt oder eine darauf bezogene Feststellung trifft, kann das Gericht den Betrag in anderer Höhe festsetzen oder die Feststellung durch eine andere ersetzen. Erfordert die Ermittlung des festzusetzenden oder festzustellenden Betrags einen nicht unerheblichen Aufwand, kann das Gericht die Änderung des Verwaltungsakts durch Angabe der zu Unrecht berücksichtigten oder nicht berücksichtigten tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse so bestimmen, daß die Behörde den Betrag auf Grund der Entscheidung errechnen kann. Die Behörde teilt den Beteiligten das Ergebnis der Neuberechnung unverzüglich formlos mit; nach Rechtskraft der Entscheidung ist der Verwaltungsakt mit dem geänderten Inhalt neu bekanntzugeben.
(3) Hält das Gericht eine weitere Sachaufklärung für erforderlich, kann es, ohne in der Sache selbst zu entscheiden, den Verwaltungsakt und den Widerspruchsbescheid aufheben, soweit nach Art oder Umfang die noch erforderlichen Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist. Auf Antrag kann das Gericht bis zum Erlaß des neuen Verwaltungsakts eine einstweilige Regelung treffen, insbesondere bestimmen, daß Sicherheiten geleistet werden oder ganz oder zum Teil bestehen bleiben und Leistungen zunächst nicht zurückgewährt werden müssen. Der Beschluß kann jederzeit geändert oder aufgehoben werden. Eine Entscheidung nach Satz 1 kann nur binnen sechs Monaten seit Eingang der Akten der Behörde bei Gericht ergehen.
(4) Kann neben der Aufhebung eines Verwaltungsakts eine Leistung verlangt werden, so ist im gleichen Verfahren auch die Verurteilung zur Leistung zulässig.
(5) Soweit die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde aus, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Soweit die Verwaltungsbehörde ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, prüft das Gericht auch, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die Verwaltungsbehörde kann ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen.
(1) Der unterliegende Teil trägt die Kosten des Verfahrens.
(2) Die Kosten eines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels fallen demjenigen zur Last, der das Rechtsmittel eingelegt hat.
(3) Dem Beigeladenen können Kosten nur auferlegt werden, wenn er Anträge gestellt oder Rechtsmittel eingelegt hat; § 155 Abs. 4 bleibt unberührt.
(4) Die Kosten des erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahrens können der Staatskasse auferlegt werden, soweit sie nicht durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind.
(5) Soweit der Antragsteller allein auf Grund von § 80c Absatz 2 unterliegt, fallen die Gerichtskosten dem obsiegenden Teil zur Last. Absatz 3 bleibt unberührt.
(1) Soweit sich aus diesem Gesetz nichts anderes ergibt, gilt für die Vollstreckung das Achte Buch der Zivilprozeßordnung entsprechend. Vollstreckungsgericht ist das Gericht des ersten Rechtszugs.
(2) Urteile auf Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen können nur wegen der Kosten für vorläufig vollstreckbar erklärt werden.
Für vorläufig vollstreckbar ohne Sicherheitsleistung sind zu erklären:
- 1.
Urteile, die auf Grund eines Anerkenntnisses oder eines Verzichts ergehen; - 2.
Versäumnisurteile und Urteile nach Lage der Akten gegen die säumige Partei gemäß § 331a; - 3.
Urteile, durch die gemäß § 341 der Einspruch als unzulässig verworfen wird; - 4.
Urteile, die im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen werden; - 5.
Urteile, die ein Vorbehaltsurteil, das im Urkunden-, Wechsel- oder Scheckprozess erlassen wurde, für vorbehaltlos erklären; - 6.
Urteile, durch die Arreste oder einstweilige Verfügungen abgelehnt oder aufgehoben werden; - 7.
Urteile in Streitigkeiten zwischen dem Vermieter und dem Mieter oder Untermieter von Wohnräumen oder anderen Räumen oder zwischen dem Mieter und dem Untermieter solcher Räume wegen Überlassung, Benutzung oder Räumung, wegen Fortsetzung des Mietverhältnisses über Wohnraum auf Grund der §§ 574 bis 574b des Bürgerlichen Gesetzbuchs sowie wegen Zurückhaltung der von dem Mieter oder dem Untermieter in die Mieträume eingebrachten Sachen; - 8.
Urteile, die die Verpflichtung aussprechen, Unterhalt, Renten wegen Entziehung einer Unterhaltsforderung oder Renten wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten, soweit sich die Verpflichtung auf die Zeit nach der Klageerhebung und auf das ihr vorausgehende letzte Vierteljahr bezieht; - 9.
Urteile nach §§ 861, 862 des Bürgerlichen Gesetzbuchs auf Wiedereinräumung des Besitzes oder auf Beseitigung oder Unterlassung einer Besitzstörung; - 10.
Berufungsurteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten. Wird die Berufung durch Urteil oder Beschluss gemäß § 522 Absatz 2 zurückgewiesen, ist auszusprechen, dass das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar ist; - 11.
andere Urteile in vermögensrechtlichen Streitigkeiten, wenn der Gegenstand der Verurteilung in der Hauptsache 1.250 Euro nicht übersteigt oder wenn nur die Entscheidung über die Kosten vollstreckbar ist und eine Vollstreckung im Wert von nicht mehr als 1.500 Euro ermöglicht.