Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss, 16. Apr. 2015 - 23 K 6871/13
Tenor
Das Verfahren wird ausgesetzt.
Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:
1. Ist Art. 45 AEUV dahingehend auszulegen, dass er nationalem Recht entgegensteht, nach dem eine in einem Mitgliedstaat verbeamtete Person ihre Anwartschaften auf Ruhegehalt (Versorgungsbezüge) aus dem Beamtenverhältnis verliert, weil sie zwecks Aufnahme einer neuen Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat auf eigenen Wunsch aus dem Beamtenverhältnis entlassen wurde, wenn das nationale Recht gleichzeitig vorsieht, dass diese Person unter Zugrundelegung der im Beamtenverhältnis erreichten Bruttobezüge in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert wird, wobei die daraus folgenden Rentenansprüche niedriger als die verlorenen Ruhegehaltsanwartschaften sind?
2. Falls 1. - für alle oder für bestimmte Beamte - bejaht wird: Ist Art. 45 AEUV dahingehend auszulegen, dass mangels anderweitiger nationaler Regelung die frühere Anstellungskörperschaft des betroffenen Beamten entweder diesem das Ruhegehalt unter Zugrundelegung der in dem früheren Beamtenverhältnis zurückgelegten ruhegehaltsfähigen Dienstzeit und unter Minderung um die aus der Nachversicherung entstandenen Rentenansprüche zu zahlen hat oder den Verlust des Ruhegehaltes auf andere Weise finanziell auszugleichen hat, obwohl nach nationalem Recht nur die nach diesem Recht vorgesehenen Versorgungsleistungen gewährt werden dürfen?
1
Gründe:
2I.
3(1) Der am 00.0.1950 geborene Kläger studierte vom 1. Oktober 1971 bis zum 10. November 1977 an einer Hochschule und stand vom 1. September 1978 bis zum 30. April 1980 als Beamter auf Widerruf im Dienst des beklagten Landes Nordrhein-Westfalen. Das Beamtenverhältnis erlosch, da der Kläger am 25. April 1980 mit dem Bestehen des zweiten Staatsexamens seine Ausbildung zum Lehrer abgeschlossen hatte.
4(2) Ab dem 1. August 1980 stand der Kläger als Lehrer im Dienst des beklagten Landes Nordrhein-Westfalen. Die Tätigkeit wurde mit der Ernennung zum Beamten am 1. August 1980 im Beamtenverhältnis ausgeübt. Der Kläger wurde später zum Beamten auf Lebenszeit ernannt und zum Oberstudienrat befördert.
5(3) Der Kläger schied auf eigenen Wunsch mit Ablauf des 31. August 1999 aus dem Beamtenverhältnis aus und nahm zum September 1999 eine Tätigkeit als Lehrer in Österreich auf.
6(4) Entsprechend dem nationalen Recht (§ 8 SGB VI) ist der Kläger für den Zeitraum vom 1. September 1978 bis zum 31. August 1999 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte [heute: Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund] nachversichert worden. Die Möglichkeit einer Zusatzversorgung bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) hat für den Kläger, anders als bei Lehrern, die ihre Tätigkeit nicht im Beamtenverhältnis ausüben, nicht bestanden. Vorschriften für eine entsprechende Nachversicherung bei der Versorgungsanstalt bestehen nicht. Einen entsprechenden Antrag des Klägers lehnte das beklagte Land mit Bescheid vom 10. Februar 2009 ab.
7(5) Folglich ergibt sich ein Anspruch des Klägers auf Altersrente nach dem Erreichen der entsprechenden Altersgrenze aus den Regelungen des SGB VI. Nach dem derzeitigen Stand würde die Altersrente der DRV Bund monatlich 1.050,67 Euro betragen, bestehend aus Zeiten der Schulausbildung, des Studiums und der Nachversicherung.
8(6) Wäre eine Nachversicherung nicht durchgeführt worden und sähe das nationale Recht in Nordrhein-Westfalen eine Regelung vor, nach der die Versorgungsanwartschaften bei Entlassung aus dem Beamtenverhältnis nicht verloren gehen, hätte der Kläger aufgrund seiner Vollzeittätigkeit aus der Zeit vom 1. September 1978 bis zum 31. August 1999 gegen das beklagte Land Nordrhein-Westfalen Anspruch auf Versorgungsbezüge in Höhe von monatlich 2.263,03 Euro. Unter Hinzurechnung von Zeiten des Studiums als Vordienstzeit würde der in dem genannten Zeitraum erworbene Anspruch auf Versorgungsbezüge monatlich 2.728,18 Euro betragen.
9(7) Mit Bescheid vom 25. April 2013 teilte das beklagte Land dem Kläger mit, dass er aufgrund seiner Entlassung aus dem Beamtenverhältnis keinen Anspruch auf Versorgungsbezüge habe. Er sei für die gesamte Zeit seiner Tätigkeit nachversichert worden.
10(8) Dagegen erhob der Kläger fristgerecht Klage und rügt den Verstoß der Nachversicherungspflicht gegen europäisches Recht, maßgeblich Art. 45 AEUV.
11(9) Die Pensionsversicherungsanstalt Österreich - Landesstelle L. - teilte dem Gericht mit, dass in Deutschland erworbenen Dienstzeiten keine Auswirkungen auf die Pensionshöhe in Österreich haben.
12II.
13(10) Die maßgeblichen nationalen Vorschriften lauten:
14Aus dem Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) - Gesetzliche Rentenversicherung -, abgedruckt unter: gesetze-im-internet.de:
15§ 1 BeschäftigteVersicherungspflichtig sind1. Personen, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind; […]
16§ 5 Versicherungsfreiheit(1) Versicherungsfrei sind1. Beamte und Richter auf Lebenszeit, auf Zeit oder auf Probe, Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit […]
17§ 8 Nachversicherung, Versorgungsausgleich und Rentensplitting(1) Versichert sind auch Personen,1. die nachversichert sind oder2. […].Nachversicherte stehen den Personen gleich, die versicherungspflichtig sind.
18(2) Nachversichert werden Personen, die als1. Beamte oder Richter auf Lebenszeit, auf Zeit oder auf Probe, Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit sowie Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst,2. […]versicherungsfrei waren oder von der Versicherungspflicht befreit worden sind, wenn sie ohne Anspruch oder Anwartschaft auf Versorgung aus der Beschäftigung ausgeschieden sind oder ihren Anspruch auf Versorgung verloren haben und Gründe für einen Aufschub der Beitragszahlung (§ 184 Abs. 2) nicht gegeben sind. Die Nachversicherung erstreckt sich auf den Zeitraum, in dem die Versicherungsfreiheit oder die Befreiung von der Versicherungspflicht vorgelegen hat (Nachversicherungszeitraum). Bei einem Ausscheiden durch Tod erfolgt eine Nachversicherung nur, wenn ein Anspruch auf Hinterbliebenenrente geltend gemacht werden kann.
19§ 184(1) Die Beiträge sind zu zahlen, wenn die Voraussetzungen für die Nachversicherung eingetreten sind, insbesondere Gründe für einen Aufschub der Beitragszahlung nicht gegeben sind. […](2) Die Beitragszahlung wird aufgeschoben, wenn1. die Beschäftigung nach einer Unterbrechung, die infolge ihrer Eigenart oder vertraglich im Voraus zeitlich begrenzt ist, voraussichtlich wieder aufgenommen wird,2. eine andere Beschäftigung sofort oder voraussichtlich innerhalb von zwei Jahren nach dem Ausscheiden aufgenommen wird, in der wegen Gewährleistung einer Versorgungsanwartschaft Versicherungsfreiheit besteht oder eine Befreiung von der Versicherungspflicht erfolgt, sofern der Nachversicherungszeitraum bei der Versorgungsanwartschaft aus der anderen Beschäftigung berücksichtigt wird,3. eine widerrufliche Versorgung gezahlt wird, die der aus einer Nachversicherung erwachsenden Rentenanwartschaft mindestens gleichwertig ist.Der Aufschub der Beitragszahlung erstreckt sich in den Fällen des Satzes 1 Nr. 1 und 2 auch auf die Zeit der wiederaufgenommenen oder anderen Beschäftigung und endet mit einem Eintritt der Nachversicherungsvoraussetzungen für diese Beschäftigungen.(3) Über den Aufschub der Beitragszahlung entscheiden die Arbeitgeber, Genossenschaften oder Gemeinschaften.
20Aus dem Beamtenversorgungsgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbeamtenversorgungsgesetz - LBeamtVG NRW), abgedruckt unter: recht.nrw.de:
21§ 1 Geltungsbereich(1) Dieses Gesetz regelt die Versorgung der Beamtinnen und Beamten des Landes [...].
22§ 2 Arten der Versorgung(1) Versorgungsbezüge sind1. Ruhegehalt oder […].
23§ 4 Entstehen und Berechnung des Ruhegehalts(1) Ein Ruhegehalt wird nur gewährt, wenn der Beamte1. eine Dienstzeit von mindestens fünf Jahren abgeleistet hat oder […]. Die Dienstzeit wird vom Zeitpunkt der ersten Berufung in das Beamtenverhältnis ab gerechnet […].(2) Der Anspruch auf Ruhegehalt entsteht mit dem Beginn des Ruhestandes […].(3) Das Ruhegehalt wird auf der Grundlage der ruhegehaltsfähigen Dienstbezüge und der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit berechnet.
24§ 14 Höhe des Ruhegehalts(1) Das Ruhegehalt beträgt für jedes Jahr ruhegehaltfähiger Dienstzeit 1,79375 vom Hundert der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge (§ 5), insgesamt jedoch höchstens 71,75 vom Hundert. […]
25Aus dem Beamtengesetz für das Land Nordrhein-Westfalen (Landesbeamtengesetz - LBG NRW), abgedruckt unter: recht.nrw.de:
26§ 28 Entlassungsverfahren[…](3) Nach der Entlassung hat der frühere Beamte keinen Anspruch auf Leistungen des Dienstherrn, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. […]
27III.
28(11) Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Es ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen (Art. 267 AEUV).
29(12) Die Vorlagefragen sind für den vorliegenden Rechtstreit maßgeblich, da bei einem Verstoß der Nachversicherungspflicht gegen Art. 45 AEUV und/oder einer Bejahung der Frage 2 der Kläger eine höhere Altersversorgung erhält.
30(13) Nach Art. 45 Abs. 1 AEUV genießen Arbeitnehmer innerhalb der Union Freizügigkeit.
31(14) Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne von Art. 45 AEUV ist ein autonomer Begriff des Unionsrechts und darf nicht eng ausgelegt werden. So ist als „Arbeitnehmer“ jeder anzusehen, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält (vgl. Urteile Lawrie-Blum, 66/85, EU:C:1986:284, Rn. 17, und Petersen, C‑544/11, EU:C:2013:124, Rn. 30).
32(15) Entsprechend ist der Kläger während seiner Tätigkeit als Lehrer sowohl in Deutschland auch als auch während seiner Beschäftigung in Österreich weisungsgebunden gegen Entgelt tätig (gewesen) und damit Arbeitnehmer im Sinne von Art. 45 AEUV.
33(16) Diese Schlussfolgerung kann nicht dadurch entkräftet werden, dass sich die Tätigkeit des Klägers in den Rahmen des „öffentlichen Diensts“ einfügt, es also um eine „Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung“ im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV handelt.
34(17) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die - privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche - Art des Beschäftigungsverhältnisses für die Anwendung von Art. 45 AEUV unerheblich (vgl. Urteile Sotgiu, C-152/73, EU:C:1974:13, Rn. 5, Bettray, C‑344/87, EU:C:1989:226, Rn. 16, und Haralambidis, C-270/13, EU:C:2014:2185, Rn. 40). Ferner ist der Begriff „öffentliche Verwaltung“ im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV in der gesamten Union einheitlich auszulegen und anzuwenden; seine Bestimmung kann daher nicht völlig in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt werden (vgl. Urteile Sotgiu, C-152/73, EU:C:1974:13, Rn. 5, und Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española, C‑405/01, EU:C:2003:515, Rn. 38). Außerdem ist diese Ausnahme so auszulegen, dass sich ihre Tragweite auf das beschränkt, was zur Wahrung der Belange, die diese Bestimmung den Mitgliedstaaten zu schützen erlaubt, unbedingt erforderlich ist (vgl. Urteil Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española, C‑405/01, EU:C:2003:515, Rn. 41). Entsprechend betrifft der Begriff „öffentliche Verwaltung“ im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AEUV nur diejenigen Stellen, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung von Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind, so dass sie ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen (vgl. Urteile Kommission/Griechenland, C‑290/94, EU:C:1996:265, Rn. 2, Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española, C‑405/01, EU:C:2003:515, Rn. 39, und Haralambidis, C-270/13, EU:C:2014:2185, Rn. 44). Hingegen gilt die Ausnahme in Art. 45 Abs. 4 AEUV nicht für Stellen, die zwar dem Staat oder anderen öffentlich-rechtlichen Einrichtungen zuzuordnen sind, jedoch keine Mitwirkung bei der Erfüllung von Aufgaben mit sich bringen, die zur öffentlichen Verwaltung im eigentlichen Sinne gehören (vgl. Urteile Kommission/Griechenland, EU:C:1996:265, Rn. 2, Colegio de Oficiales de la Marina Mercante Española, C‑405/01, EU:C:2003:515, Rn. 40, und Haralambidis, C-270/13, EU:C:2014:2185, Rn. 45).
35(18) Dabei ist festzustellen, dass die Tätigkeit des Klägers als Lehrer in der Deutschland und Österreich nicht einmal einen Bezug zur nationalen Verwaltung aufweist. Die Tätigkeit ist mit keinerlei Entscheidungsbefugnis ausgestattet, hoheitlich verbindliche Maßnahmen werden nicht erlassen.
36(19) Art. 45 AEUV soll wie sämtliche Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsangehörigen die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern; sie stehen Maßnahmen entgegen, die die Unionsangehörigen benachteiligen könnten, wenn sie eine Erwerbstätigkeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausüben wollen (vgl. Urteile vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, EU:C:2008:178, Rn. 44, sowie Olympique Lyonnais, C-325/08, EU:C:2010:143, Rn. 33).
37(20) Folglich steht Art. 45 AEUV jeder Maßnahme entgegen, die, auch wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit gilt, geeignet ist, die Ausübung der durch den AEUV-Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Unionsangehörigen zu behindern oder weniger attraktiv zu machen (vgl. Urteil Casteels, C-379/09, EU:C:2011:131, Rn. 22).
38(21) Die Nachversicherung führt dazu, dass die ehemaligen Beamten so gestellt werden, als ob sie bereits während der Beamtentätigkeit in der gesetzlichen Rentenversicherung pflichtversichert gewesen wären. Die rentenrechtlichen Ansprüche richten sich fortan nach Rentenrecht. Eine zusätzliche Nachversicherung bei einer Zusatzversorgungskasse ist ausgeschlossen.
39(22) Das Ergebnis ist - wie im Fall des Klägers -, dass er aufgrund der Nachversicherung aus seiner Tätigkeit in Deutschland nunmehr noch eine Altersrente in Höhe von 1.050,67 Euro erhalten wird.
40(23) Bestünde die Nachversicherungspflicht nicht und der Kläger würde für den Teil seiner Tätigkeit als beamteter Lehrer Versorgungsbezüge erhalten, beliefen sich diese auf 2.728,18 Euro.
41(24) Die sich aus der gesetzlichen Regelung mit der Pflicht zur Nachversicherung ergebende Differenz der Versicherungsleistungen aufgrund Alters von 1.677,51 Euro monatlich kann so den Zugang zum Arbeitsmarkt in einem anderen Mitgliedstaat der Union (mittelbar) erschweren, weil der Verlust der erworbenen Anwartschaften auf Versorgungsbezüge geeignet ist, Beamte davon abhalten, eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen.
42(25) Eine nationale Regelung, die wie die Nachversicherungspflicht geeignet ist, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu beeinträchtigen, ist nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verboten (vgl. Urteil Zentralbetriebsrat der gemeinnützigen Salzburger Landeskliniken Betriebs GmbH, C-514/12, EU:C:2013:799, Rn. 35).
43(26) Eine solche Maßnahme kann aber dann zulässig sein, wenn mit ihr eines der im Vertrag genannten legitimen Ziele verfolgt wird oder wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Darüber hinaus muss in einem derartigen Fall ihre Anwendung geeignet sein, die Verwirklichung des in Rede stehenden Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zu seiner Erreichung erforderlich ist (vgl. Urteil Zentralbetriebsrat der gemeinnützigen Salzburger Landeskliniken Betriebs GmbH, C-514/12, EU:C:2013:799, Rn. 36). Es bestehen für das Gericht aber Zweifel daran, dass die Maßnahme der Nachversicherungspflicht gerechtfertigt ist, Gründe des Allgemeininteresses also die Nachversicherungspflicht rechtfertigen können.
44(27) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache der Mitgliedstaaten, wenn sie eine Maßnahme erlassen, die von einem im Unionsrecht verankerten Grundsatz abweicht, in jedem Einzelfall nachzuweisen, dass diese Maßnahme geeignet ist, die Erreichung des mit ihr angestrebten Ziels zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht. Neben den Rechtfertigungsgründen, die ein Mitgliedstaat geltend machen kann, muss dieser daher eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens machen (vgl. Urteil Frères, C‑379/11, EU:C:2012:798, Rn. 49).
45(28) Jedoch kann der Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik verfügen, keine Beeinträchtigung der Rechte rechtfertigen, die der Einzelne aus den Bestimmungen des Vertrags herleiten kann, in denen seine Grundfreiheiten verankert sind (vgl. Urteil Frères, C-379/11, EU:C:2012:798, Rn. 52).
46(29) Nach deutschem Recht ist allerdings grundsätzlich davon auszugehen, dass Unterschiede von Gewicht in den unterschiedlichen Versorgungssystemen (Beamtenversorgung - staatliche Rentenversicherung) bestehen.
47(30) Das Beamtenverhältnis orientiert sich grundsätzlich am Lebenszeitprinzip. Der Beamte ist seinem Dienstherrn, im Vergleich zu anderen Arbeitnehmern, in anderer, besonderer Weise umfassend verpflichtet. Grundlage des Anspruchs auf Ruhegehalt und der entsprechenden Alimentationsverpflichtung des Dienstherrn ist die mit der Berufung in das öffentliche Dienstverhältnis verbundene Pflicht des Beamten, seine ganze Persönlichkeit für den Dienstherrn einzusetzen und diesem - grundsätzlich auf Lebenszeit - seine volle Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Wird das öffentlich-rechtliche Dienstverhältnis durch den Beamten aufgekündigt, so entfällt regelmäßig die Notwendigkeit der darauf bezogenen Alimentation und Fürsorge.
48(31) Auf diesem Unterschied gründen die Unterschiede in den Versorgungssystemen, die sodann zu der unterschiedlichen Höhe bei den Leistungen führt. Das Ruhegehalt des Beamten (Versorgungsbezüge) bemisst sich grundsätzlich nach der ruhegehaltsfähigen Dienstzeit (in Jahren) sowie den ruhegehaltsfähigen Bezügen. Es beträgt für jedes Jahr ruhegehaltfähiger Dienstzeit 1,79375 vom Hundert der ruhegehaltfähigen Dienstbezüge, insgesamt jedoch höchstens 71,75 vom Hundert (§ 14 Abs. 1 Satz 1 LBeamtVG NRW). Die Höhe bestimmt sich so maßgeblich nach den Dienstjahren, so dass das System im Ergebnis die Anzahl der Jahre belohnt, die ein Beamter für seinen Dienstherrn tätig war.
49(32) Dabei nimmt ein Beamter in Kauf, dass sein Bruttogehalt während der aktiven Dienstzeit regelmäßig niedriger ist als das eines Angestellten, der mit gleicher Qualifikation im gleichen Einsatzbereich tätig ist.
50(33) Im System der gesetzlichen Rentenversicherung bestimmt sich die Höhe der Altersrente nach einem gegenüber der Beamtenpension gänzlich anderen Berechnungssystem. Im Grundsatz werden für die Berechnung der individuellen Altersrente sowohl die jeweiligen Beiträge, also die während der Versicherungszeit durch Beiträge versicherten Arbeitsentgelte und Arbeitseinkommen, als auch die allgemeine durchschnittliche Lohn- und Gehaltsentwicklung in Deutschland berücksichtigt. Ausgangspunkt ist das in Entgeltpunkte umgerechnete und in jedem Kalenderjahr versicherte Bruttoarbeitsentgelt. Die Höhe der individuellen Entgeltpunkte wird dabei in Relation zum Durchschnittseinkommen aller gesetzlich Versicherten ermittelt.
51(34) Die Nachversicherung erfolgt rückwirkend für den gesamten Nachversicherungszeitraum, in welchem der Beamte aufgrund des Beamtenstatus nicht der Versicherungspflicht unterlag. Sie erfolgt grundsätzlich nach den gleichen Vorschriften, wie sie für die Berechnung der fälligen Beiträge versicherungspflichtiger Beschäftigter zum Zeitpunkt des Eintritts des Nachversicherungsfalls gelten. Der ausscheidende Beamte soll durch die Nachversicherung eigentlich so gestellt werden, als habe er während seines Beamtendaseins in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt und nicht Anwartschaften auf ein Ruhegehalt (Versorgungsbezüge) erworben.
52(35) Bei der Nachversicherung nimmt der Beamte - hier der Kläger als beamteter Lehrer - dreierlei Dinge in Kauf, die unmittelbar Einfluss auf die Höhe seiner Altersrente haben: (A) die Nachversicherung erfolgt aus dem Bruttoentgelt eines Beamten, das regelmäßig niedriger ist als das eines in vergleichbarer Position angestellten Lehrers; (B) maßgeblich für die Berechnung der Versorgungsbezüge sind nicht mehr seine letzten Dienstbezüge, sondern das in im Ergebnis niedrigere Entgeltpunkte umgewandelte Arbeitsentgelt; (C) der ausscheidende Beamte wird nicht in einer Zusatzversorgungskasse nachversichert, in die der Arbeitgeber Beiträge für angestellte Lehrer einzahlt.
53(36) Nach der nationalen Rechtsprechung bleibt es so im Falle des freiwilligen Ausscheidens eines Beamten aus dem Dienst lediglich bei dem verfassungsrechtlich aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleiteten Anspruch auf Gewährung einer Mindest-Altersversorgung durch den bisherigen Dienstherrn gemäß der tatsächlichen Beschäftigungsdauer. Diesen Anspruch hat der Gesetzgeber - so die nationale Rechtsprechung - mit der Anordnung der Nachversicherung für ausgeschiedene Beamte in § 8 SGB VI erfüllt (Bundesverfassungsgericht, Nichtannahmebeschlüsse vom 2. März 2000 ‑ 2 BvR 1508/99 ‑, unter: bverfg.de, Rn. 4, und vom 20. Februar 2008 ‑ 2 BvR 1843/06 ‑, unter: bverfg.de, Rn. 16; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 18. August 2000 ‑ 12 A 179/00 ‑, unter: nrwe.de, Rn. 63, 65, 75).
54(37) Festzuhalten bleibt aber auch, dass das geltende Recht im Land Nordrhein-Westfalen dem Kläger für die beabsichtigte Begründung eines neuen Arbeitsverhältnisses in Österreich keine andere Möglichkeit bot, als aus dem Beamtenverhältnis auszuscheiden. Anders als bei einem Wechsel des Dienstherrn im Bundesgebiet - sei es etwa von einem Land zu einem anderen oder in den Bundesdienst - gibt es nicht die Möglichkeit einer Versetzung oder Abordnung in den Dienst eines anderen Mitgliedstaates unter Beibehaltung der bisher erworbenen Versorgungsansprüche.
55(38) Allerdings zeigt das Beispiel in dem Land Baden-Württemberg (ebenso in den Ländern Hessen und Niedersachsen), dass eine Nachversicherung nicht zwingend ist und es die Möglichkeit gibt, entlassenen Beamten aufgrund bisher erworbener Versorgungsansprüche ein Altersgeld zu zahlen (so genannte Trennung der Altersversicherungssysteme). Auch das Altersgeld berechnet sich - ähnlich wie beamtenrechtliche Versorgungsbezüge - aus den (altersgeldfähigen) Dienstbezügen und der (altersgeldfähigen) Dienstzeit. So können Beamte in Baden-Württemberg, die bereits am 1. Januar 2011 Beamte waren und aus dem Beamtenverhältnis aus eigenem Wunsch ausscheiden, vor ihrem Ausscheiden eine Erklärung abgeben, dass sie Altersgeld in Anspruch nehmen werden; eine Nachversicherung findet dann nicht statt. Beamte in Baden-Württemberg, die nach dem 1. Januar 2011 in ein Beamtenverhältnis berufen wurden, haben ohne eine solche Erklärung Anspruch auf Altersgeld. Sie können - was in besonders gelagerten Einzelfällen günstiger sein kann - jedoch unwiderruflich auf das Altersgeld verzichten; sie werden dann nachversichert.
56(39) Das Gericht geht letztlich davon aus, dass die Art. 6, 50 ff. Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [VO (EG) Nr. 883/2004] nicht greifen. Ansatzpunkt der VO (EG) Nr. 883/2004 ist stets, was dem Kläger nach dem derzeitigen nationalen Recht [„nach den Rechtsvorschriften“, vgl. Art. 60 Abs. 2 VO (EG) Nr. 883/2004] - hier: Leistungen nach dem SGB VI - zusteht. Vor dem Eingreifen der Art. 6, 50 ff. VO (EG) Nr. 883/2004 muss nach nationalem Recht zunächst feststehen, welche Versorgung dem Betroffenen zustehen kann. Die Vorlagefragen knüpfen aber an einen vorgelagerten Zeitpunkt an und betreffen Zweifel an der nationalen Bestimmung zur Nachversicherungspflicht. Die Vorlagefragen betreffen also rechtlich vorgelagerte Fragen der rein nationalen Ansprüche wegen Alters.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss, 16. Apr. 2015 - 23 K 6871/13
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Referenzen - Gesetze
(1) Versichert sind auch Personen,
- 1.
die nachversichert sind oder - 2.
für die aufgrund eines Versorgungsausgleichs oder eines Rentensplittings Rentenanwartschaften übertragen oder begründet sind.
(2) Nachversichert werden Personen, die als
- 1.
Beamte oder Richter auf Lebenszeit, auf Zeit oder auf Probe, Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit sowie Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst, - 2.
sonstige Beschäftigte von Körperschaften, Anstalten oder Stiftungen des öffentlichen Rechts, deren Verbänden einschließlich der Spitzenverbände oder ihrer Arbeitsgemeinschaften, - 3.
satzungsmäßige Mitglieder geistlicher Genossenschaften, Diakonissen oder Angehörige ähnlicher Gemeinschaften oder - 4.
Lehrer oder Erzieher an nicht-öffentlichen Schulen oder Anstalten