Sozialgericht Aachen Urteil, 11. Okt. 2016 - S 12 VG 20/14
Tenor
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05.05.2014 verurteilt, bei dem Kläger aufgrund der bei dem Kläger festgestellten Schädigungsfolgen ab dem 28.06.2013 eine Ver-sorgung nach einem GdS von 70 zu gewähren. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers dem Grunde nach.
1
Tatbestand:
2Zwischen den Beteiligten ist die Höhe der dem Kläger zustehenden Versorgung nach dem Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges (Bundesversorgungsgesetz – BVG) i.V.m. dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Op-ferentschädigungsgesetz - OEG) streitig.
3Der am 00.00.0000 geborene Kläger stellte 1997 erstmalig einen Antrag nach dem Opferentschädigungsrecht. Im Rahmen des damaligen Verwaltungsverfahrens legte er unter anderem ein Urteil der 7. großen Strafkammer des Landgerichts Aachen vom 16.12.1982 (67 [24] KLs/21 Js 703/82) vor, in dessen Gründen zu II. unter anderem ausgeführt wurde:
4"Gegen 14.00 Uhr des 11. Mai 1982 verließ er (der Täter) seine Wohnung und begab sich auf die Straße. Zu dieser Zeit trug er seine braune Perücke, die er schon längere Zeit in seiner Wohnung aufbewahrte. Dort traf er den ihm da-mals unbekannten Schüler N. P., geboren am 00.00.0000, der zu diesem Zeitpunkt 12 Jahre war. Er faßte nun den Entschluß, den Jungen, von dem er annahm, daß er noch nicht 14 Jahre alt sei, in seine Wohnung zu locken. Er bat den N. P., für ihn in der nahegelegenen Imbißstube zwei Flaschen Bier zu holen. Er gab ihm 3,00 DM und forderte ihn auf, das Bier in die Wohnung I., N.-straße, zu bringen. Der Junge kam der Bitte des Angeklagten nach wäh-rend der Angeklagte eilends nach Hause ging. Nach der Rückkehr von der Imbißstube klingelte N. P. an der Klingel "I. Es wurde ihm jedoch zunächst nicht geöffnet. Sodann klingelte er bei einem Nachbarn des Angeklagten; als-dann wurde ihm die Haustür geöffnet. So gelang er zu der Wohnung des An-geklagten auf der ersten Etage. Die Wohnungstür stand offen. Als P. geklopft hatte, kam der Angeklagte, packte ihn am Hals und zog ihn ins Wohnzimmer. Hit seiner Schreckschußpistole, die er aus seiner Tasche nahm, bedrohte er P. und forderte ihn auf, sich auszuziehen. Dieser Aufforderung kam der völlig eingeschüchterte und ängstliche P. nach und zog sich bis auf die Strümpfe aus. Sodann zwang ihn der Angeklagte ins Schlafzimmer, wo er ihn aufforder-te, sich auf die dort auf dem Boden befindlichen Matratzen zu legen, die ihm als Bett dienten. Als P. dieser Aufforderung nachgekommen war, zog sich euch der Angeklagte bis auf die Strümpfe aus, legte seine Pistole auf die Kommode neben den Matratzen und legte sich auch auf das Bett. Sodann spielte dar Angeklagte an dem Glied des 12-jährigen und zwang ihn, an sei-nem erigierten Glied zu spielen. Dabei machte der Angeklagte dem Jungen vor, wie er dies zu machen habe. Schließlich forderte der Angeklagte den Jungen auf, sich herumzudrehen. Sodann steckte er einen Finger in den After des Jungen. Dabei gelangte der Finger in den äußeren Analring des Jungen, P. wurde dabei nicht verletzt. Im Anschluß daran zwang er den Jungen, sein (des Angeklagten) Glied in den Mund zu stecken. Diesem Verlangen kam der verängstigte Junge widerwillig noch. Anschließend zwang er den Jungen dazu, weiterhin an seinem (des Angeklagten) Glied zu manipulieren. Auf Verlangen des Angeklagten musste er so lange an seinem Glied auf- und abreiben, bis es beim Angeklagten zum Samenerguß kam. Der Angeklagte zeigte dem 12-jährigen Jungen daraufhin einen Pornofilm, in dem Männer homosexuelle Handlungen durchführten. Danach konnte P. sich auf seine Bitte hin anziehen und die Wohnung des Angeklagten verlassen. Dabei drohte der Angeklagte noch, die Eltern des Jungen zu erschießen, wenn er etwas erzählen würde. Gleichwohl informierte der Junge seine Mutter, die sodann die Polizei benach-richtigte. Noch heute leidet das Kind N. P. unter den Folgen der Tat. Er ist überängstlich, springt nachts gelegentlich auf und ruft nach seiner Mutter. Bis vor etwa einem Monat noch riß es sich aus Nervosität wiederholt Haare aus."
5Mit Bescheid vom 25.08.1998 stellte das Versorgungsamt B. zunächst das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung als Schädigungsfolge der oben geschil-derten Gewalttat fest, welche eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE – jetzt: Grad der Schädigungsfolgen: GdS) von 30 v.H. bedinge. Auf den hiergegen einge-legten Widerspruch stellte das Versorgungsamt B. weitere Ermittlungen an. In die-sem Rahmen kam der durch das Versorgungsamt beauftragte Gutachter Dr. Q. zu der Einschätzung, auch eine beim Kläger vorliegende Colitis ulcerosa könne – unter Berücksichtigung der seinerzeit geltenden Ziffer 107 der Anhaltpunkte für die ärztli-che Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbe-hindertengesetz (AHP 1996) – gemäß § 1 Abs. 3 BVG im Sinne einer Kann-Versorgung als Schädigungsfolge anerkannt werden.
6Mit Änderungsbescheid vom 23.03.1999 stellte das Versorgungsamt B. fest, dass die beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen posttraumatische Belastungsstörungen und Colitis ulcerosa durch schädigende Einwirkungen im Sinne des § 1 OEG hervorgerufen wurden und die hieraus resultierende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE – jetzt: Grad der Schädigungsfolgen: GdS) 50 v. H. beträgt. Die Anerkennung der Colitis ulcerosa erfolgte dabei in Anwendung des § 1 Abs. 3 BVG.
7Mit Bescheid vom 11.04.2013 stellte die Städteregion B. beim Kläger aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung, einer chronischen Darmentzündung und einer Fusionsstörung der rechten oberen Gliedmaße einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 fest.
8Am 28.06.2013 stellte der Kläger beim Beklagten einen Antrag auf Neufeststellung von Beschädigtenversorgung. Hierbei gab er an, die bei ihm festgestellten Versor-gungsleiden einer posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und einer Colitis ulcerosa hätte sich verschlimmert. Er leide mehr unter der Angststörung, Zwängen (Zählen und Wege), Schlafstörungen, Albträumen, selbstschädigenden Verhalten und Verfolgungswahn. Darüber hinaus machte er als weitere Schädigungsfolgen eine Funktionsstörung der rechten oberen Gliedmaßen geltend. Diese habe er sich im Rahmen einer durch die Angststörung und Verfolgungswahn ausgelösten Flucht mit folgendem schlimmen Sturz zugezogen. Auch die Zwänge (Handlungen und Gedan-ken) seien als zusätzliche Schädigungsfolge ebenso anzuerkennen wie die Persön-lichkeitsstörung. Die Schübe der Colitis hätten sich verstärkt und träten spontan auf, so dass er nicht mehr in der Lage sei, das Haus zu verlassen, wodurch sich auch die Kontrollzwänge in der Wohnung zusätzlich verstärkt hätten.
9Im Rahmen der Antragstellung legte der Kläger ein Gutachten nach Aktenlage des Arztes der Agentur für Arbeit Dr. N. vom 13.02.2013, Arztberichte des M.-hospitals B., des N.-hospitals B., des B.-Krankenhauses B. sowie ärztliche Stellungnahmen des Neurologen und Psychiaters Dr. L. und des Allgemeinmediziners Dr. T. vor.
10Der Beklagte holte zudem Befundberichte des Neurologen und Psychiaters Dr. L und des Allgemeinmediziner Dr. T. ein und wertete diese, nach Einsichtnahme in die Schwerbehindertenakte der Städteregion durch den Facharzt für Innere Medizin und Sozialmedizin, Landesobermedizinalrat Dr. C., aus. Dieser kam zu der Einschätzung, beim Kläger sei es zu einer Verschlimmerung der nicht schädigungsbedingten ge-sundheitlichen Beeinträchtigungen gekommen, eine Verschlimmerung der anerkann-ten Schädigungsfolgen sei demgegenüber nicht belegt.
11Mit Bescheid vom 30.08.2013 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag auf Feststel-lung einer höheren Versorgung nach dem BVG ab.
12Hiergegen legte der Kläger am 11.09.2013 Widerspruch ein. Zur Begründung des Widerspruchs legte der Kläger ein Schreiben der B. Laienhelfer Initiative e.V. betref-fend die Erfahrungen im ambulanten betreuten Wohnen, Atteste des Dr. L. und des Dr. T. sowie ein Attest und vorläufige Entlassungsberichte des B.-Krankenhauses B. vor. Zu diesen Unterlagen nahm erneut Dr. C Stellung und schlug die Einholung einer fachpsychiatrischen gutachterlichen Stellungnahme vor. Diese erfolgte durch den Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie Psychiatrie und Psychotherapie Dr. M., der ausführte, aufgrund des äußerst komplexen Störungsbil-des sei eine psychiatrische Begutachtung bei einem erfahrenen Gutachter angezeigt. Er schlage Dr. C. in Aachen vor.
13Der Kläger wurde daraufhin durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T. gutachterlich untersucht. Dr. T. kam in seinem Gutachten vom 03.03.2014 zu der Einschätzung als schädigungsbedingte Folgen seien weiterhin die posttraumatische Belastungsstörung und die Colitis ulcerosa anzusehen. Daneben bestehende Zwangsgedanken und Zwangshandlungen (ICD 10 F.42.2), sonstige nicht organische psychotische Störungen (ICD 10 F 28), eine rezidivierende depressive Störung – ge-genwärtig schwer (ICD 10 F 33.2) und ein pathologisches Stehlen (Kleptomanie – ICD 10 F 63.2) seien demgegenüber nicht schädigungsbedingt. Hinsichtlich der Schädigungsfolgen seien Verschlimmerungen nicht zu erkennen.
14Im März 2014 legte der Kläger einen abschließenden Entlassbericht des B.-Krankenhauses über einen stationären und teilstationären Aufenthalt im Januar und Februar 2014 vor.
15Mit Widerspruchsbescheid vom 05.05.2014 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als unbegründet zurück.
16Am 13.05.2014 hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten Kla-ge erhoben. Er hat im Laufe des Verfahrens eine fachärztliche Stellungnahme des behandelnden Neurologen und Psychiaters Dr. L. vom 24.11.2014 zu den Akten ge-reicht.
17Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Befundberichts des Dr. L. und überdies ein neurologisch psychiatrisches Gutachten des Facharztes für Neuro-logie Psychiatrie und Psychotherapie Dr. C. nebst eines neuropsychologische Zu-satzgutachtens des Diplom-Psychologen PD Dr. L. in Auftrag gegeben. Zu diesen Gutachten hat der Beklagte durch seinen ärztlichen Dienst mehrfach Stellung ge-nommen. Den Gutachtern ist Gelegenheit gegeben worden, zu den Ausführungen der medizinischen Berater des Beklagten, des Facharztes für Psychiatrie und Psy-chotherapie – Sozialmedizin Dr. C. und der Ärztin für Chirurgie – Sozialmedizin Frau Landesobermedizinalrätin S.-C., Stellung zu nehmen. Das Gericht hat überdies noch ein internistisches Zusatzgutachten des Dr. N. eingeholt, welches in die Begutach-tung des Hauptgutachters Dr. C. mit eingeflossen ist. Der Beklagte hat auch zum internistischen Zusatzgutachten eine Stellungnahme abgeben.
18Am 11.10.2016 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden, in dem der Kläger, gestützt auf die gerichtlich eingeholten Gutachten, beantragt hat,
19den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 30.08.2013 in der Ge-stalt der Widerspruchsbescheides vom 05.05.2014 zu verurteilen, bei ihm auf-grund der festgestellten Schädigungsfolgen nunmehr eine Versorgung nach einem GdS von 70 ab Antragstellung zu gewähren
20Der Beklagte hat beantragt,
21die Klage abzuweisen.
22Zur Begründung hat er im Wesentlich auf die von seinen ärztlichen Beratern formu-lierten Zweifel an der Überzeugungskraft der Gutachten verwiesen. Ein höherer GdS sei letztlich nicht objektiviert.
23Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezo-gene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, de-ren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
24Entscheidungsgründe:
25Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide gemäß § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert, weil diese rechtswidrig sind. Dem Kläger steht ab dem 28.06.2013 eine Versorgung nach dem OEG i.V.m. BVG aus einer GdS von 70 und nicht lediglich 50 zu.
26Nach § 1 Abs. 1 OEG erhält eine Person, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schä-digung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf An-trag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG. Das Vor-liegen eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen den Kläger ist zwi-schen den Beteiligen unstreitig und auch das Gericht sieht es als nachgewiesen an, dass der Kläger am 11.05.1982 im jugendlichen Alter Opfer einer brutalen Gewalttat geworden ist.
27Hierdurch wurden beim Kläger auch kausal Schädigungsfolgen hervorgerufen. Für die Frage der Kausalität gilt die sog. "Theorie der wesentlichen Bedingung". Eine Be-dingung ist danach dann wesentlich - und damit im Entschädigungsrecht beachtlich - wenn sie neben anderen Bedingungen für den Eintritt der Rechtsfolge annähernd gleichwertig ist und innerhalb der Grenze liegt, die durch den Schutzzweck der Rechtsnorm gezogen wird (so Rohr/Sträßer/Dahm, Bundesversorgungsgesetz,7. Aufl., Stand: Oktober 2015, § 1-58, m.w.N.; Gelhausen, in: Kunz/Zellner/Gelhausen/Weiner, Kommentar zum OEG, 5. Aufl. 2010, Anhang I Rn. 24 ff.). Es genügt insoweit die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, d.h. es muss nach der geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang sprechen (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R = juris). Dabei ist insbesondere bei seelischen Beein-trächtigungen, anders als bei körperlichen Beschwerden, in der Regel – wie auch im vorliegenden Fall – besonders problematisch, den rechtlich nach den jeweiligen Ent-schädigungsgesetzen entscheidenden Vorgang - also das die Entschädigungspflicht auslösende Ereignis - als die wesentliche medizinische Ursache festzustellen. Es verbleibt – worauf das Bundessozialgericht in einschlägigen Fällen zu Recht hinweist – stets die Frage, ob nicht andere wesentlich mitwirkende Bedingungen, etwa eine bereits vorbestehende Anlage von Krankheitswert, für die Ausbildung einer seeli-schen Dauererkrankung vorhanden sind (Bundessozialgericht, Urteil vom 12.06.2003, B 9 VG 1/02 R).
28Beim Kläger liegen derzeit im Wesentlichen folgende Gesundheitsbeeinträchtigungen vor:
291 (komplexe) posttraumatische Belastungsstörungsstörung 2 Colitis ulcerosa 3 Anamnestisch allergisches Asthma bronchiale 4 Rechtsbetonte Struma nodosa 5 Atopisches Ekzem 6 Radikulopathien im Bereich der Wirbelsäule 7 Funktionsstörung rechte obere Gliedmaße
30Bestandskräftig – und damit für alle Beteiligten, einschließlich des Gerichts bindend – festgestellt sind bislang durch Bescheid vom 23.03.1999 als Schädigungsfolgen eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine Colitis ulcerosa. Letztere erfolgte seinerzeit in Anwendung des § 1 Abs. 3 Satz 2 BVG im Wege der sog. "Kann-Versorgung". Nach dieser Vorschrift, die auch im OEG entsprechend Anwendung findet, kann – mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – eine Gesundheitsstörung auch dann als Folge einer Schädigung anerkannt werden, wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Von einer solchen Ungewissheit ist auszugehen, wenn es keine einheitliche Lehrmeinung, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts von der Beurteilung auf dem Boden der "Schulmedizin" (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, Az.: B 9 VJ 2/97 R = juris, vgl. dazu auch Bayerisches Landessozialgericht Urteil vom 19.11.2014 – L 15 VS 19/11 = juris). Aber auch für die Annahme einer Kannversorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das Bundessozialgericht spricht hier auch von der "guten Möglichkeit" eines Zusammenhangs (Bayerisches Landessozialgericht Urteil vom 19.11.2014 – L 15 VS 19/11 = juris unter Hinweis auf BSG, Urteil vom 12.12.1995 - 9 RV 17/94 = juris; BSG Urteil vom 07.07.2008 - B 9/9a VS 5/06 = juris). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (BSG, Urteil vom 10.11.1993, Az.: 9/9a RV 41/92).
31Soweit der ärztliche Dienst des Beklagten nun in seinen Stellungnahmen dargelegt aus welchen Gründen die Colitis ulcerosa unter Berücksichtigung der medizinischen Lehrmeinung nicht in kausalem Zusammenhang mit der Gewalttat und der hieraus resultierenden psychischen Situation des Klägers gesehen werden könne, ist dies im vorliegenden Fall - unabhängig von der Frage, wie die Ergebnisse der vom Sachver-ständigen Dr. N. zitierten Untersuchungen von Fuller-Thomson/West/Sulman/Baird (in Inflamm. Bowel Dis. 2015: 21, 2640-2648 "Childhood Matlreatment is associated with Ulcerative Colitis but not Crohn’s Disease: Findings from a Population-based Study") und Sansone/Sansone (in Innov Clin Neurosci. 2015:12, 34-37 "Irritable Bowel Syndrome: Relationships with abuse in childhood") zu bewerten sind – unbe-achtlich, ist diese Erkrankung bei Kläger doch bereits seit Langem als Schädigungs-folge anerkannt. Fraglich ist damit vorliegend nicht ob sondern in welchem Umfang diese Erkrankung bei der Ermittlung des GdS des Klägers zu berücksichtigen ist.
32Nun hat der Gutachter Dr. C. in seinem Gutachten vom 04.05.2015 neben der be-reits als Schädigungsfolge anerkannten Diagnosen der posttraumatischen Belas-tungsstörung (ICD 10 F 43.1 G) und der Colitis ulcerosa (ICD 10 K 51 G) eine kom-binierte Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, schizoiden, selbstunsicheren, impul-siven und emotional-instabilen Merkmalen (ICD 10 F 61 G) diagnostiziert. Soweit der ärztliche Berater des Beklagten Dr. C. in seiner Stellungnahme vom 15.06.2015 bemängelt, diese gestellten Diagnosen seien durch den Sachverständigen nicht hin-reichend begründet bzw. stünden im Widerspruch oder zumindest in einem Span-nungsverhältnis zur geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung in Bezug auf Traumafolgestörungen, kann die Kammer dies im Ergebnis nicht nachvollziehen. Es dürfte unbestritten sein, dass es sich bei dem Beschwerdebild des Klägers um ein komplexes Störungsbild handelt; jedenfalls sieht es die Kammer aufgrund der ent-sprechenden Feststellungen des Dr. M. in seiner auf Veranlassung des Beklagten eingeholten Stellungnahme im Verwaltungsverfahren ("äußerst komplexes Stö-rungsbild"), den Berichten des behandelnden Psychiaters Dr. L, dem Bericht aus dem B.-Krankenhaus vom 27.06.2014 sowie der Feststellungen des Gutachters Dr. C. als nachgewiesen an. Gerade in einem solchen Fall ist die Stellung einer ICD ko-dierten Diagnose nicht einfach und kann auch durchaus unterschiedlich sein, wie die beim Kläger im Laufe der Zeit von den verschiedensten Behandlern gestellte Diag-nosen zeigen. Die Codierung nach ICD 10 dient dabei nicht unwesentlich abrech-nungstechnischen Zwecken. Medizinisch-therapeutisch ist die Diagnose freilich kein Selbstzweck sondern dient einer möglichst krankheits- und symptombezogenen Therapie (vgl. zu Diagnose, Prognose und Therapie als methodologische Grundele-mente der Medizin, Jäger, Aktuelle psychiatrische Diagnostik, 2015, S 16 ff.).
33Dr. C. hat hier zunächst – und insoweit mag dies letztlich der Sachlage in der Be-zeichnung nur unzureichend gerecht werden – den Weg gewählt die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zu bestätigen und überdies – insbesondere unter Berücksichtigung der Ergebnisse des testpsychologischen Zusatzgutachtens - die einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden, schizoiden, selbstun-sicheren, impulsiven und emotional-instabilen Merkmalen zu stellen, um deutlich zu machen, dass das beim Kläger vorliegende Störungsbild über dasjenige einer post-traumatischen Belastungsstörung hinausgeht.
34Dass der Beklagte in diesem Zusammenhang bemängelt, die Kriterien einer post-traumatischen Belastungsstörung seien nur unzureichend geprüft bzw. durch den Gutachter nur unzureichend dargelegt worden, ist nach Auffassung der Kammer nicht nachvollziehbar.
35In der Tat geht der Gutachter weder ausdrücklich auf die nach ICD 10 noch die im "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (DSM IV) bzw. des aktuellen DSM V erforderlichen Voraussetzungen für die Annahme einer PTBS ausdrücklich ein. Hierzu bestand nach Auffassung der Kammer indes aufgrund der umfangreichen Stellungnahmen, Gutachten, ärztlichen Berichten und der Tatsache, dass eine Posttraumatische Belastungsstörung bereits seit der ersten Antragstellung als Schädigungsfolge vom Beklagten anerkannt ist, auch keine Veranlassung.
36Der Gutachter Dr. C. hat vielmehr – und dies nach Auffassung der Kammer über-zeugend – dargelegt, dass in der Zwischenzeit unter Berücksichtigung der Entwick-lung des Gesundheitszustands und der zahlreichen stationären und teilstationären Behandlungen, eine Verschlimmerung der gesundheitlichen Gesamtsituation einge-treten ist, welche letztlich durch die Diagnose der Posttraumatischen Belastungsstö-rung nur noch unzureichend beschrieben wird. Der Gutachter plädiert dafür, das beim Kläger bestehende chronifizierte Erkrankungsbild als "komplexe Posttraumati-sche Belastungsstörung" zu beschreiben, um damit dem objektivierten breiten Spektrum kognitiver, affektiver und psychosozialer Beeinträchtigungen – gerade im Hinblick auf die Entwicklung über Jahre bzw. Jahrzehnte – gerecht zu werden; et-was, dass die die Beschreibung der Akutsymptomatik einer PTBS in ICD-10 bzw. DSM-IV bzw. V nicht leiste. Beim Kläger konnte der Gutachter die für sog. "komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen" typischen Veränderungen in der Affektregulation und in der Impulsregulation mit einem inadäquaten Umgang mit Ärger, mit autodestruktivem Verhalten, Suizidalität, aber auch Störungen der Sexualität sowie exzessivem Risikoverhalten ebenso wie Veränderungen in Aufmerksamkeit und Bewusstsein, einhergehend mit zeitlich begrenzten dissoziativen Episoden oder Depersonalisationserleben feststellen. Auch darüber hinaus als chronische Folgen beschriebene Veränderungen der Selbstwahrnehmung und des Selbstwertgefühls, Veränderungen in den Beziehung zu anderen mit Unfähigkeit anderen zu vertrauen, ferner Somatisierung, insbesondere mit gastrointestinalen Symptomen (vorliegend die Colitis ulcerosa), chronischen Schmerzen, anderen Konversionssymptomen ließen sich beim Kläger finden.
37Der Gutachter räumt damit ein, dass es letztlich auch aus seiner Sicht fraglich er-scheint, eine Persönlichkeitsstörung als eigenständige Diagnose zu stellen (wie im ursprünglichen Gutachten geschehen). Letztlich handele es sich um eine "komplexe PTBS". Diese – und hierin sieht der Gutachter das Problem in der Benennung – ist im deutschen Sprachraum aber gerade noch nicht vollständig etabliert.
38Nach Auffassung der Kammer hat der Gutachter Dr. C. letztlich klar und nachvoll-ziehbar dargelegt, dass beim Kläger es im Laufe der Zeit zu einer psychischen Stö-rung gekommen ist, die sich durch ein mannigfaltiges Störungsbild bemerkbar macht. Vor diesem Hintergrund geht der Einwand des ärztlichen Beraters des Be-klagten fehl, der Gutachter habe – obwohl er die Frage nach weiteren Schädigungs-folgen als den anerkannten verneint habe – erstmalig eine kombinierte Persönlich-keitsstörung mit paranoiden, schizoiden, selbstunsicheren, impulsiven und emotio-nal-instabilen Merkmalen als Schädigungsfolge bewertet. Dies hat der Gutachter nach Auffassung der Kammer gerade nicht. Er hat – wie oben dargelegt – lediglich versucht, das beim Kläger vorliegende komplexe Störungsbild in die im deutschspra-chigen Raum derzeit geltende Fachnomenklatur zu bringen. Hierdurch ist bei der Kammer auch keinesfalls der Eindruck entstanden, die Diagnosevergabe bei psychi-schen Erkrankungen unterliege grundsätzlich einer enormen Willkür. Nach Auffas-sung der Kammer ist es aber durchaus so, dass gerade in Fällen komplexer Stö-rungsbilder die entsprechende Eindeutigkeit der Nomenklatur zwangsläufig an ihre Grenzen stößt.
39Für die Kammer steht – unter Berücksichtigung der vorliegenden medizinischen Un-terlagen, insbesondere unter Auswertung der Gutachten und Stellungnahmen des Dr. C., des PD Dr. L. sowie des Dr. N. unter Einbeziehung der Stellungnahmen des ärztlichen Dienstes des Beklagten und den vorliegenden Arzt- und Befundberichten der behandelnden Ärzte des Klägers fest, dass die beim Kläger vorliegenden psychi-schen Beeinträchtigungen allesamt auf die Gewalttat zurückzuführen sind.
40Die von Dr. T. in seinem im Auftrag des Beklagten erstellten Gutachten vorgenom-mene Differenzierung zwischen einer psychiatrischen Schädigungsfolge und psychi-atrischen Nichtschädigungsfolgen überzeugt nicht. Schon Dr. T. verwies darauf, dass aus seiner Sicht erhebliche Vermischungen und Überlagerungen vorlägen. Die Kammer geht – aus den vom Gutachter Dr. C. überzeugend dargelegten Gründen – davon aus, dass eine solche Trennung unzutreffend ist und ein einheitliches Krank-heitsbild und Kausalitätsgeschehen unzutreffend aufspaltet. Die Kammer schließt sich insoweit der Sichtweise des Gutachter Dr. C. an, wonach die psychischen Be-schwerden des Klägers, die seit 1983 berichtet werden, als ein Kontinuum aufzufas-sen sind. Die Tatsache, dass der Verlauf sich wechselnd gestaltete und auch Inter-valle mit weniger ausgeprägter oder zumindest weniger dokumentierter Symptomatik vorliegen, steht dazu in keiner Weise im Widerspruch, vielmehr ist ein solcher Verlauf für Patienten mit derartigen Störungen im zeitlichen Verlauf und je nach aktueller Befindlichkeit typisch. Bereits oben wurde darauf hingewiesen, dass dies – und insbesondere die verschiedensten im Laufe der Zeit gestellten Diagnosen - der deskriptiven Systematik des ICD-10 geschuldet ist. Exogene Faktoren, die als konkurrierende Ursache für die vom Gutachter Dr. C. nachvollziehbar beschriebene Verschlechterung des Zustands des Klägers in Betracht kommen könnten, konnten vom Gutachter nicht festgestellt werden. Soweit der Kläger selbst immer wieder auftretende eheliche Probleme beschreibt, so können diese als Folge der klinischen Symptomatik und nicht als deren Auslöser verstanden werden.
41Nach alledem steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die gesamte gesund-heitliche Situation – soweit die Psyche und die Darmerkrankung betroffen sind – als Schädigungsfolge zu berücksichtigen ist. Hierbei kann nach Auffassung der Kammer hinsichtlich der Psyche vor dem Hintergrund der beschriebenen Schwierigkeiten der psychiatrischen Systematisierung die bisherige Bezeichnung der Schädigungsfolge durchaus beibehalten werden.
42Diese gesundheitlichen Schädigungen rechtfertigen nach Auffassung der Kammer insgesamt den vom Kläger begehrten GdS von 70.
43Die beim Kläger vorliegende Schädigungsfolge der Colitis ulcerosa ist vom Beklagten seinerzeit mit einer MdE von 30 v.H. berücksichtigt worden. Soweit der gerichtlich bestellte Gutachter Dr. N. vorliegend hier von einer MdE von 50 auszugeht, ist dies unzutreffend. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die vom Gutachter Dr. N. vor-genommene Bewertung der GdS von 60 gemäß Teil B Ziffer 10.2.2 der Versor-gungsmedizinischen Grundsätze als zu hoch. Sie ist, dies steht zur Überzeugung der Kammer fest, letztlich mit dadurch begründet, dass der Gutachter von einem zu ho-hen Ausgangswert ausgeht. Für die Kammer steht auf Grund der vorliegenden inter-nistischen und gastroenterologischen Unterlagen sowie den Feststellungen des Gut-achters Dr. N. fest, dass der Kläger unter einer seit Jahrzehnten bestehenden Colitis ulcerosa leidet. Voraussetzung für die Annahme eines GdB von mindestens 50 sind schwere Auswirkungen der Erkrankung, welche sich u.a. in einer erheblichen Beein-trächtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes niederschlagen. Eine solche Be-einträchtigung ist beim Kläger nicht objektiviert. Bei der Untersuchung durch Dr. N. schilderte der Kläger, sein Gewicht sei konstant. Ermittelt wurde es mit 85 kg bei ei-ner Größe von 183 cm, was einem BDI von 25,38 – und damit nach der WHO dem Normgewicht an der Grenze zur Präadipositas – entspricht (vgl. http://apps.who.int/bmi/index.jsp?introPage=intro 3.html). Die Kammer geht auf Grundlage der durchgeführten Ermittlungen davon aus, dass bei dem Kläger eine chronische Colitis vorliegt, die – und hier sieht die Kammer durchaus Überschnei-dungen zum psychischen Bild – teilweise heftig floride sowie daneben auch unauffäl-ligere Phasen hat. Eine wesentliche Verschlimmerung der rein somatischen Be-schwerden zum Zeitpunkt der bereits 1999 festgestellten Schädigungsfolge Colitis ulcerosa sieht die Kammer nicht als objektiviert an. Die Verschlimmerung bezieht sich vielmehr auf das Gesamtbild der beim Kläger vorliegenden Beeinträchtigungen, die nach Auffassung der Kammer insbesondere durch die psychischen Beschwerden – zusammen mit einer psychosomatischen Komponente der Darmerkrankung – ge-prägt sind. Es ist insoweit weiterhin von einer GdS von 30 auszugehen, wobei die psychischen Besonderheiten (Fokussierung des Klägers auf dieses Leiden) im Rah-men der psychischen Bewertung mit berücksichtigt werden können.
44Insoweit liegen beim Kläger – dies steht zur Überzeugung der Kammer nach Auswer-tung der vorliegenden Gutachten und Befunde fest – beim Kläger gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsstörungen vor, welche für sich bereits einen Be-wertungsspielraum von 50 bis 70 eröffnen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts können zur Auslegung der Be-griffe "mittelgradige" und "schwere" soziale Anpassungsschwierigkeiten die vom ärztlichen Sachverständigenbeirat am Beispiel des "schizophrenen Residualzustan-des" entwickelten Abgrenzungskriterien herangezogen werden (vgl. BSG, Urteil vom 23. April 2009 - B 9 VG 1/08 R = juris Rn. 43. juris unter Bezugnahme auf die Be-schlüsse des ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 18./19. März 1998 und vom 8./9. November 2000; so unlängst auch LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 06.02.2013 - L 11 SB 245/10 = juris Rn. 45 ff; vgl. auch Wendler/Schillings, Versor-gungsmedizinische Grundsätze, Teil B Ziffer 3.7; Steffens, in: Nie-der/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S 86 ff.). Danach werden leichte soziale Anpassungsschwierigkeiten angenommen, wenn z. B. Berufstätigkeit trotz Kontaktschwäche und/oder Vitalitätseinbuße auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ohne wesentliche Beeinträchtigung möglich ist (we-sentliche Beeinträchtigung nur in besonderen Berufen, z. B. Lehrer, Manager) und keine wesentliche Beeinträchtigung der familiären Situation oder bei Freundschaften, d. h. keine krankheitsbedingten wesentlichen Eheprobleme bestehen. Mittelgradige soziale Anpassungsschwierigkeiten werden angenommen bei einer in den meisten Berufen sich auswirkenden psychischen Veränderung, die zwar eine weitere Tätig-keit grundsätzlich noch erlaubt, jedoch eine verminderte Einsatzfähigkeit bedingt, die auch eine berufliche Gefährdung einschließt; als weiteres Kriterium werden erhebli-che familiäre Probleme durch Kontaktverlust und affektive Nivellierung genannt, aber noch keine Isolierung, noch kein sozialer Rückzug in einem Umfang, der z. B. eine vorher intakte Ehe stark gefährden könnte. Schließlich liegen nach dieser Einstufung schwere soziale Anpassungsschwierigkeiten dann vor, wenn die weitere berufliche Tätigkeit sehr stark gefährdet oder ausgeschlossen ist; als weiteres Kriterium werden schwerwiegende Probleme in der Familie oder im Freundes- oder Bekanntenkreis bis zur Trennung von der Familie, vom Partner oder Bekanntenkreis benannt. Eine weitere Konkretisierung und Spezifizierung kann darüber hinaus anhand der Vorgaben des ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) aus dem Jahr 2005 erfolgen, welche die Alltagtauglichkeit ausdifferenzierter beschreiben, als dies durch die oben genannten Beschlüsse des Sachverständigenbeirats gewährleistet wird (vgl. hierzu auch Steffens, in: Nieder/Losch/Thomann, Behinderungen zutreffend einschätzen und begutachten, B 3, S 86 ff.). Der Kläger ist – dies steht zur Überzeugung der Kammer fest - in seinem Alltagleben infolge seiner seelischen Beeinträchtigung, die wie oben dargelegt insgesamt sich als Schädigungsfolge darstellen, erheblich eingeschränkt. Er berichtete gegenüber dem Gutachter Dr. C. zum Tagesablauf, dass er sehr unre-gelmäßig aufstehe, manchmal um acht Uhr, manchmal auch erst mittags um zwölf, vor allem wenn er nachts schlecht geschlafen habe. Er trinke nach dem Aufstehen Kaffee, frühstücke, ziehe sich an, meist gehe er dann spazieren, manchmal im Wald, manchmal im Park, das sei sehr unterschiedlich. Wenn er sich in der Lage fühle einzukaufen, koche er sehr gerne. Kochen sei sein Hobby. An manchen Tagen sei ihm das nicht möglich, dann bestelle er beispielsweise Pizza. Des Weiteren berichtete er über Zwangsgedanken, häufiges Zählen, sowie Zwangsgedanken die er als "Skills" bezeichnet, beispielsweise dahingehend, dass er bestimmte Wege in gleicher Weise auch zurücknehmen müsse. Treppen, wenn er sei erklommen habe, müsse er auch wieder herabgehen und könne dann nicht etwa den Aufzug be-nutzen. Er berichtet weiter über wiederkehrende suizidale Impulse, die er jedoch bis jetzt weitgehend habe kontrollieren können. In der Zeit zwischen 2006 und 2011 sei es – so der Kläger – zu "pathologischem Stehlen" gekommen. Er habe damit innere Anspannung herunter regulieren können. Er sei zu einer Bewährungsstrafe wegen verminderter Schuldfähigkeit verurteilt worden, seitdem habe er nicht nur die Aufla-gen erfüllt, sondern habe auch keine weiteren Delikte mehr begangen.
45Für die Kammer zeigt sich in den Äußerungen des Klägers – zusammen mit den in der Verwaltungsakte befindlichen Aussagen der Betreuer aus dem Bereich ambulan-tes Betreutes Wohnen und den Ausführungen des Gutachters Dr. C. – dass er allein nur sehr eingeschränkt in der Lage ist, eine geordnete Tagesstruktur zu gestalten und für sich selbst zu sorgen. Tätigkeiten im Haus oder sonstige Beschäftigungen sind nämlich stark abhängig von den klinischen Symptomen des Klägers. Dies gilt auch soweit der Kläger angibt sehr gerne zu wandern und Badminton zu spielen so-wie offensichtlich auch mit Interesse bestimmte Sendungen im Fernsehen (insbe-sondere Fußball) zu verfolgen. Der Kläger ist damit in wesentlichen Sozial- und All-tagskompetenzen erheblich eingeschränkt, was sich letztlich auch in der Unfähigkeit zur regelmäßigen Arbeit und zu nachvollziehbar geschilderten Problemen in der Ehe führt. In diesem Zusammenhang sind insbesondere auch die zahlreichen teilstationären und stationären Aufenthalte des Klägers insbesondere im B.-Krankenhaus zu berücksichtigen.
46Diese Einschätzung ist für die Kammer auf der Grundlage des Gutachtens des Dr. C. einschließlich der ergänzenden Stellungnahme vom 02.09.2015 sowie der Ergebnisse der neuropsychologischen Zusatzbegutachtung durch PD Dr. L. gesichert.
47Nach Auffassung der Kammer sind – wie bereits oben angedeutet – in diesem Zu-sammenhang auch die vom Gutachter Dr. C. und zudem den behandelnden Ärzten im B.-krankenhaus beschriebene psychischem Aspekte der Colitis ulcerosa im Sinne der gedanklichen Fokussierung des Klägers auf diesen Bereich zu berücksichtigen. Insgesamt erscheint der Kammer vorliegend für den Bereich der Psyche beim Kläger ein GdS von 60 zutreffend. Soweit der Gutachter Dr. C. in seinem Gutachten keine separaten GdS für die einzelnen Schädigungsfolgen auswirft, wird dies auch nach Auffassung der Kammer durch den Beklagten zu Recht gerügt. Etwaige Verstärkungen oder Überschneidungen sind vielmehr in der Bildung des Gesamt-GdS zu berücksichtigen, vgl. Teil A Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Dies mag, in Fällen wie dem vorliegenden schwierig sein, ist aber zu leisten. Soweit der Gutachter Dr. C. in seiner zweiten Stellungnahme vom 12.02.2016 den GdS für die Psyche mit 40 und den GdS für das Funktionssystem Verdauungsorgane bewertet, kann sich die Kammer dieser Einschätzung nicht anschließen. Es steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass eine entsprechende Wertung die Wertigkeit der Funktionsbeinträchtigungen unzutreffend beschreibt. Wie oben dargelegt erscheint der GdS von 60 für die Colitis ulcerosa beim Kläger als er-heblich zu hoch. Der GdS für die Psyche ist demgegenüber mit 40 unterbewertet. Insoweit ist von mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten auszugehen, die zur Überzeugung der Kammer auch nicht nur so eben, sondern voll erreicht sind. Hierbei ist, auch dies wurde bereits dargelegt, auch der psychische Leidensdruck des Klägers im Hinblick auf die Darmerkrankung sowie deren – jedenfalls vom Klä-ger subjektiv empfundene – Entstehung zu berücksichtigen. Hier ist ein GdS von 60 zu treffend.
48Hieraus ist ein Gesamt-GdS von 70 zu bilden. Nach Teil A Ziffer 3 lit c) der Versorgungsmedizinschen Grundsätze ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdS in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdS bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigung dem ersten GdS 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Nach den Feststellungen des Gutachters Dr. C. (mit Ausnahme der Darle-gungen in der zweiten ergänzenden Stellungnahme, die von der Kammer letztlich nicht nachvollzogen werden können) stehen beim Kläger die psychischen Beein-trächtigungen absolut im Vordergrund, wobei in diesem Zusammenhang erneut da-rauf hinzuweisen ist, dass hierbei auch die erheblich stärkere psychische Reaktion des Klägers auf die Darmerkrankung mitberücksichtigt wird. Diese bedingt einen GdS von 60, der durch die somatischen Beschwerden im Sinne der Colitis ulcerosa (Einzel-GdS 30) auf 70 zu erhöhen ist. Eine weitere Erhöhung des GdS kommt vor-liegend nicht in Betracht. Eine Vergleichbarkeit mit Personen bei denen schwere so-ziale Anpassungsschwierigkeiten vorliegen, ist beim Kläger derzeit nicht gegeben. Hierin sieht sich die Kammer letztlich auch durch die sozialmedizinische Einschät-zung der Gutachter Dr. C. und Dr. N. bestätigt.
49Die übrigen beim Kläger festgestellten Gesundheitsstörungen stellen demgegenüber keine kausal auf die Gewalttat zurückzuführenden Schädigungsfolgen dar. Sie sind bei der Bildung des GdS nicht weiter zu berücksichtigen.
50Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183,193 SGG.
ra.de-Urteilsbesprechung zu Sozialgericht Aachen Urteil, 11. Okt. 2016 - S 12 VG 20/14
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(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch
- a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung, - b)
eine Kriegsgefangenschaft, - c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, - d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, - e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen, - f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.
(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch
- a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung, - b)
eine Kriegsgefangenschaft, - c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, - d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, - e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen, - f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.
(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.
(1) Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Die Anwendung dieser Vorschrift wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Angreifer in der irrtümlichen Annahme von Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrunds gehandelt hat.
(2) Einem tätlichen Angriff im Sinne des Absatzes 1 stehen gleich
- 1.
die vorsätzliche Beibringung von Gift, - 2.
die wenigstens fahrlässige Herbeiführung einer Gefahr für Leib und Leben eines anderen durch ein mit gemeingefährlichen Mitteln begangenes Verbrechen.
(3) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 Buchstabe e oder f des Bundesversorgungsgesetzes herbeigeführt worden sind; Buchstabe e gilt auch für einen Unfall, den der Geschädigte bei der unverzüglichen Erstattung der Strafanzeige erleidet.
(4) Ausländerinnen und Ausländer haben dieselben Ansprüche wie Deutsche.
(5) Die Hinterbliebenen eines Geschädigten erhalten auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.
(6) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die ein Berechtigter oder Leistungsempfänger nach Absatz 1 oder 5 in Verbindung mit § 10 Abs. 4 oder 5 des Bundesversorgungsgesetzes, eine Pflegeperson oder eine Begleitperson bei einer notwendigen Begleitung des Geschädigten durch einen Unfall unter den Voraussetzungen des § 8a des Bundesversorgungsgesetzes erleidet.
(7) Einer gesundheitlichen Schädigung im Sinne des Absatzes 1 steht die Beschädigung eines am Körper getragenen Hilfsmittels, einer Brille, von Kontaktlinsen oder von Zahnersatz gleich.
(8) Wird ein tätlicher Angriff im Sinne des Absatzes 1 durch den Gebrauch eines Kraftfahrzeugs oder eines Anhängers verübt, werden Leistungen nach diesem Gesetz erbracht.
(9) § 1 Abs. 3, die §§ 64 bis 64d, 64f sowie 89 des Bundesversorgungsgesetzes sind mit der Maßgabe anzuwenden, daß an die Stelle der Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Zustimmung der für die Kriegsopferversorgung zuständigen obersten Landesbehörde tritt, sofern ein Land Kostenträger ist (§ 4). Dabei sind die für deutsche Staatsangehörige geltenden Vorschriften auch für von diesem Gesetz erfaßte Ausländer anzuwenden.
(10) § 20 des Bundesversorgungsgesetzes ist mit den Maßgaben anzuwenden, daß an die Stelle der in Absatz 1 Satz 3 genannten Zahl die Zahl der rentenberechtigten Beschädigten und Hinterbliebenen nach diesem Gesetz im Vergleich zur Zahl des Vorjahres tritt, daß in Absatz 1 Satz 4 an die Stelle der dort genannten Ausgaben der Krankenkassen je Mitglied und Rentner einschließlich Familienangehörige die bundesweiten Ausgaben je Mitglied treten, daß Absatz 2 Satz 1 für die oberste Landesbehörde, die für die Kriegsopferversorgung zuständig ist, oder die von ihr bestimmte Stelle gilt und daß in Absatz 3 an die Stelle der in Satz 1 genannten Zahl die Zahl 1,3 tritt und die Sätze 2 bis 4 nicht gelten.
(11) Im Rahmen der Heilbehandlung sind auch heilpädagogische Behandlung, heilgymnastische und bewegungstherapeutische Übungen zu gewähren, wenn diese bei der Heilbehandlung notwendig sind.
(1) Wer durch eine militärische oder militärähnliche Dienstverrichtung oder durch einen Unfall während der Ausübung des militärischen oder militärähnlichen Dienstes oder durch die diesem Dienst eigentümlichen Verhältnisse eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung.
(2) Einer Schädigung im Sinne des Absatzes 1 stehen Schädigungen gleich, die herbeigeführt worden sind durch
- a)
eine unmittelbare Kriegseinwirkung, - b)
eine Kriegsgefangenschaft, - c)
eine Internierung im Ausland oder in den nicht unter deutscher Verwaltung stehenden deutschen Gebieten wegen deutscher Staatsangehörigkeit oder deutscher Volkszugehörigkeit, - d)
eine mit militärischem oder militärähnlichem Dienst oder mit den allgemeinen Auflösungserscheinungen zusammenhängende Straf- oder Zwangsmaßnahme, wenn sie den Umständen nach als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, - e)
einen Unfall, den der Beschädigte auf einem Hin- oder Rückweg erleidet, der notwendig ist, um eine Maßnahme der Heilbehandlung, eine Badekur, Versehrtenleibesübungen als Gruppenbehandlung oder Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach § 26 durchzuführen oder um auf Verlangen eines zuständigen Leistungsträgers oder eines Gerichts wegen der Schädigung persönlich zu erscheinen, - f)
einen Unfall, den der Beschädigte bei der Durchführung einer der unter Buchstabe e aufgeführten Maßnahmen erleidet.
(3) Zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung genügt die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs. Wenn die zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung erforderliche Wahrscheinlichkeit nur deshalb nicht gegeben ist, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht, kann mit Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales die Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung anerkannt werden; die Zustimmung kann allgemein erteilt werden.
(4) Eine vom Beschädigten absichtlich herbeigeführte Schädigung gilt nicht als Schädigung im Sinne dieses Gesetzes.
(5) Ist der Beschädigte an den Folgen der Schädigung gestorben, so erhalten seine Hinterbliebenen auf Antrag Versorgung. Absatz 3 gilt entsprechend.
Tenor
I.
Der Gerichtsbescheid vom
II.
Die Beklagte wird verurteilt, das Nierenkarzinom und den aus der operativen Behandlung resultierenden Verlust der linken Niere, der Milz und eines Dickdarmteils infolge eines Nierenkarzinoms sowie das Schilddrüsenadenom und die Schilddrüsenüberfunktion als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen.
III.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind die nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) festzustellenden Schädigungsfolgen.
Der im Jahr 1951 geborene Kläger war bis zum März 2004 Berufssoldat bei der Bundeswehr.
Von 1971 bis 1987 arbeitete der Kläger zunächst als Radarmechaniker, zuletzt als Radarmechanikermeister am Flugzeug F-104 G (sog. Starfighter), das mit dem Vorwärtssichtradar NASARR ausgestattet war. Mit WDB-Blatt vom 05.11.2002 machte er eine Struma Grad II bis III und ein Nierenzellkarzinom als Schädigungsfolgen geltend. Die Erkrankungen waren im Jahr 1988 (teilweise Entfernung der Schilddrüse bei Adenom) bzw. 1995 operativ behandelt worden. Im Zusammenhang mit der Nephrektomie im November 1995 kam es zu einer im Januar 1996 diagnostizierten Darmperforation und zum Verlust der Milz.
Der Beklagte zog den Teilbericht NASARR der Arbeitsgruppe Aufklärung der Arbeitsplatzverhältnisse Radar vom
Die Wehrbereichsverwaltung - öffentlichrechtliche Aufsicht für Arbeitssicherheit und technischen Umweltschutz - Bereich Bayern - äußerte sich mit Schreiben vom
Die Emission der Röntgenstörstrahlung am Vorwärtssichtradar NASARR erfolge an der Mikrowellenauskopplung des Magnetrons in senkrechter Richtung nach oben in einem räumlich eng begrenzten Strahlenbündel, was durch Röntgenfilmbelichtungen festgestellt worden sei. Wegen der gleichen Anbauweise des NASARR in Radartestbänke finde sich diese nach oben gerichtete Abstrahlcharakteristik auch dort. Zusätzlich zu der Röntgenstörstrahlung habe noch eine Exposition gegenüber ionisierender Strahlung durch radioaktive Leuchtfarbe im Cockpit bestanden. Bei der Berechnung der Ersatzdosis sei unter Zuhilfenahme des Teilbereichs der Arbeitsgruppe strikt nach Aktenlage vorgegangen worden, da infolge der vorgegebenen Bearbeitungszeit ein Befragen des Betroffenen nicht möglich gewesen sei. Damit ergebe sich eine effektive Gesamtdosis für alle Berufsjahre (01.04.1971 bis 31.03.1987) von 5,9 mSv. Der Grenzwert für die allgemeine Bevölkerung sei damit nicht überschritten. Für nichtionisierende Strahlung lägen bislang keine wissenschaftlich allgemein anerkannten Erkenntnisse darüber vor, dass sie Krebserkrankungen auslösen könnten.
Das Institut für Wehrmedizinalstatistik und Berichtswesen der Bundeswehr führte in seiner versorgungsmedizinischen Stellungnahme vom
Mit Bescheid vom
Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom
Am
In einem ersten Entwurf des Beschwerdebescheids vom November 2003 wurde eine Anerkennung von Schädigungsfolgen entsprechend der versorgungsärztlichen Stellungnahme des Dr. J.
Dazu befragt, ob bei einer Körpergröße des Klägers von 1,85 m und einer unterstellten Bestrahlung des Oberkörpers auch eine Bestrahlung des Beckenbereichs damit auch der Nieren in Betracht komme, hat die Strahlenmessstelle Nord der Bundeswehr, Arbeitsgruppe Aufklärung der Arbeitsplatzverhältnisse Radar (Dr. S.), mit Schreiben vom 04.09.2006 in einem Satz mitgeteilt, dass Einbauort der Störstrahler und Austrittsrichtung der Röntgenstörstrahlung am NASARR so seien, dass auch für einen körperlich größeren Techniker der Bereich des Beckens nicht gegenüber Röntgenstörstrahlung exponiert werden könne.
Mit Beschwerdebescheid vom
Dagegen hat der Kläger am 09.04.2008 Klage zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben. Die Klage ist wie folgt begründet worden: Im Rahmen seiner wehrdienstlichen Tätigkeit sei der Kläger einer ionisierenden Strahlung ausgesetzt gewesen, die als Röntgenstörstrahlung und/oder radioaktive Strahlung durch Leuchtfarben auftreten könne. Im vorliegenden Fall sei sowohl eine Röntgenstörstrahlung als auch eine radioaktive Strahlung aus Leuchtfarben zu berücksichtigen. Daneben sei der Kläger auch nichtionisierender Strahlung ausgesetzt gewesen. Die Bevollmächtigten haben auf den Bericht der Radarkommission vom 02.07.2003 hingewiesen. Die Beklagte könne gerade nicht nachweisen, dass nur Teilkörperexpositionen aufgetreten seien, die das erkrankte Organ nicht betroffen hätten. Damit sei eine Anerkennung als Wehrdienstbeschädigung auszusprechen. Die Radarkommission habe in ihrem Bericht vom 02.07.2003 gerade nicht bestätigt, dass vom NASARR ausschließlich an einer eng begrenzten Stelle Röntgenstörstrahlung ausgetreten sei. Die Beklagte habe vielmehr Messungen durchgeführt und dabei festgestellt, dass sich aufgrund der Vielzahl der Arbeiten, die am NASARR zu verrichten gewesen seien, gerade nicht ausschließen lasse, dass sich ein bestimmter Körperteil in der Röntgenstörstrahlung bewege. Dieses ergebe sich aus Messungen des Herrn G., der lange selbst am NASARR gearbeitet habe. Eine qualifizierende Erkrankung liege vor. Der Bericht der Radarkommission sei ein antizipiertes Sachverständigengutachten, welches bei Vorliegen der Kriterien für die Anerkennung einer Wehrdienstbeschädigung eine Verpflichtung der Beklagten begründe, die Erkrankung des Klägers als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen. Einzige Öffnungsklausel für die Beklagte sei, wenn die Beklagte nachweise, dass nur Teilkörperexpositionen auftreten könnten, die das erkrankte Organ nicht betreffen würden. Die Beklagte habe somit einen Entlastungsbeweis zu führen. Genau dieser Entlastungsbeweis sei der Beklagten nicht gelungen. Der Zusammenhang zwischen ionisierender Strahlung und der Krankheit des Klägers sei medizinisch anerkannt. Es sei eine WDB-Anerkennung zumindest im Sinn einer Kannversorgung auszusprechen.
Im Schreiben vom
Mit Beschluss vom 28.11.2008
Die Bevollmächtigten des Klägers haben mit Schreiben vom
Dr. S., seien falsch. Die Radarkommission habe auf Basis dieser Angaben den Bericht verfasst. Die Beklagte habe zwischenzeitlich Messungen mit Hilfe von Herrn G. durchführen lassen. Diese Messungen seien erst im Jahr 2008 durchgeführt worden und hätten ergeben, dass sich aufgrund der Vielzahl der Arbeiten, die am NASARR zu verrichten gewesen seien, gerade nicht ausschließen lasse, dass sich ein bestimmter Körperteil in der Röntgenstörstrahlung bewege.
Die Beklagte hat mit Schreiben vom
Mit Schreiben vom
Die Beklagte hat mit Schreiben vom
Am
Beim Kläger sei im Oktober 1988 die Operation einer vergrößerten Schilddrüse durchgeführt worden; dabei habe sich ein sogenannter ausgebrannter kalter Knoten gefunden. Am
Zur Exposition gegenüber Röntgenstörstrahlung hat der Sachverständige Folgendes erläutert: Die Schwerpunktgruppe Radar habe am
Auch der Schilddrüsenbefund des Klägers sei der früheren Exposition gegenüber Röntgenstörstrahlung zuzuordnen. Es gebe eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die als Folge der Exposition gegenüber ionisierenden Strahlen das Auftreten von gutartigen Schilddrüsentumoren (sog. Adenome) gefunden hätten. Auf entsprechende Untersuchungen hat der Sachverständige hingewiesen. Da der Hals des Klägers zweifelsfrei der Röntgenstörstrahlung ausgesetzt gewesen sei, sei auch die Schilddrüsenerkrankung der Exposition zuzuordnen. Möglichen Einwänden, dass die Radarkommission sich nicht zu gutartigen Tumoren als Folge der Exposition gegenüber ionisierenden Strahlungen geäußert hätte, sei entgegen zu halten, dass sich die Radarkommission wegen des extremen Zeitdrucks vor allem den Krebserkrankungen gewidmet habe.
Als Schädigungsfolgen seien anzuerkennen: Nierenzellkarzinom, postoperative schwere Infektion der Bauchhöhle, Entfernung großer Teile des Dickdarms und der Milz, Schilddrüsenüberfunktion, heißer Knoten der Schilddrüse.
Die Beklagte hat sich zu diesem Gutachten mit einer (nichtärztlichen) Stellungnahme vom
Einer weiteren (nichtärztlichen) Stellungnahme des Dr. S.
Ein heißer Knoten wurde - so auf Nachfrage des SG das Bundeswehrkrankenhaus U. - bei einer Untersuchung im Jahr 2011 nicht dokumentiert.
Mit Gerichtsbescheid vom
Dagegen haben die Bevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom
Zu den Arbeitsbedingungen am Luftfahrzeug haben sich die Bevollmächtigten des Klägers auf Nachfrage des Gerichts mit Schreiben vom
Die Beklagte hat sich trotz wiederholter gerichtlicher Erinnerung, unter anderem unmittelbar an den Präsidenten des Bundesamts für das Personalmanagement der Bundeswehr, zum klägerischen Schreiben vom 15.11.2011 erst nach über zwei Jahren mit Schreiben vom 13.03.2014 geäußert. Grund für die erhebliche Verzögerung dürfte nach dem Vortrag der Beklagten gewesen sein, dass die für die Bearbeitung derartiger Fälle gebildete „Schwerpunktgruppe Radar“ offenbar nur mit einem einzigen Fachmann besetzt gewesen war, wobei dieser von der Bundeswehrverwaltung zudem zwischenzeitlich mit einer Projektgruppe zu Organisationsfragen beauftragt worden war (Schreiben der Beklagten vom 20.01.2014).
Im Schreiben vom
Die Bevollmächtigten des Klägers haben sich dazu mit Schreiben vom
Mit gerichtlichem Schreiben vom
Mit Schreiben vom
Der Kläger beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg
Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat die Akten der Beklagten, des Beigeladenen und des SG Augsburg beigezogen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Berufungsakte und der beigezogenen Akten Bezug genommen.
Gründe
Der Senat hat gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden können, da die Beteiligten - die Beklagte (ungefragt) mit Schreiben vom 21.07.2014, der Kläger mit Schreiben vom 29.07.2014, der Beigeladene mit Schreiben vom 01.08.2014 - dazu ihr Einverständnis erklärt haben.
Die Berufung ist zulässig und auch begründet.
Der Gerichtsbescheid des SG Augsburg, mit dem die Entscheidung der Beklagten, die Anerkennung von Schädigungsfolgen abzulehnen, bestätigt worden ist, ist ebenso wie der angegriffene Bescheid aufzuheben. Beim Kläger sind der Verlust der linken Niere, der Milz und eines Dickdarmteils nach Nierenkarzinom sowie der Schilddrüsenteilverlust durch operative Entfernung aufgrund einer Schilddrüsenerkrankung im Sinne eines Adenoms und die Schilddrüsenüberfunktion als Folgen einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen.
Bei seiner Entscheidung stützt sich der Senat auf das vom SG eingeholte Gutachten des Prof. Dr. G. vom 09.06.2011, der, was das Nierenkarzinom angeht, zu der selben Einschätzung gekommen ist wie der Versorgungsarzt der Beklagten Dr. J. in seiner Stellungnahme vom 18.09.2003. Das Gutachten ist für den Senat überzeugend; er macht es sich zu eigen. Die sachverständige und die versorgungsärztliche Einschätzung zur Nierenerkrankung stehen auch in Einklang mit den Vorgaben des Berichts der Radarkommission. Auch was die Schilddrüsenerkrankung angeht, schließt sich der Senat der überzeugend begründeten Einschätzung des Prof. Dr. G. an.
Der Sachverständige Prof. Dr. G. hat nachvollziehbar erläutert, dass das Nierenzellkarzinom hinreichend wahrscheinlich auf die Strahlenexposition des Klägers als Radarmechaniker/-meister zurückzuführen ist und die Schilddrüsenerkrankung (Adenom) zumindest im Sinn einer Kannversorgung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen ist. Die sich aus der Behandlung dieser Erkrankungen ergebenden weiteren Gesundheitsschäden stellen mittelbare Folgen der Wehrdienstbeschädigung dar.
Wenn sich die Beklagte diesen sachverständigen bzw. versorgungsärztlichen Erkenntnissen verschließt und dies damit begründet, dass die berufliche Belastung des Klägers mit radioaktiver Strahlung nicht dazu geeignet sei, die vorliegenden Erkrankungen zu verursachen, kann dies nicht überzeugen.
1. Voraussetzungen für die Anerkennung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung - Allgemeines
Eine Wehrdienstbeschädigung ist gemäß § 81 Abs. 1 SVG eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist.
Entsprechend den vorgenannten Bestimmungen setzt die Anerkennung von Schädigungsfolgen eine dreigliedrige Kausalkette voraus (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 25.03.2004, Az.: B 9 VS 1/02 R): Ein mit dem Wehrdienst zusammenhängender schädigender Vorgang (1. Glied) muss zu einer primären Schädigung (= „Wehrdienstbeschädigung“) (2. Glied) geführt haben, die wiederum die geltend gemachten Schädigungsfolgen (= „Folge einer Wehrdienstbeschädigung“) (3. Glied) bedingt. Dabei ist eine trennscharfe Differenzierung zwischen dem 2. und dem 3. Glied oftmals praktisch nicht möglich und daher verzichtbar; auch im wesensverwandten Rechtsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung wird dies so praktiziert.
Die zwei bzw. drei Glieder der Kausalkette müssen im Vollbeweis, d. h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R). Dies bedeutet, dass kein vernünftiger Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, Az.: B 9 VG 3/99 R). Demgegenüber reicht es für den zweifachen ursächlichen Zusammenhang der drei Glieder aus, wenn dieser jeweils mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gegeben ist. Die Beweisanforderung der hinreichenden Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, Az.: B 9 VS 2/98 R - in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, vgl. z. B. BSG, Urteil vom 24.09.1992, Az.: 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität (§ 81 Abs. 6 Satz 1 SVG). Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.
Eine potentielle Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, Az.: 10 RV 15/77). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als hinreichende Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei das Wort „hinreichend“ nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/ders./Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße - abstrakte oder konkrete - Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteil vom 26.11.1968, Az.: 9 RV 610/66). Haben mehrere Ursachen zu einem Schaden beigetragen, ist eine vom Schutzbereich des SVG umfasste Ursache dann rechtlich wesentlich, wenn nicht die andere(n), nicht dem Schutzbereich des SVG unterfallende(n) Ursache(n) eine überragende Bedeutung hat (haben) (vgl. Urteil des Senats vom 19.07.2011, Az.: L 15 VS 7/10 - m. w. N. zur Rechtsprechung des BSG) und die vom Schutzbereich des SVG umfasste Ursache nicht völlig in den Hintergrund drängt (drängen) (vgl. Urteil des Senats vom 02.07.2013, Az.: L 15 VS 9/10).
Für unfallunabhängige Gesundheitsstörungen, in denen wesensmäßig die Nachweisführung eines Zusammenhangs aufgrund eines konkreten Anlassereignisses erheblich erschwert ist, bestimmt sich der versorgungsrechtlich geschützte Bereich nach dem SVG nach der ständigen Rechtsprechung des BSG nach dem Vorbild des Berufskrankheitenrechts der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 25/92). Dieses unterliegt dem Listenprinzip mit der Öffnungsklausel des § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII), wobei hierdurch nur ein Vorgriff auf eine Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) möglich ist (ständige Rspr., vgl. z. B. BSG, Urteil vom 18.06.2013, Az.: B 2 U 3/12 R).
Bei der Beurteilung unfallunabhängiger Gesundheitsstörungen von Soldaten ist aber zu berücksichtigen, dass die Belastungen im Wehrdienst nicht selten solche sind, die in zivilen Berufen nicht auftreten. Daher wäre es zu kurz gegriffen, sich uneingeschränkt an den unfallversicherungsrechtlichen Vorgaben und Erkenntnissen zu Berufskrankheiten oder berufskrankheitenreifen Erkrankungen zu orientieren. Vielmehr ist der Rechtsgedanke des § 9 Abs. 2 SGB VII dahingehend aufzugreifen, dass von einer „Berufskrankheitenreife“ im soldatenversorgungsrechtlichen Sinn auch dann auszugehen ist, wenn die Krankheit zwar nicht in der Liste der BKV aufgenommen ist, der Dienstherr (= Bundeswehr) aber wegen einer erkannten Gefährdung der Soldaten handeln müsste, wenn es eine explizite Regelung wie die BKV auch für soldatenspezifische Erkrankungen gäbe. Davon ist dann auszugehen, wenn eine Situation gegeben ist, in der bekannt geworden ist, dass bestimmte Einwirkungen, denen Soldaten im Dienst in höherem Grad als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind, zur Entwicklung bestimmter Krankheiten beitragen können, für die medizinstatistisch nachgewiesen ist, dass die Zahl der Erkrankungen von Soldaten signifikant höher als in der Allgemeinbevölkerung ist (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, Az.: 9/9a RV 25/92). Wenn das BSG dies im
Zu berücksichtigen als weitere Abweichung vom Recht der gesetzlichen Unfallversicherung ist zudem, dass im Versorgungsrecht der rechtlich wesentliche Kausalzusammenhang zwischen einer Gesundheitsstörung und einem dienstlichen Unfall oder wehrdiensteigentümlichen Belastungen nicht nur mit der hinreichenden Wahrscheinlichkeit hergestellt werden kann, sondern auch die Möglichkeit einer Kannversorgung gemäß § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG besteht. Es handelt sich dabei um Fälle, bei denen die erforderliche Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs nur deshalb nicht hergestellt werden kann, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht. Von Ungewissheit ist auszugehen, wenn es keine einheitliche Lehrmeinung, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, Az.: B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile
Zusammengefasst bedeutet dies, dass ein unfallunabhängiger Gesundheitsschaden unter folgenden Gesichtspunkten als Folge einer Wehrdienstbeschädigung anerkannt werden kann:
- Alternative 1: Die Gesundheitsstörung ist in der BKV als Berufskrankheit anerkannt.
- Alternative 2: Wenn die vorgenannte Bedingung nicht erfüllt ist: Es besteht eine sogenannte Berufskrankheitenreife im Sinn des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung.
- Alternative 3: Wenn die vorgenannte Bedingung nicht erfüllt ist: Es besteht eine Berufskrankheitenreife im oben aufgezeigten soldatenversorgungsrechtlichen Sinn.
- Alternative 4: Wenn die vorgenannte Bedingung nicht erfüllt ist: Es besteht über die Ursache des Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit, es gibt aber wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung, die die Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs positiv vertritt.
2. Zu den hier im Raum stehenden Erkrankungen:
2.1. Nierenzellkarzinom mit Folgeerkrankungen
Das durchgemachte Nierenzellkarzinom mit den sich daraus ergebenden Folgeschäden (Verlust der linken Niere, Verlust der Milz und eines Teils des Dickdarms) ist als Folge einer Wehrdienstbeschädigung im Sinn der o. g. Alternative 1 anzuerkennen.
2.1.1. Potentiell schädigender Vorgang
Der Kläger war im Rahmen seines Wehrdienstes ionisierender Strahlung (Röntgenstörstrahlung) in einem Umfang ausgesetzt, der potentiell kanzerogene Wirkung hat.
Der Kläger arbeitete von 1971 bis 1987 zunächst als Radarmechaniker, dann als Radarmechanikermeister am Flugzeug F-104 G, das mit dem Vorwärtssichtradar NASARR ausgestattet war.
Bei dieser Tätigkeit war der Kläger in so erheblichem Umfang ionisierender Strahlung ausgesetzt, dass eine für die Verursachung einer Krebserkrankung als ausreichend anzusehende Strahlenbelastung im Sinn der Berufskrankheit Nr. 2402 der Anlage 1 zur BKV vorgelegen hat. Dies ergibt sich zweifelsfrei aus den Ausführungen des Berichts der vom Bundesministerium der Verteidigung auf Ersuchen des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags einberufenen Expertenkommission zur Frage der Gefährdung durch Strahlung in früheren Radareinrichtungen der Bundeswehr und der NVA (Radarkommission) vom 02.07.2003. Die strahlenbelastende Tätigkeit des Klägers fällt im Umfang von fast vier Jahren in den von der Radarkommission als Phase I (bis Ende 1975) bezeichneten Zeitraum, in dem „eine belastbare Dosisrekonstruktion aufgrund von Messdaten praktisch unmöglich ist“ (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 23) und in der auch weitgehend keine Strahlenschutzmaßnahmen getroffen worden sind. Daran hat sich (ab 1976) eine Zeit angeschlossen, „in der die Zahl der Messungen deutlich anstieg und in der erste Strahlenschutzmaßnahmen durchgeführt wurden“ (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 23), so dass ab dieser Zeit eine prinzipielle Dosisabschätzung möglich ist, sofern eine ausreichende Zahl von Messungen vorliegt, was aber vorliegend, d. h. betreffend das NASARR, nicht der Fall zu sein scheint, wenn die Angaben der Beklagten zugrunde gelegt werden, wonach nur eine einzige Messung durchgeführt worden sein soll. Dabei hat die Radarkommission aber auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass in dieser zweiten Phase nach wie vor alte Systeme, d. h. ohne Strahlenschutz, weiter eingesetzt worden sind und dieser Zustand teilweise weit bis in die 80er Jahre hinein angehalten hat, was insbesondere auch für das NASARR gilt, an dem der Kläger eingesetzt war (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 23). So gibt es offenbar nur ein einziges Messprotokoll zum NASARR aus dem Jahr 1974 (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 22). Die Radarkommission hat zudem darauf hingewiesen, dass gerade dann, wenn nur wenige Messwerte vorliegen, „eine Unterschätzung nicht auszuschließen ist“ (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 24).
Ausgehend von diesen Ausführungen im Bericht der Radarkommission, der als antizipiertes Sachverständigengutachten betrachtet werden kann (vgl. BSG, Beschluss vom 02.10.2008, Az.: B 9 VS 3/08 B - m. w. N.) ist eine potentiell schädigende Strahlenbelastung im Vollbeweis nachgewiesen.
Dies hat letztlich auch die Beklagte zugestanden, wenn sie ab der Überprüfung nach Vorlage des Berichts der Radarkommission im Rahmen des Beschwerdeverfahrens ihre Ablehnung nicht mehr auf eine angeblich nicht ausreichende Strahlenbelastung gestützt hat, wie sie dies noch im Verwaltungsverfahren getan hat. Der Senat sieht daher auch keinen Anlass, sich mit der völlig unplausiblen Berechnung der Beklagten im Verwaltungsverfahren auseinanderzusetzen, in dem diese eine effektive Gesamtdosis von 5,9 mSv „berechnet“ hat und zu der Einschätzung gekommen ist, dass die Strahlenbelastung des Klägers nicht den für die allgemeine Bevölkerung geltenden Grenzwert übersteige. Denn für diese pseudogenaue Berechnung fehlen, wie dies der Bericht der Radarkommission überdeutlich klar gemacht hat, jegliche zuverlässigen Messwerte. Die von der Beklagten zulasten des Klägers eingebrachte Messung steht in eklatantem Widerspruch zu den Ausführungen der Radarkommission.
Keiner weiteren Erörterung bedarf die Frage weiterer potentieller Strahlenbelastungen des Klägers durch radioaktive Leuchtfarben oder die Verwendung von Oszilloskopen, die ebenfalls Röntgenstörstrahlung aussenden. Denn diese weiteren Belastungsfaktoren sind angesichts der durch die Arbeit am
NASARR nachgewiesenen Belastung durch Röntgenstörstrahlung nicht mehr entscheidungserheblich. Der Senat braucht sich daher auch nicht damit zu befassen, ob die Beklagte ordnungsgemäß ihrer Mitwirkungspflicht durch die Vorlage nur ihr bekannter Daten und Messwerte nachgekommen ist, was vom Kläger nicht unfundiert in Zweifel gezogen worden ist und auch angesichts des Prozessverhaltens der Beklagten (z. B. Vorlage der teilweise geschwärzten Stellungnahme vom 09.06.2009, Verschweigen von Messdaten, die sich aus dem in den Beklagtenakten enthaltenen Messprotokoll ergeben - Strahlung des Magnetrons auch zur Seite) fraglich erscheint, oder ob die Beklagte gezielt und ausgewählt nur solche Fakten dem Gericht angegeben hat, die sie dem Begehren des Klägers entgegen halten kann.
2.1.2.
Kausalität zwischen Belastung durch ionisierende Strahlung und Nierenzellkarzinom
Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. G., der auch Mitglied der Radarkommission war, hat die vorliegenden Unterlagen sorgfältig ausgewertet und ist in seinem Gutachten vom 09.06.2011 mit nachvollziehbarer und überzeugender Begründung zu der Einschätzung gekommen, dass das Nierenzellkarzinom hinreichend wahrscheinlich auf die wehrdienstbedingte Strahlenbelastung des Klägers zurückzuführen ist. Dabei hat er sich u. a. auch mit möglichen Alternativursachen befasst und diese ausgeschlossen. Die aus der Behandlung des Karzinoms resultierenden weiteren Gesundheitsschäden (Entfernung eines Teils des Dickdarms und der Milz) stehen als mittelbare Folgeschäden ebenfalls in einen hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang mit der wehrdienstbedingten Strahlenbelastung.
Diese Beurteilung des Sachverständigen macht sich der Senat zu eigen. Sie steht in Übereinstimmung mit den Festlegungen im Bericht der Radarkommission und den Vorgaben im Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2402 (vgl. Bek. des BMA vom 13.05.1991, BArbBl. 7-8/1991, S. 72 ff.) bzw. der sich anschließenden wissenschaftlichen Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 2402 der Anlage 1 zur BKV (vgl. Bek. des BMAS
Angesichts der klaren sachverständigen Ausführungen verzichtet der Senat auf weitere Ausführungen zum Gutachten und verweist auf die dortigen Erläuterungen. Die sachverständige Einschätzung wird im Übrigen auch vom versorgungsärztlichen Dienst des Beklagten (Stellungnahme des Dr. J. vom 18.09.2003) geteilt und hat auch Eingang in den ersten Entwurf eines Beschwerdebescheids vom November 2003 gefunden, dem aus hier nicht nachvollziehbaren Gründen von der Wehrbereichsverwaltung Süd die Zustimmung versagt worden ist.
Sofern die Beklagte Einwendungen gegen dieses Gutachten erhebt, kann sich der Senat dem nicht anschließen:
- Wenn die Beklagte bereits vor Erteilung des Gutachtensauftrags
o dem Gericht mit Schreiben vom
o zudem mit Schreiben vom
o schließlich mit Schreiben der „Schwerpunktgruppe Radar“ vom 16.06.2010 diesem Sachverständigen pauschal jegliche fachliche Eignung abgesprochen hat,
sind diese Einwände nicht ansatzweise nachvollziehbar und nicht auf Fakten gestützt, sondern beruhen ausschließlich auf sachfremden Unterstellungen, Mutmaßungen und subjektiven Meinungsäußerungen von Vertretern der Beklagten, wie sie in einem gerichtlichen Verfahren keinen Raum haben können. Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat darauf hin, dass der Sachverständige Mitglied der Radarkommission war. Ihm angesichts dieser Berufung fehlende Sachkenntnis zu unterstellen, überrascht und würde auch die Kompetenz der Beklagten in Gestalt des Bundesministeriums der Verteidigung, das die Radarkommission eingesetzt hat, massiv in Frage stellen. Der Senat kann sich die unsachliche Vorabkritik der Beklagten am Sachverständigen daher nur so erklären, dass, soweit dem Senat bekannt ist, dieser im Zusammenhang mit der Erstellung des Berichts der Radarkommission bemängelt hat, dass die Bundeswehr nur unzureichend Materialien zur Verfügung gestellt habe. Allein aus dieser Kritik, die der Senat im Übrigen aufgrund der in diesem Verfahren gemachten Erfahrungen - so musste er auf eine am 15.03.2012 erbetene Stellungnahme zwei Jahre warten, wobei die Stellungnahme erst nach Einschaltung des Präsidenten des Bundesamts für das Personalmanagement der Bundeswehr abgegeben worden ist und nicht einmal ganze sechs Seiten umfasst hat - nicht für fernliegend hält und die im Übrigen auch dem Bericht der Radarkommission selbst zu entnehmen ist (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 25: „Die von der Kommission erbetenen Informationen ... konnten von der Bundeswehr nicht geliefert werden.“), eine fehlende Sachkunde des Sachverständigen abzuleiten, ist mehr als fernliegend. Im Übrigen hat sich der von der Beklagten vorweg erhobene Vorwurf auch nicht nach Vorlage des Gutachtens bestätigt. Dafür, aus dem in diesem Verfahren erstellten Gutachten auf eine fehlende Sachkunde oder gar eine Parteilichkeit des Sachverständigen zu schließen, gibt es nicht den geringsten Anhaltspunkt. Die Vorwürfe und Vorhaltungen der Beklagten entbehren insofern jeglicher sachlicher Grundlage und können nur auf rein subjektiven Gründen beruhen. Ob und wenn ja welche weiteren Gründe für die objektiv nicht haltbare Ablehnung des Sachverständigen durch die Beklagte bestehen, hat die Beklagte nicht offengelegt, so dass nur unsachliche und damit nicht äußerungsfähige Gründe vermutet werden können. Bezeichnend ist jedenfalls, dass sich die Beklagte gehütet hat, den Sachverständigen formal wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, was sich aufgrund ihres Vortrags aufgedrängt hätte. Letztlich können die nicht offengelegten wahren Gründe der Beklagten mangels Entscheidungsrelevanz dahingestellt bleiben.
- Der Vortrag der Beklagten dahingehend, dass die Entstehung eines Nierentumors durch den Bericht der Radarkommission ausgeschlossen sei, findet in diesem Bericht keine Stütze; im Übrigen ist die Behauptung eines (generellen) Ausschlusses eines Ursachenzusammenhangs auch nachweislich falsch. An keiner Stelle in diesem Bericht ist ausgeführt, dass ein Nierenzellkarzinom nicht durch ionisierende Strahlung verursacht sein könnte. Vielmehr ist sowohl im Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2402 aus dem Jahr 1991 als auch in der sich anschließenden wissenschaftlichen Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 2402 aus dem Jahr 2011 die Niere ausdrücklich unter den strahlenempfindlichen Organen in Hinsicht auf die Verursachung maligner Erkrankungen aufgelistet.
- Sofern die Beklagte argumentiert, das Nierenzellkarzinom könne schon deshalb nicht durch die wehrdienstliche Tätigkeit des Klägers verursacht sein, weil sich die Nieren nicht in dem nach dem Bericht der Radarkommission strahlungsexponierten Körperbereich befunden hätten, ist dies falsch. Es liegt der Eindruck sehr nahe, dass die Beklagte die einschlägigen Vorgaben des Berichts der Radarkommission falsch darstellt, um berechtigte Ansprüche des Klägers abzuwehren.
Nach dem Bericht der Radarkommission ist bei der Tätigkeit am NASARR davon auszugehen, dass sich „Kopf und Teile des Oberkörpers direkt im nach oben gerichteten Strahlenbündel befanden“ (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 46). Diese Formulierungen können aber nicht - wie dies die Beklagte möchte - dahingehend interpretiert werden, dass bei der Arbeit am NASARR nur eine Exposition in den obersten Teilen des Oberkörpers vorgelegen haben kann. Ein derartiger Ausschluss lässt sich weder dem Bericht der Radarkommission entnehmen noch findet er eine Stütze im (detaillierteren) Teilbericht NASARR der Arbeitsgruppe Aufklärung der Arbeitsplatzverhältnisse Radar vom 24.02.2002 zum Starfighter F-104 G Radaranlage F 15 B-A/D NASARR. Im Übrigen verkennt die Beklagte auch, dass der Radarbericht die Formulierung „Teile des Oberkörpers“ nur in Zusammenhang mit einer ganz bestimmten Tätigkeit am NASARR verwendet, nämlich bei den „langwierigen Einstellarbeiten des Sender-Magnetrons“ (vgl. S. 46 des Berichts).
- Wenn die Beklagte durch den Leiter der Strahlenmessstelle Dr. S. in der Stellungnahme vom 21.02.2014 vorträgt, die Strahlung am NASARR sei einzig und allein nach oben gerichtet gewesen und es habe sich um ein eng umgrenztes Strahlenbündel gehandelt, was durch Röntgenfilme dokumentiert sei, ist auch diese Behauptung nachweislich falsch und verschweigt Erkenntnisse, wie sie die Beklagte selbst gewonnen, dokumentiert und vorgelegt hat.
Aus den Messwerten, wie sie im Teilbericht NASARR (dort Tabelle 2 auf S. 5) dokumentiert sind, ergibt sich zweifelsfrei eine nicht unerhebliche, vom Magnetron des NASARR zur Seite gerichtete Strahlung. Es mag zwar durchaus richtig sein, dass das Magnetron (gezielt) nach oben strahlt und dieses Strahlenbündel vergleichsweise punktgenau ist. Daneben kann aber nicht, wie dies durch die Beklagte erfolgt, verdrängt werden, dass auch zur Seite eine Strahlenbelastung erfolgt.
Auch der Bericht der Radarkommission widerlegt die Behauptung der Beklagten einer ausschließlich nach oben erfolgenden eng umgrenzten Strahlung. So wird dort (vgl. S. 59 des Berichts) ausdrücklich darauf hingewiesen, dass bei der Arbeit auf der Testbank durch Reflexionen an metallischen Flächen (z. B. Fenster- und Türrahmen) erhebliche Strahlenbelastungen und Grenzwertüberschreitungen um 100% auftreten können, ohne dass dafür Fehler an den Radargeräten vorliegen hätten müssen. Gerade in Reparaturhallen ist nach dem Bericht der Radarkommission (vgl. S. 61 des Berichts) wegen der erhöhten Reflexion von einem hohen Risiko einer Überexposition auszugehen. Neben der seitlich aus dem Magnetron austretenden Strahlung gab es daher auch infolge Reflexionen erhebliche Strahlenbelastungen außerhalb des eng nach oben gerichteten Strahlenbündels des Magnetrons.
Wenn dazu der Leiter der Strahlenmessstelle der Bundeswehr Dr. S. mit Schreiben vom 21.02.2014 behauptet, dass die Annahme des Klägers, das Magnetron habe auch zur Seite gestrahlt, nicht bewiesen sei, kann dies in Anbetracht der vorgenannten Ausführungen sowohl im Bericht der Radarkommission als auch im Teilbericht NASARR nur als wahrheitswidriger Vortrag bezeichnet werden. Ob und inwieweit angesichts eines derartigen Verhaltens auch weitere Angaben der Beklagten nicht nur in diesem gerichtlichen Verfahren genauerer Nachprüfung bedürfen, sei an dieser Stelle mangels Entscheidungserheblichkeit dahingestellt.
Ebenso sieht es der Senat als irreführend und nachweislich falsch an, wenn durch den Leiter der Strahlenmessstelle vorgetragen wird, es sei ein Irrtum des Klägers, wenn dieser meine, dass die Röntgenstrahlung oder Röntgenstörstrahlung des NASARR nicht streng und definierbar gebündelt würde, und dies mit dem Hinweis darauf begründet wird, dass es ohne diese strenge Bündelung keine Computertomographie mit der heute erreichten Bildqualität gebe. Vom heutigen (!) Stand der Computertomographie auf die Belastung eines militärisch vor über 40 Jahren genutzten Geräts zu schließen, ist fernab jeglicher Nachvollziehbarkeit. Dies gilt umso mehr, als der erste kommerzielle Computertomograph zur klinischen Anwendung erst im Jahr 1972, also zu einer Zeit, als der Kläger schon als Radarmechaniker arbeitete, in Betrieb genommen worden ist (vgl. Jach, Einsatz der Dosismodulation in der Mehrschicht-Computertomographie der Kopf-/Halsregion, Diss. 2008, S. 13) und die damaligen Geräte im Vergleich zu heutigen Geräten eine nur sehr eingeschränkte Funktionalität hatten. Im Übrigen suggeriert der Vortrag des Dr. S., dass neben dieser gezielten Strahlung keine andere Strahlung vorhanden gewesen wäre. Dies ist aber - wie bereits erläutert - nachweislich nicht richtig.
- Fast grotesk mutet das Argument des Leiters der Strahlenmessstelle Dr. S. an, wenn er mit dem an der Antenne angebrachten Hinweis „HANDS OFF“ suggerieren will, dass damit die Gefährlichkeit des Geräts durch ionisierende Strahlung zum Ausdruck gebracht würde und daher die Arbeiten mit entsprechend großem Abstand zum Gerät durchgeführt worden wären. Der Hinweis „HANDS OFF“ kann sich nämlich nicht auf eine Strahlenexposition beziehen, sondern nur darauf, dass die Antenne aus mechanischen Gründen nicht zu berühren sei. Dies ergibt sich zwingend aus dem Inhalt des Warnhinweises, der ein Berühren verhindern will. Das Berühren der Antenne an sich ist aber völlig ungefährlich, solange der Kontakt nicht in dem Austrittsort der nach dem Vortrag des Dr. S. enggebündelten Strahlung erfolgt. Wenn schon ein Hinweis auf radioaktive Strahlung erfolgen hätte sollen, hätte dieser ganz anders lauten müssen; „HANDS OFF“ wäre in diesem Fall ein völlig untauglicher Hinweis gewesen. Im Übrigen - auch das ist dem Bericht der Radarkommission zu entnehmen - ist offenbar erst in der von der Radarkommission als zweite Phase ab 1976 bezeichneten Zeit dem bis dahin völlig vernachlässigten Strahlenschutz auch durch entsprechende Arbeitsanweisungen Rechnung getragen worden (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 9, 23, 130). Dies beweist, dass mit „HANDS OFF“ zumindest in der ersten Phase, in der der Kläger auch tätig war, keinesfalls vor Röntgenstörstrahlung gewarnt wurde. Im Übrigen hat die Bundeswehr zwar auch schon bis Mitte der 70er Jahre Strahlenwarnzeichen - die nicht mit dem Hinweis „HANDS OFF“ verwechselt werden dürfen - verwendet, wobei sich diese Warnzeichen nicht auf Röntgenstrahlung bezogen haben (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 9). Die Behauptungen des Dr. S. stehen zu diesen Ausführungen im Bericht der Radarkommission in einem konträren und sachlich nicht ansatzweise erklärbaren Widerspruch.
- Wenn der Leiter der Strahlenmessstelle der Bundeswehr Dr. S. die Strahlenexposition des Klägers dadurch als kleiner erscheinen lassen will, dass er es als nicht ersichtlich bezeichnet, warum bestimmte Arbeitsschritte mit eingeschaltetem Magnetron erfolgen hätten müssen, mag diese Fragestellung aus heutiger Sicht berechtigt sein. Zu der Zeit, in der der Kläger als Radarmechaniker tätig war (ab 1971), spielte der Strahlenschutz in der täglichen Praxis der Bundeswehr aber keine (wesentliche) Rolle (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 130). Auch die Radarkommission hat in diesem Zusammenhang bei der Ermittlung der Exposition bei Arbeiten am NASARR deshalb empfohlen, „vorrangig Angaben der Antragsteller zu ihren individuellen Tätigkeiten ... zugrunde zu legen“ (vgl. Bericht der Radarkommission, S. 47). Der Senat folgt daher auch den Angaben des Klägers im Schreiben seiner Bevollmächtigten vom 03.06.2013, in dem er sich dezidiert zu den Arbeitsbedingungen geäußert hat; irgendeinen Grund, den Angaben des Klägers nicht zu folgen, kann der Senat nicht erkennen, da die Angaben des Klägers in sich schlüssig und angesichts der zur Zeit der belastenden Tätigkeit vorliegenden Erkenntnisse zur Gefährlichkeit und dem damals auch von Seiten des Arbeitgebers Bundeswehr fehlenden Problembewusstseins zum Thema Röntgenstörstrahlung plausibel sind und nicht ansatzweise ein Hinweis darauf erkennbar ist, dass sich der Kläger durch falsche Angaben einen versorgungsrechtlichen Vorteil verschaffen möchte. Wenn die Beklagte suggerieren will, dass der Kläger die Arbeiten nicht bei eingeschaltetem Radarsender durchgeführt habe, steht dies im Übrigen auch im Widerspruch zu den Ausführungen im Teilbericht NASARR der Arbeitsgruppe Aufklärung der Arbeitsplatzverhältnisse Radar vom 24.02.2002 zum Starfighter F-104 G Radaranlage F 15 B-A/D NASARR (dort vgl. S. 9). Danach ist es für den Senat nachgewiesen, dass, um eine beste Einsatzfähigkeit des NASARR zu erhalten, die meiste Zeit mit hoher Sendeleistung gearbeitet worden ist, zumal von der Gefährlichkeit des Magnetrons damals nichts bekannt gewesen war.
- Das medizinische Argument, das die Beklagte durch einen Nichtmediziner vorgetragen hat, nämlich dass ein Nierentumor nicht strahlungsbedingt entstanden sein könne, weil die Niere nicht Teil des Oberkörpers sei, ist durch die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen und durch medizinische Standardwerke widerlegt. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Nierentumor an der höher gelegenen linken Niere und dort am oberen Pol entstanden ist, also an der absolut betrachtet obersten, also kopfnächsten Stelle der Nieren.
Dass die Beklagte von der anatomisch unrichtigen Annahme ausgeht, dass die Nieren im Beckenbereich gelegen seien, entnimmt der Senat auch der Stellungnahme des Dr. S. vom 04.09.2006. Dieser hat im Rahmen der Frage, ob der Nierentumor des Klägers strahlenbedingt sein könne, darauf hingewiesen, dass auch bei einem körperlich größeren Techniker der Bereich des Beckens nicht gegenüber Röntgenstörstrahlung exponiert werden könne.
- Aber selbst dann, wenn dem Beklagten bezüglich seiner falschen Argumentation zur Niere gefolgt würde und damit davon auszugehen wäre, dass die Niere in einem grenzwertig strahlenexponierten Körperbereich liegen würde, würde dies nach den expliziten Feststellungen im Bericht der Radarkommission (vgl. dort S. 47) einer Anerkennung nicht entgegen stehen, da die Kommission der Auffassung ist, „dass für alle Tätigkeiten, für die eine Exposition aller Körperpartien geometrisch betrachtet nicht sicher auszuschließen ist, die Annahme, dass das erkrankte Organ einer Strahlenexposition ausgesetzt war, die durch die maximale Ortsdosisleistung bestimmt wird, die einzig mögliche Grundlage einer Dosisabschätzung darstellt.“ Da eine Nierenexposition - auch nach der Argumentation der Beklagten - nicht sicher ausgeschlossen werden kann, ist die maximale Ortsdosisleistung als Strahlungsbelastung zugrunde zu legen. Wenn dies die Beklagte dadurch in Abrede stellen will, dass sie den Bericht der Radarkommission insofern nicht zur Kenntnis nehmen will, wirkt dies zumindest befremdlich und legt - zum wiederholten Mal - den Eindruck nahe, dass der Tatsachenvortrag der Beklagten sehr selektiv und daran orientiert erfolgt, was ihr bei der Abwehr von Ansprüchen nützlich sein könnte.
- Wenn die Beklagte zum Ende des Berufungsverfahrens die Anerkennung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung dadurch abzuwehren versucht, dass sie durch den Leiter der Strahlenmessstelle der Bundeswehr Dr. S. mit Schreiben vom 21.02.2014, dessen Anfertigung rund zwei Jahre gedauert hat, vortragen lässt, dass die Energie der Röntgenstrahlung nicht ausreiche, an den Nieren eine Dosis zu erzielen, ist auf Folgendes hinzuweisen: Zunächst verwundert es, dass ein Nichtmediziner der Bundeswehr meint, über so große Fachkunde auf medizinischem Gebiet zu verfügen, dass er diese medizinische Frage zu beantworten vermag. Der ärztliche Sachverständige Prof. Dr. G., dessen medizinische Sachkunde für den Senat außer Zweifel steht, hat dies ganz anders eingeschätzt; diese ärztlichsachverständige Einschätzung macht sich der Senat zu eigen. Auch der Versorgungsarzt der Beklagten Dr. J. hat in einer vermeintlich nicht ausreichenden Eindringtiefe in seiner Stellungnahme vom 18.09.2003 kein Problem gesehen. Insofern ist die (gewissermaßen fachfremde) Äußerung des Dr. S. ein erneuter Beleg für eine mit großen Vorbehalten zu sehende Vorgehensweise der Beklagten. Dass die Behauptung des Dr. S. auf der Basis medizinischer Erkenntnisse nicht nachvollziehbar ist, ergibt sich im Übrigen auch daraus, dass die Nieren sowohl im Merkblatt zur Berufskrankheit Nr. 2402 aus dem Jahr 1991 als auch in der sich anschließenden wissenschaftlichen Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 2402 aus dem Jahr 2011 ausdrücklich unter den strahlenempfindlichen Organen in Hinsicht auf die Verursachung maligner Erkrankungen aufgelistet wird.
- Lediglich der Vollständigkeit halber, ohne dass dies noch Entscheidungsrelevanz hätte, weist der Senat darauf hin, dass es in vergleichbaren Fällen von Radarmechanikern am Flugzeug F-104 - von der Beklagten unwidersprochen - zu Anerkennung eines Nierentumors, eines Hodentumors und auch von Knochenkrebs am Oberschenkel gekommen ist. Würde der jetzigen Argumentation der Beklagten gefolgt, hätte es zu solchen Anerkennungen nie kommen können.
2.2. Schilddrüsenadenom mit daraus resultierender Teilentfernung der Schilddrüse und Schilddrüsenüberfunktion
Das Schilddrüsenadenom mit daraus resultierender Teilentfernung der Schilddrüse und die Schilddrüsenüberfunktion sind als Folge einer Wehrdienstbeschädigung im Sinn der o. g. Alternative 4 (vgl. oben Ziff. 1 a.E.) anzuerkennen.
2.2.1. Potentiell schädigender Vorgang
Die ionisierende Strahlung (Röntgenstörstrahlung), der der Kläger im Rahmen seines Wehrdienstes als Radarmechaniker/-meister ausgesetzt war (vgl. dazu oben Ziff. 2.1.1.), hat auch potentiell schädigende Wirkung auf die Schilddrüse in dem Sinn, dass dadurch die Bildung gutartiger Schilddrüsentumore (Adenome) verursacht werden kann, wie die im Gutachten des Prof. Dr. G. vom 09.06.2011 angeführten Studien zeigen.
2.2.2. Kausalität zwischen Belastung durch ionisierende Strahlung und Adenom der Schilddrüse
Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. G. hat die vorliegenden Unterlagen sorgfältig ausgewertet und ist in seinem Gutachten vom 09.06.2011 mit nachvollziehbarer und überzeugender Begründung zu der Einschätzung gekommen, dass das Adenom sowie die Schilddrüsenüberfunktion zwar nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, aber doch im Sinn der Kannversorgung gemäß § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG auf die wehrdienstbedingte Strahlenbelastung des Klägers zurückzuführen sind. Der aus der Behandlung des Adenoms resultierende weitere Gesundheitsschaden (Teilentfernung der Schilddrüse) steht als mittelbarer Folgeschaden in einem hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhang mit der Adenomoperation und damit mit der wehrdienstbedingten Strahlenbelastung.
Diese Beurteilung des Sachverständigen macht sich der Senat zu eigen. Sie steht in Einklang mit den rechtlichmedizinischen Voraussetzungen der Kannversorgung.
Es ist unstrittig, dass bezüglich der Entstehung gutartiger Tumore der Drüsen, hier des Schilddrüsenadenoms, in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit in dem Sinn besteht, dass es keine einheitliche Lehrmeinung, sondern allenfalls verschiedene ärztliche Lehrmeinungen zur Entstehungsursache gibt. Dies ist auch dem Gutachten des Prof. Dr. G. zu entnehmen, wenn dieser potentielle Ursachen sowie zwei Studien benennt, die ein statistisch signifikant erhöhtes Risiko des Auftretens von gutartigen Schilddrüsentumoren aufzeigen. Eine einheitliche Lehrmeinung hat sich bis heute nicht entwickelt. Aufgrund dieser Studien und den dort entwickelten Kriterien ist nach den Ausführungen des Sachverständigen davon auszugehen, dass das Adenom des Klägers infolge der Strahlenbelastung entstanden ist. Dies bedeutet, dass nach zumindest einer, den Studien zugrunde liegenden Lehrmeinung, die noch nicht als einheitliche Lehrmeinung anerkannt ist, das Adenom des Klägers und die Schilddrüsenüberfunktion hinreichend wahrscheinlich auf die wehrdienstliche Strahlenbelastung zurückzuführen sind. Die Voraussetzungen der Kannversorgung sind damit gegeben.
Bedenken, der Einschätzung des Sachverständigen zu folgen, hat der Senat nicht:
- Der Bewertung des Sachverständigen steht nicht entgegen, dass der Bericht der Radarkommission eine Anerkennung von gutartigen Tumoren nicht explizit vorsieht. Wenn die Beklagte suggeriert, dass durch die Nichterwähnung gutartiger Tumore im Bericht der Radarkommission belegt sei, dass eine Anerkennung derartiger Erkrankungen überhaupt nicht, auch nicht im Weg der Kannversorgung, in Betracht gezogen werden dürfe, ist diese Argumentation falsch und verschleiert den Grund, warum im Bericht der Radarkommission gutartige Tumore nicht thematisiert worden sind. Es ist allgemein bekannt, dass sich die Radarkommission angesichts des großen Zeitdrucks allein auf bösartige Tumore und Katarakte beschränkt hat, ohne damit irgendeine Aussage zur Kausalität anderer Erkrankungen zu treffen.
- Die Tatsache, dass in den früher geltenden Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (AHP) in der letzten Fassung vom Jahr 2008 zu gutartigen Geschwülsten (vgl. AHP 2008 Nr. 142.5) darauf hingewiesen wird, dass diese „im allgemeinen nicht durch äußere Einwirkungen verursacht“ werden, steht der Anerkennung des Adenoms im Rahmen der Kannversorgung nicht entgegen. Ganz abgesehen davon, dass die AHP mangels Gesetzeskraft einen derartigen Ausschluss überhaupt nicht konstituieren hätten können, sind sie durch die jetzt geltenden Versorgungsmedizinischen Grundsätzen abgelöst worden, die überhaupt keine Auflistung von im Weg der Kannversorgung anerkennungsfähiger oder auszuschließender Erkrankungen enthalten. Zudem belegt gerade die Formulierung „im allgemeinen“ in den AHP, dass ein allumfassender Ausschluss einer Anerkennungsfähigkeit gerade nicht gegeben ist. Wenn die Beklagte in diesem Zusammenhang weiter mit Stellungnahme vom 01.09.2011 argumentiert, dass „Ausnahmen bzgl. der Schilddrüsenadenome ... in den AHP nicht genannt“ würden, daher deren Ätiologie nicht ungeklärt sei und daher die Kannversorgung keine Anwendung finde, gibt es für diese Begründung in den AHP nicht ansatzweise eine Stütze; vielmehr verfälscht diese Argumentation die Vorgaben der AHP eklatant. Die Beklagte verschweigt völlig, dass in den AHP für gutartige Geschwülste überhaupt keine Ausnahmen explizit aufgezeigt sind. Aus der fehlenden positiven Erwähnung eines Schilddrüsenadenoms kann daher nicht der Rückschluss gezogen werden, dass mit der Nichterwähnung ein Ausschluss verbunden wäre, wenn die AHP auf der anderen Seite auf die Möglichkeit hinweisen, dass eine Kannversorgung nur im Allgemeinen nicht in Betracht kommt, was aber gerade die Möglichkeit einer Anerkennung im - zugegebenermaßen eher seltenen - Einzelfall beinhaltet. Zudem darf auch nicht übersehen werden, dass die Formulierung in AHP 2008 Nr. 142.5 sämtliche „äußeren Einwirkungen“ umfasst, also neben der durch ionisierende Strahlung auch die zahlreichen anderen Möglichkeiten wie z. B. mechanischer Art. Dass es insofern „im allgemeinen“, d. h. zumindest in der deutlich überwiegenden Zahl der Fälle, nicht zu einer Anerkennung kommen dürfte, ist naheliegend, kann aber nicht dahingehend interpretiert werden, dass es bei Strahlenbelastung zu keiner Anerkennung als Schädigungsfolge im Rahmen der Kannversorgung kommen könne. Außerdem wird in der wissenschaftlichen Stellungnahme zu der Berufskrankheit Nr. 2402 aus dem Jahr 2011 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass „auch benigne Tumore“ als strahlenbedingte Spätschäden in Betracht kommen. Dieser aktuellen, zumindest schon drei Jahre lang bundesministeriell „abgesegneten“ Erkenntnis verschließt sich die Beklagte.
- Der Sachverständige hat seine Annahme eines Zusammenhangs im Sinn der Kannversorgung durch die Angabe von Studien belegt, die ein statistisch signifikant erhöhtes Risiko für die Entstehung gutartiger Schilddrüsentumore durch ionisierende Strahlung belegen, und darauf hingewiesen, dass der Halsbereich des Klägers ohne jeden Zweifel - dies bestreitet selbst die Beklagte nicht - einer entsprechenden Strahlenbelastung ausgesetzt gewesen ist. Diese wissenschaftlich fundierte und überzeugende Argumentation des Sachverständigen, die sich der Senat zu Eigen macht, erschüttern die dagegen mit Schreiben der Beklagten vom 01.09.2011 vorgebrachten Behauptungen nicht ansatzweise. Wenn dem Gutachter entgegen gehalten wird, dass er seine Beurteilung nicht „auf der Grundlage der von der herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinung vertretenen Erkenntnisse über Ätiologie und Pathogenese“ abgegeben, sondern sich nur auf zwei „vereinzelte Studien“ gestützt habe, in denen „Hinweise auf mögliche Zusammenhänge gegeben“ seien, und damit „methodische Fehler“ konstruiert werden sollen, gehen diese Vorwürfe als unzutreffend ins Leere. Die Beklagte verkennt völlig, dass es für die Heranziehung der Kannversorgung zwingende Grundvoraussetzung ist, dass sich eine herrschende wissenschaftliche Lehrmeinung noch nicht herausgebildet hat; denn anderenfalls dürfte die Zusammenhangsbeurteilung ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des hinreichend wahrscheinlichen Zusammenhangs erfolgen. Dem Sachverständigen, der aufgezeigt hat, dass es bezüglich der Entstehung gutartiger Tumore (noch) keine herrschende medizinische Lehrmeinung gibt, methodische Fehler zu unterstellen, kann daher nur mit einer elementaren Unkenntnis der Voraussetzungen der Kannversorgung oder einer gezielt irreführenden Argumentation, die der Senat der Beklagten nicht unterstellen möchte, begründet werden. Dass die Beklagte der vom Gesetzgeber eröffneten Kannversorgung grundsätzlich ablehnend gegenüber steht, möchte der Senat der Beklagten ebenfalls nicht unterstellen. Sollte dies gleichwohl der Fall sein, könnte der Interessenlage der Beklagten nur der Gesetzgeber durch die Abschaffung der Kannversorgung Rechnung tragen, nicht aber die Judikative im Rahmen der Anwendung geltender Gesetze.
Lediglich der Vollständigkeit halber, ohne dass dies noch von weiterer Entscheidungsrelevanz wäre, weist der Senat darauf hin, dass auch im Internet für jedermann zugänglich Veröffentlichungen zu finden sind, die sich mit der bislang medizinisch nicht abschließend geklärten Frage der Verursachung gutartiger Tumore befassen und dabei auch auf die Studienlagen Bezug nehmen (vgl. z. B. die Hinweise von Schmitz-Feuerhake, Die Induktion gutartiger Tumore durch ionisierende Strahlung - ein vernachlässigtes Kapitel von Strahlenrisikobetrachtungen, in: Strahlentelex, Nr. 548-549, 05.11.2009), wobei es der Senat dahingestellt lässt, von welcher wissenschaftlichen Qualität die genannte Veröffentlichung ist.
Der Zustimmungsvorbehalt des § 81 Abs. 6 Satz 2 SVG steht einer gerichtlichen Anerkennung auch ohne konkrete oder allgemeine Zustimmung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht entgegen. Denn bei der Zustimmung handelt es sich lediglich um einen verwaltungsinternen Vorgaben, den das Gericht bei seiner Entscheidung zu prüfen oder zu ersetzen hat (vgl. BSG, Urteil vom 12.12.1969, Az.: 8 RV 469/67; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 21.11.2001, Az.: L 10 VS 44/98).
3. Der Vollständigkeit halber: Keine Verurteilung wegen eines heißen Knotens
Der Kläger verfolgt die Anerkennung eines heißen Knotens der Schilddrüse als Folge einer Wehrdienstbeschädigung nicht mehr weiter. Der Senat weist daher lediglich der Vollständigkeit halber auf Folgendes hin:
Eine Verurteilung der Beklagten wegen eines heißen Knotens der Schilddrüse käme schon deshalb nicht in Betracht; weil eine derartige Erkrankung lediglich in Form einer Verdachtsdiagnose in den Raum gestellt worden ist, nicht aber in dem für eine Anerkennung erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen ist. Dass insofern (derzeit noch) keine Zuständigkeit der Beklagten bestünde, da sich eine solche Erkrankung keinesfalls während der Dienstzeit manifestiert hätte (vgl. Urteil des Senats vom 26.01.2012, Az.: L 15 VS 10/08; BSG, Urteil vom 29.04.2010, Az.: B 9 VS 2/09 R), ist von keiner weiteren rechtlichen Bedeutung. Die Frage, ob der Beigeladene verurteilt werden könnte, würde sich daher ebenfalls nicht stellen.
4. Keine Feststellungen zum Grad der Schädigung
Feststellungen zum Grad der Schädigung hat der Senat nicht zu treffen, da sich der Antrag des rechtskundig vertretenen Klägers ausdrücklich auf die Anerkennung der Schädigungsfolgen beschränkt.
5. Keine weiteren Ermittlungen erforderlich
Weitere Ermittlungen, insbesondere eine Inaugenscheinnahme eines Luftfahrzeugs F-104 G waren nicht angezeigt. Mit dem Bericht der Radarkommission, den vorliegenden Angaben zur Tätigkeit des Klägers und dem eingeholten Gutachten ist eine umfassende Entscheidungsgrundlage zur Bewertung der Strahlenexposition des Klägers und der gesundheitlichen Auswirkungen gegeben.
Nicht für die Entscheidung relevant ist es daher, dass der Senat große Zweifel daran hat, dass die Durchführung von Messungen an einem Luftfahrzeug F-104 G, was beklagtenseits in der Stellungnahme des Dr. S. vom 21.02.2014 in den Raum gestellt worden ist, überhaupt gerichtsverwertbare Erkenntnisse bringen könnte. Soweit öffentlich zugänglichen Quellen zu entnehmen ist, wurde das Luftfahrzeug F-104 G bei der Bundeswehr am 22.05.1991 ausgemustert. Wenn in Ausbildungseinrichtungen oder Museen noch Exemplare dieses Flugzeugs vorhanden sind, dürften sich diese allesamt in einem demilitarisierten Zustand befinden. Dies würde bedeuten, dass vor der Durchführung von Messungen die im Rahmen der Demilitarisierung entfernten Bauteile, insbesondere auch das Magnetron, wieder in das Flugzeug einzubauen wären. Dass die anschließend angefertigte Konfiguration dem Zustand des Flugzeugstyps entsprechen würde, an dem der Kläger in den 1970er und 1980er Jahren tätig war, hält der Senat für sehr ungewiss. Denn es ist bekannt, dass es beispielsweise beim Magnetron, von dem der wesentliche Teil der (potentiell) schädigenden Strahlung ausgegangen ist, verschiedene Ausführungen mit sicherlich auch nicht immer identischen Strahlungsverhältnissen gegeben hat (vgl. S. 46 des Radarberichts). Da weder aus den Akten ersichtlich ist, an welchen Ausführungen des Magnetrons der Kläger gearbeitet hat, noch klar ist, ob die damaligen Ausführungen überhaupt noch verfügbar sind, zudem auch zu klären wäre, ob die heute noch vorhandenen Ausführungen des Magnetrons im Weg der frühestens ab Mitte der 1970er Jahr begonnenen Strahlenschutzmaßnahmen umgearbeitet worden sind, kann sich der Senat nur schwer vorstellen, dass sich die den Kläger betreffende Strahlenbelastung realitätsnah reproduzieren lassen würde. In diesem Zusammenhang muss der Senat auch darauf hinweisen, dass er jedenfalls wegen des Vorgehens des Beklagten, hier insbesondere in Form der Person des Leiters der Strahlenmessstelle der Bundeswehr, im vorliegenden Fall nicht unerhebliche Bedenken haben würde, sich auf alle Angaben des Beklagten bedenkenlos zu verlassen. Dazu würde insbesondere die Frage gehören, ob das für eine potentielle Messung von der Beklagten zur Verfügung gestellte Luftfahrzeug tatsächlich der Ausführung entsprechen würde, an dem der Kläger gearbeitet hat, auch wenn dies von Seiten der Strahlenmessstelle so behauptet würde.
Diese Bedenken begründen sich wie folgt:
Die Beklagte hat beispielsweise mit Schreiben vom 26.11.2008 an das SG Folgendes ausgeführt:
„... bleibe ich bei der schon bisher von der Wehrbereichsverwaltung Süd vertretenen Auffassung, dass von diesem Radargerät die Strahlung nur nach oben austreten konnte. ... Außerdem ergibt sich das aus der Stellungnahme des Herrn Dr. S., Leiter der Arbeitsgruppe Radar/Strahlenmessstelle der Bundeswehr ... vom 4. September 2006, in der Beschwerdeakte, Blatt 25.“
Ähnlich hat auch der Leiter der Strahlenmessstelle Dr. S. in seiner Stellungnahme vom 21.02.2014 im Berufungsverfahren argumentiert, wenn er sich zum Einwand des Klägers, es habe auch eine Strahlung zur Seite gegeben, geäußert hat:
„Der Umkehrschluss, dass damit eine Emission des Magnetrons auch in seitlicher Richtung bewiesen wäre, gilt damit aber nicht. Die Radarkommission ... kam bei der Emissionsrichtung zum Ergebnis, dass die Emission der Röntgenstörstrahlung nach oben erfolgte.“
Der Senat kann, wie bereits oben erläutert, aufgrund des Akteninhalts nur davon ausgehen, dass diese Auskünfte falsch oder so verfälscht gegeben worden sind, dass entscheidende Gesichtspunkte von Seiten der Mitarbeiter der Beklagten verschwiegen worden sind. Dabei bezieht sich der Senat einerseits auf Unterlagen in den Verwaltungsakten der Beklagten, andererseits auf den Bericht der Radarkommission. So wird in der Stellungnahme der Wehrbereichsverwaltung Süd vom 25.02.2003 zwar auf die senkrecht nach oben austretende Röntgenstörstrahlung hingewiesen, gleichwohl ist bei den dokumentierten Messwerten auf S. 2 dieser Stellungnahme auch eine Röntgenstörstrahlung zur Seite (in einem Abstand von 5 cm zum Gerät - Anmerkung: einziger Messabstand) aufgeführt, wobei diese Strahlung der Höhe nach nicht vernachlässigbar ist, beträgt sie doch fast ein Drittel der Abstrahlung nach oben in derselben Entfernung und sogar das Neunfache im Vergleich zu der Abstrahlung nach oben in einer Entfernung von 30 cm. Entsprechendes ergibt sich auch aus dem Teilbericht NASARR der Arbeitsgruppe Aufklärung der Arbeitsplatzverhältnisse Radar vom 24.02.2002 zum Starfighter F-104 G Radaranlage F 15 B-A/D NASARR (vgl. dort S. 5, Tabelle 2). Schließlich wird im Radarbericht der Bundesregierung zum Radargerät NASARR darauf hingewiesen, dass bei den Wartungs- und Reparaturarbeitsplätzen durch Leckagen und auch durch Reflexionen der über die Antenne abgestrahlten Mikrowellen an metallischen Flächen erhebliche Grenzwertüberschreitungen auftreten können (vgl. S. 46 des Berichts); dies hat die Kommission durch eigene Messungen überprüft. Sowohl aus den eigenen Messungen der Beklagten als auch dem Bericht der Radarkommission ergibt sich damit die wiederholte Unrichtigkeit des Vortrags der Beklagten. Ausgehend von der nicht ganz fernliegenden Annahme, dass dies wider besseres Wissen erfolgt ist, wären Zweifel an der Richtigkeit der technisch zutreffenden Ausgangsbasis (rekonstruiertes Flugzeug für die Messungen) für weitere durchzuführende Messungen nicht völlig auszuschließen. Weitergehende Überlegungen und Ausführungen erübrigen sich jedoch, da es auf derartige Messungen im vorliegenden Verfahren überhaupt nicht mehr ankommt.
Mangels Entscheidungserheblichkeit muss sich der Senat auch nicht mit der Frage auseinander setzen, ob es tatsächlich nur eine einzige Messung zum NASARR gibt oder ob noch weitere Untersuchungen vorliegen, die von der Beklagten nur aus nicht näher nachvollziehbaren Gründen nicht vorgelegt werden, was im Rahmen der Beweislast zu würdigen wäre.
Zum Abschluss weist der Senat darauf hin, dass er sich sehr wohl des Gewichts und der Bedeutung der am prozessualen Vorgehen der Beklagten geübten Kritik bewusst ist, für das er gute Gründe gehabt hat. Er steht aber mit einer derartigen objektiven gerichtlichen Kritik nicht allein, wie sie beispielsweise auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Schleswig-Holstein in seinem
„Hierüber hat die Beklagte jahrelang keine konsequente Überprüfung durchgeführt, den Kläger nicht informiert und auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit die Ermittlung erschwert.“
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG). Insbesondere sind keine Fragen grundsätzlicher Art zu klären. Vielmehr basiert die Entscheidung allein auf einer Einzelfallbeurteilung, die mit Hilfe eines Sachverständigengutachtens zur Beurteilung des konkreten Falls zu treffen war.