Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss, 08. Juni 2005 - 1 AK 18/04

bei uns veröffentlicht am08.06.2005

Tenor

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.

2. Der Auslieferungshaftbefehl des Senats vom 04. Oktober 2004 wird aufgehoben.

Gründe

 
I. Am 04.10.2004 hat der Senat gegen den  Verfolgten, einen  deutschen Staatsagenhörigen, einen Auslieferungshaftbefehl aufgrund einer Ausschreibung der französischen Justizbehörden im Schengener Informationssystem (SIS) erlassen, der in Form der Überhaft vollzogen wird. In dem zwischenzeitlich vorliegenden Europäischen Haftbefehl des Untersuchungsrichters am Landgericht S./Frankreich vom 22.12.2004 liegt dem Verfolgten zur Last, am 22.09.2004 um 2.50 Uhr von S./Frankreich kommend auf dem Weg zur deutschen Grenze auf eine gegen ihn wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung eingerichtete Grenzkontrolle mit seinem Fahrzeug der Marke Ford Fiesta mit hoher Geschwindigkeit zugefahren zu sein und hierbei die Polizeibeamten P. und B., welche durch einen Sprung zur Seite dem Fahrzeug ausweichen mussten, erheblich gefährdet zu haben. Die Tat werten die französischen Justizbehörden als Gewalt mit Gebrauch einer Waffe auf eine Person der öffentlichen Ordnung, strafbar nach Art. 222-13, 222-44, 222-45 und 222-47 des französischen Strafgesetzbuches.
Auf den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe, die Auslieferung für zulässig zu erklären, hat der Senat Stellungnahmen zum Gesundheitszustand des Verfolgten eingeholt. Danach hat der Verfolgte aus Angst vor seiner Auslieferung nach Frankreich im September 2004 einen Selbstmordversuch unternommen, wobei nach Bewertung des behandelnden Arztes des Justizvollzugskrankenhauses H. vom 26.01.2005 der Verfolgte wegen einer ihm eigenen Persönlichkeitsstruktur im Falle seiner Auslieferung erneut zu solchen suizidalen Handlungen mit durchaus tödlichem Ende tendieren werde und nach Auffassung des Sachverständigen Dr. D. in seiner Stellungnahme vom 28.01.2005 aufgrund der psychischen Disposition des Verfolgten eine deutlich erhöhte Selbstmordgefährdung bestehe.
Unter dem 14.02.2005 hat die Staatsanwaltschaft U. gegen den Verfolgten wegen des Vorwurfs einer im Jahre 1997 in der Bundesrepublik Deutschland begangener Vergewaltigung in Tateinheit mit Geiselnahme u.a. Anklage zum Landgericht U. erhoben. Mit Beschluss vom 29.03.2005 hat die dortige Strafkammer das Hauptverfahren eröffnet und die Anklage der Staatsanwaltschaft U. unter Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft zugelassen. Hauptverhandlungstermin ist für den 17.06.2005 und einen Folgetag vorgesehen.
Bezüglich des bei der Staatsanwaltschaft U. anhängigen Ermittlungsverfahrens 14 Js 14685/04, welches aufgrund des Europäischen Haftbefehls des Untersuchungsrichters am Landgericht S./Frankreich vom 02.12.2004 eingeleitet wurde, beabsichtigt die Anklagebehörde ausweislich ihrer Berichte vom 18.11.2004 und 25.05.2005 im Falle der Auslieferung des Verfolgten nach Frankreich eine Einstellung nach § 154 b StPO.
II. Der Senat hat das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 262 StPO i.V.m. § 77 IRG ausgesetzt und den Auslieferungshaftbefehl vom 04.10.2004 aufgehoben (vgl. Senat, Beschluss vom 21.04.2005, 1 AK 36/04).
1. Die beim Bundesverfassungsgericht derzeit anhängige verfassungsrechtliche Klärung der Zulässigkeit der Auslieferung deutscher Staatsangehöriger an einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union (§ 80 Abs. 1 IRG) ist für das vorliegende Verfahren insbesondere deshalb von Bedeutung und vorgreiflich, weil zu klären gilt, ob das IRG i.d.F. des Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union vom 21.07.2004 (BGBl. I, S. 1748) gegen die verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere die in Art. 16 Abs. 2 GG gewährleisteten unverzichtbaren Grundsätze eines freiheitlichen Rechtsstaates verstößt (BVerfG StV 05, 29).
2. Die nach § 262 StPO gebotene (vgl. KG, Beschluss vom 19.09.2001, Ausl 193/00; BayObLG NJW 1995, 2104 f.) Aussetzung des Auslieferungsverfahrens bedingt die Aufhebung des Auslieferungshaftbefehls.

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Referenzen - Gesetze

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Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland - GG | Art 16


(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird. (2) Ke

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 80 Auslieferung deutscher Staatsangehöriger


(1) Die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung ist nur zulässig, wenn 1. gesichert ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten

Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen - IRG | § 77 Anwendung anderer Verfahrensvorschriften


(1) Soweit dieses Gesetz keine besonderen Verfahrensvorschriften enthält, gelten die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und seines Einführungsgesetzes, der Strafprozeßordnung, des Jugendgerichtsgesetzes, der Abgabenordnung und des Gesetzes

Strafprozeßordnung - StPO | § 262 Entscheidung zivilrechtlicher Vorfragen


(1) Hängt die Strafbarkeit einer Handlung von der Beurteilung eines bürgerlichen Rechtsverhältnisses ab, so entscheidet das Strafgericht auch über dieses nach den für das Verfahren und den Beweis in Strafsachen geltenden Vorschriften. (2) Das Ger

Referenzen

(1) Hängt die Strafbarkeit einer Handlung von der Beurteilung eines bürgerlichen Rechtsverhältnisses ab, so entscheidet das Strafgericht auch über dieses nach den für das Verfahren und den Beweis in Strafsachen geltenden Vorschriften.

(2) Das Gericht ist jedoch befugt, die Untersuchung auszusetzen und einem der Beteiligten zur Erhebung der Zivilklage eine Frist zu bestimmen oder das Urteil des Zivilgerichts abzuwarten.

(1) Soweit dieses Gesetz keine besonderen Verfahrensvorschriften enthält, gelten die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes und seines Einführungsgesetzes, der Strafprozeßordnung, des Jugendgerichtsgesetzes, der Abgabenordnung und des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten sinngemäß.

(2) Bei der Leistung von Rechtshilfe für ein ausländisches Verfahren finden die Vorschriften zur Immunität, zur Indemnität und die Genehmigungsvorbehalte für Durchsuchungen und Beschlagnahmen in den Räumen eines Parlaments Anwendung, welche für deutsche Straf- und Bußgeldverfahren gelten.

(1) Die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung ist nur zulässig, wenn

1.
gesichert ist, dass der ersuchende Mitgliedstaat nach Verhängung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder sonstigen Sanktion anbieten wird, den Verfolgten auf seinen Wunsch zur Vollstreckung in den Geltungsbereich dieses Gesetzes zurückzuüberstellen, und
2.
die Tat einen maßgeblichen Bezug zum ersuchenden Mitgliedstaat aufweist.
Ein maßgeblicher Bezug der Tat zum ersuchenden Mitgliedstaat liegt in der Regel vor, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurde und der Erfolg zumindest in wesentlichen Teilen dort eingetreten ist, oder wenn es sich um eine schwere Tat mit typisch grenzüberschreitendem Charakter handelt, die zumindest teilweise auch auf seinem Hoheitsgebiet begangen wurde.

(2) Liegen die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 2 nicht vor, ist die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafverfolgung nur zulässig, wenn

1.
die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 vorliegen und die Tat
2.
keinen maßgeblichen Bezug zum Inland aufweist und
3.
auch nach deutschem Recht eine rechtswidrige Tat ist, die den Tatbestand eines Strafgesetzes verwirklicht oder bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts auch nach deutschem Recht eine solche Tat wäre, und bei konkreter Abwägung der widerstreitenden Interessen das schutzwürdige Vertrauen des Verfolgten in seine Nichtauslieferung nicht überwiegt.
Ein maßgeblicher Bezug der Tat zum Inland liegt in der Regel vor, wenn die Tathandlung vollständig oder in wesentlichen Teilen im Geltungsbereich dieses Gesetzes begangen wurde und der Erfolg zumindest in wesentlichen Teilen dort eingetreten ist. Bei der Abwägung sind insbesondere der Tatvorwurf, die praktischen Erfordernisse und Möglichkeiten einer effektiven Strafverfolgung und die grundrechtlich geschützten Interessen des Verfolgten unter Berücksichtigung der mit der Schaffung eines Europäischen Rechtsraums verbundenen Ziele zu gewichten und zueinander ins Verhältnis zu setzen. Liegt wegen der Tat, die Gegenstand des Auslieferungsersuchens ist, eine Entscheidung einer Staatsanwaltschaft oder eines Gerichts vor, ein deutsches strafrechtliches Verfahren einzustellen oder nicht einzuleiten, so sind diese Entscheidung und ihre Gründe in die Abwägung mit einzubeziehen; Entsprechendes gilt, wenn ein Gericht das Hauptverfahren eröffnet oder einen Strafbefehl erlassen hat.

(3) Die Auslieferung eines Deutschen zum Zwecke der Strafvollstreckung ist nur zulässig, wenn der Verfolgte nach Belehrung zu richterlichem Protokoll zustimmt. § 41 Abs. 3 und 4 gilt entsprechend.

(4) (weggefallen)

(1) Die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden. Der Verlust der Staatsangehörigkeit darf nur auf Grund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird.

(2) Kein Deutscher darf an das Ausland ausgeliefert werden. Durch Gesetz kann eine abweichende Regelung für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsätze gewahrt sind.

(1) Hängt die Strafbarkeit einer Handlung von der Beurteilung eines bürgerlichen Rechtsverhältnisses ab, so entscheidet das Strafgericht auch über dieses nach den für das Verfahren und den Beweis in Strafsachen geltenden Vorschriften.

(2) Das Gericht ist jedoch befugt, die Untersuchung auszusetzen und einem der Beteiligten zur Erhebung der Zivilklage eine Frist zu bestimmen oder das Urteil des Zivilgerichts abzuwarten.