Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Urteil, 20. Nov. 2013 - L 6 U 5/12

ECLI:ECLI:DE:LSGST:2013:1120.L6U5.12.0A
20.11.2013

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. November 2011 wird aufgehoben und in Abänderung des Bescheides der Beklagten vom 23. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 festgestellt, dass der Arbeitsunfall vom 10. Juni 2008 als Schaden auch den Verlust der Zähne 21 und 22 umfasst.

Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Vorverfahren und beide Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig ist, ob ein Arbeitsunfall einen zusätzlichen (Gesundheitserst-)Schaden umfasst.

2

Der 1965 geborene Kläger rutschte am 10. Juni 2008 um 10.15 Uhr bei versicherter Tätigkeit (Demontage von Hilfseisen an der Anschlussbewehrung einer Bodenplatte) mit einem Fuß ab, stürzte nach vorn und prallte dabei u.a. mit dem Mund auf nach oben stehende Bewehrungsstangen. Dabei zog er sich Prellungen und Abschürfungen am rechten Unterarm sowie im Bereich des Mundes zu und schlug sich zwei Zähne aus (Unfallanzeige vom 20. Juni 2008 sowie undatierte Unfallschilderung). Die am selben Tag um 13.00 Uhr aufgesuchte Zahnärztin Dr. G. replantierte die Zähne 21 und 22 nach einer außerhalb der Mundhöhle durchgeführten Wurzelbehandlung. Vor dem Unfall fehlten beim Kläger die Zähne 12 (eingeengter Lückenschluss), 16, 17, 24, 27, 28 sowie 38 und 48. Die Zähne 11 und 21 waren überkront. Nach dem der Beklagten vorgelegten Heil- und Kostenplan sollte der Zahn 21 im Rahmen einer Brückenversorgung unter Einbeziehung der Zähne 11, 13, 23, 24 und 26 ersetzt werden.

3

In seinen beratenden Stellungnahmen vom 16. April und 30. August 2009 verwies der Zahnarzt S. darauf, dass die Zähne 21 und 22 bereits wurzelbehandelt gewesen seien. Ferner ergebe sich aus der vorgelegten Röntgenaufnahme vom 10. Juni 2008 ein horizontaler Knochenabbau mit vertikalen Einbrüchen im gesamten Gebiss. Sämtliche Oberkieferzähne seien nur noch mit dem oberen Wurzeldrittel im Knochen verankert. Dies entspreche einer fortgeschrittenen Parodontitis. Insbesondere die unfallbedingt betroffenen Zähne 21 und 22 stünden praktisch nur noch mit der Wurzelspitze im Knochen. Es sei davon auszugehen, dass diese Zähne zum Unfallzeitpunkt nur noch bedingt erhaltungswürdig gewesen seien und bereits einen Lockerungsgrad II bis III aufgewiesen hätten, so dass der Unfall nur als Gelegenheitsursache zu werten sei. Im Übrigen sei die geplante Brückenversorgung angesichts des parodontalen Gebisszustandes kontraindiziert, da die Zähne für eine festsitzende Versorgung ungeeignet erschienen und in nächster Zeit mit weiteren Zahnverlusten zu rechnen sei.

4

Mit Bescheid vom 23. April 2009 erkannte die Beklagte den Unfall vom 10. Juni 2008 in der Sache als Arbeitsunfall an und lehnte eine Kostenübernahme für zahnärztliche sowie prothetische Leistungen ab, da die Schädigung der Zähne nicht wesentlich ursächlich auf diesen zurückzuführen sei. Vielmehr hätten die vom Unfall betroffenen Zähne zu diesem Zeitpunkt bereits eine Vorschädigung in so erheblichem Ausmaß aufgewiesen, dass sie allein deshalb nicht mehr als erhaltungswürdig einzustufen gewesen seien.

5

Zur Begründung seines hiergegen am 18. Mai 2009 erhobenen Widerspruchs erklärte der Kläger, er nehme an einem Prophylaxeprogramm teil. Die letzte Vorsorgeuntersuchung habe am 13. Mai und die letzte prophylaktische Zahnreinigung am 3. Juni 2008 stattgefunden. Zahn 21 sei am 13. Oktober 2008 endgültig verloren gegangen; Zahn 22 sei nach der durchgeführten zahnärztlichen Behandlung klinisch wieder fest. Dr. G. gab unter dem 27. Mai 2009 an, die Zähne 21 und 22 seien vor dem Unfall fest gewesen und es habe eine stabile okklusale Abstützung bestanden. Nur anhand einer Röntgenaufnahme lasse sich der klinische Zustand nicht beurteilen.

6

Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2009 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und vertiefte ihre Ausführungen aus dem Ausgangsbescheid.

7

Am 17. November 2009 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und sein Anliegen weiter verfolgt. Dieses hat von Dr. G. neben weiteren Röntgenaufnahmen den Befundbericht vom 5. März 2010 beigezogen. Die Ärztin hat ausgeführt, an den Zähnen 21 und 22 habe vor dem Unfall bei optimaler klinischer Prognose nur ein leichter Knochenschaden bestanden. Die Zähne seien fest gewesen; es habe kein Zahnersatz vorgelegen. Zahn 21 sei überkront gewesen; eine Parodontitis habe nicht bestanden.

8

Ferner hat das SG von dem Direktor der Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Magdeburg Prof. Dr. Dr. G. das zusammen mit der Oberärztin Dr. K. erstellte Gutachten vom 3. Dezember 2010 nach ambulanter Untersuchung am 3. November 2010 eingeholt. Die Sachverständigen haben ergänzend mitgeteilt, Zahn 22 sei wegen zunehmender Lockerung im September 2010 extrahiert worden. Sie haben eine generalisierte chronische Parodontitis diagnostiziert, die im Oberkiefer deutlicher ausgeprägt sei als im Unterkiefer. Die Zähne 15, 14, 13, 26, 37, 36, 44, 45 und 47 wiesen eine beginnende parodontale Lockerung auf. Dem Röntgenbild vom 26. Juni 2003 sei ein horizontaler Knochenabbau mit ausgeprägten vertikalen Einbrüchen im Bereich der Zähne 17, 16, 26, 27, 36, 45 und 46 zu entnehmen. Die Wurzeln der Zähne 21 und 22 seien zu zwei Dritteln im Knochen verankert. Die Aufnahme vom 10. Juni 2008 zeige im Oberkiefer ein Fehlen der Zähne 17, 16, 12, 24, 27 und 28. Zahn 21 sei überkront; Zahn 22 sei wurzelgefüllt. Die Zähne 15, 11, 23 und 25 seien im Oberkiefer noch mit einem Wurzeldrittel knöchern verankert. Die Wurzeln der Zähne 21 und 22 wiesen dagegen nur noch eine minimale knöcherne Verankerung auf. Allerdings zeige das Orthopantomogramm vom Unfalltag apikal (zur Wurzelspitze hin) dieser Zähne dreieckige Aufhellungen, die belegten, dass beide Zähne vor dem Unfall zumindest mit dem Wurzeldrittel im Knochen fixiert gewesen seien. Im Vergleich zur Voraufnahme zeige sich damit eine gravierende Verschlechterung der parodontalen Situation. Auf der Aufnahme vom 27. Mai 2010 weise nur die zum Zahn 23 liegende Wurzelseite von Zahn 22 eine geringfügige knöcherne Verankerung auf. Im Ergebnis sei der Verlust der Zähne 21 und 22 als unfallbedingt anzusehen und die damit verbundenen zahnärztlichen Behandlungen folglich auf den Unfall zurückzuführen. Nach der Röntgenaufnahme vom 26. März 2003 seien beide Zähne zu dieser Zeit noch zu zwei Dritteln im knöchernen Zahnfach verankert gewesen. Zu ihrem Lockerungsgrad im Unfallzeitpunkt lasse sich keine Aussage treffen. Trotz der lege artis durchgeführten primären zahnärztlichen Behandlung seien vom Unfallzeitpunkt bis zur Replantation zwei Stunden und 45 Minuten vergangen. Nach wissenschaftlichem Kenntnisstand bestehe bei einer Zahnluxation (zur Gewährleistung optimaler Erfolgschancen) die Notwendigkeit der sofortigen Reposition in das zugehörige Zahnfach und der Ruhigstellung über einen Schienenverband. Denn durch die rasche Ausbildung eines Hämatoms in der Alveole werde die anatomische Reposition mit zunehmender Zeit erschwert. Angesichts der parodontalen Situation sei anstatt einer festsitzenden Brückenkonstruktion eine teleskopierende Modellgussprothese anzuraten.

9

Die Beklagte hat hierzu die ergänzende Stellungnahme Herrn S. vom 14. Februar 2011 vorgelegt. Dieser hat darin eingeschätzt, beim vorliegenden Ausgangsbefund habe auch ein bestimmungsgemäßer Gebrauch der Struktur jederzeit eine Zahnlockerung bewirken können, die im weiteren Verlauf den Verlust der Zähne bedingt haben würde. Auch ohne das Unfallereignis sei die gleiche zahnärztliche Behandlung wie geschehen indiziert gewesen.

10

Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. haben hierzu unter dem 5. Mai 2011 darauf verwiesen, dass nach den Mitteilungen Dr. G. keine prothetischen Maßnahmen geplant, der hygienische Zustand der Zähne einwandfrei und die Zähne 21 und 22 im Mai und Anfang Juni 2008 klinisch fest gewesen seien. Auch nur noch zu einem Drittel knöchern verankerte Zähne könnten der Kaudruckbelastung im physiologisch tolerierbaren Bereich standhalten. Ob und wann der Verlust der Zähne 21 und 22 ohne traumatisches Ereignis eingetreten wäre, lasse sich nicht einschätzen.

11

Mit Urteil vom 29. November 2011 hat das SG die Klage abgewiesen und hierzu in den Gründen ausgeführt: Der Verlust der Zähne 21 und 22 sei angesichts der vor dem Arbeitsunfall bestehenden Situation nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf diesen zurückzuführen. So hätten vor dem Unfall von den 16 Zähnen des Oberkiefers sechs gefehlt (17, 16, 24, 27, 28 und 12). Zwei weitere Zähne (11 und 21) seien überkront und die Wurzeln der Zähne 15, 11, 23 und 25 nur zu einem Drittel im Knochen verankert gewesen. Auch die Sachverständigen hätten nur vier Oberkieferzähne (18, 14, 22 und 26) als nicht auffällig beschrieben. Wie sich aus den Röntgenbildern ergebe, sei bis zum Jahre 2008 eine gravierende Verschlechterung der parodontalen Situation eingetreten, womit die Angaben Dr. G. widerlegt seien.

12

Gegen das ihm am 7. Dezember 2011 zugestellte Urteil hat der Kläger am 4. Januar 2012 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt und sich auf die Mitteilungen und Bewertungen von Dr. G. sowie Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. gestützt.

13

Der Kläger beantragt,

14

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 29. November 2011 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 23. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 aufzuheben und festzustellen, dass der Arbeitsunfall vom 10. Juni 2008 als Schaden auch den Verlust der Zähne 21 und 22 umfasst.

15

Die Beklagte beantragt,

16

die Berufung zurückzuweisen.

17

Sie verteidigt die Entscheidung des SG. Dieses habe zutreffend herausgearbeitet, dass das Unfallereignis unter Berücksichtigung des massiven Vorschadens nur eine rechtlich unwesentliche Gelegenheitsursache für den Verlust der Zähne gewesen sei.

18

Der Senat hat den Zahnarzt Dr. E. nach Aktenlage mit der Erstellung des Gutachtens vom 21. Februar 2013 beauftragt. Dieser ist zu dem Ergebnis gelangt, der Arbeitsunfall habe den Verlust der Zähne 21 und 22 nicht mit Wahrscheinlichkeit wesentlich verursacht. Vielmehr sei er mit absoluter Sicherheit als Gelegenheitsursache anzusehen. Denn die Vorschädigung sei so massiv gewesen, dass auch eine ganz gewöhnliche Kaubelastung des täglichen Lebens für den Verlust ausgereicht habe. Darin, dass beim Kläger bereits zum Unfallzeitpunkt eine ausgeprägte schicksalhafte Parodontalerkrankung bestanden habe, seien sich alle eingeschalteten Gutachter und Sachverständigen einig. Unter Bezugnahme auf von ihm beigefügte Literatur hat der Dr. E. erläutert, dass Zähne nicht im knöchernen Zahnbett zementiert, sondern hierin durch den Zahnhalteapparat (Bindegewebsstruktur mit Sharpey'schen Fasern) elastisch befestigt seien und so eine begrenzte physiologische Beweglichkeit aufwiesen. Da eine Parodontalerkrankung auch ohne entzündliche Prozesse und klinische Symptome ablaufen könne, werde sie vom Betroffenen oft überhaupt nicht bemerkt und könne dann nur röntgenologisch nachgewiesen werden. Der Röntgenaufnahme vom 26. Juni 2003 sei das Vorliegen einer generalisierten Parodontalerkrankung deutlich zu entnehmen. Auf den Folgeaufnahmen vom 10. Juni 2008 und 27. Mai 2010 komme dann ihr volles Ausmaß zur Darstellung.

19

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe

20

Die nach § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte, form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) und auch ansonsten zulässige Berufung hat Erfolg.

21

Der Kläger kann sein Anliegen zulässigerweise als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage nach den §§ 54 Abs. 1, 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG verfolgen (vgl. hierzu Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 5. September 2006 – B 2 U 24/05 R – SozR 4-2700 § 8 Nr. 18). Mit dem angefochtenen Bescheid hat die Beklagte – anknüpfend an den ihr vorgelegten Heil- und Kostenplan – zwar zunächst eine Kostenübernahme abgelehnt. Hierin erschöpft sich der Verwaltungsakt vom 23. April 2009 indessen nicht. Vielmehr enthält er darüber hinaus auch dahin Regelungen im Sinne des § 31 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch, dass der Unfall vom 10. Juni 2008 als Arbeitsunfall anerkannt wird und die Schädigung der Zähne auf diesen nicht ursächlich zurückzuführen sei. Dass sich diese Verfügungen im Begründungsteil des Bescheides finden, ist vorliegend unschädlich. Denn nach seinem "Empfängerhorizont" konnte der Kläger ihn nur so verstehen, dass der Wille der Beklagten (vgl. § 133 Bürgerliches Gesetzbuch) gerade darauf abzielte, nicht lediglich die Kosten einer aktuell geplanten Versorgung abzulehnen, sondern eine durch den Arbeitsunfall bedingte Schädigung der Zähne ganz generell auszuschließen (vgl. zur Auslegung von Verwaltungsakten BSG, Urteil vom 22. Juni 2004 – B 2 U 36/03 R – juris). Ebenso steht der Umstand, dass zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses ein endgültiger Verlust "nur" bei Zahn 21 aufgetreten war, der Antragsfassung nicht entgegen. Sie ist auf die Anerkennung gerichtet, dass der Arbeitsunfall vor allem auch eine Schädigung der Zähne 21 und 22 umfasst, die sich nachfolgend im Hinblick auf den letztgenannten Zahn ebenfalls im Sinne eines endgültigen Verlustes konkretisiert hat. Genau darüber ist von der Beklagten im angefochtenen Bescheid entschieden worden.

22

Dass der Kläger mit dieser Feststellungsklage von seiner im Klageverfahren zunächst noch begehrten Übernahme der Kosten für zahnärztliche und prothetische Leistungen abgerückt ist, beinhaltet eine Klageänderung, in die die Beklagte eingewilligt hat. Darüber hinaus ist sie angesichts der zahnärztlich übereinstimmend als kontraindiziert bewerteten ursprünglichen Versorgung sachdienlich, womit Zulässigkeit im Sinne von § 99 Abs. 1 SGG vorliegt.

23

Die Feststellungsklage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23. April 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2009 beschwert den Kläger deshalb im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil der Verlust der Zähne 21 und 22 als weiterer (Gesundheitserst-)Schaden des Arbeitsunfalls vom 10. Juni 2008 anzuerkennen ist.

24

Nachgewiesene Gesundheitsstörungen sind einem Arbeitsunfall (als zusätzliche Schäden/Folgen) zuzurechnen, wenn zwischen dem Unfallereignis und ihnen – entweder direkt oder vermittelt durch einen beim Arbeitsunfall eingetretenen Gesundheitserstschaden – ein Ursachenzusammenhang im Sinne von § 8 Abs. 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung – besteht. Dabei gilt der Beweismaßstab der hinreichenden Wahrscheinlichkeit. Sie liegt vor, wenn bei vernünftiger Abwägung aller Umstände mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden, sodass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann. Die bloße Möglichkeit einer Verursachung genügt dagegen nicht. Dabei setzt die im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltende "Theorie der wesentlichen Bedingung" in Eingrenzung der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie, nach der jede nicht hinwegzudenkende Bedingung (conditio-sine-qua-non) kausal ist, voraus, dass das versicherte Geschehen wegen seiner besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich beteiligt war. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besonderen Beziehungen der Ursache zum Eintritt des Erfolgs (Gesundheitsschaden) wertend abgeleitet werden. Gesichtspunkte hierfür können insbesondere die Art und das Ausmaß der versicherten Einwirkung und das Gewicht gegebenenfalls vorhandener konkurrierender Ursachen sein. Erst wenn feststeht, dass ein bestimmtes Ereignis eine naturwissenschaftliche Ursache für einen Erfolg ist, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage nach einer wesentlichen Verursachung des Erfolgs durch das Ereignis (vgl. BSG, Urteil vom 12. April 2005 – B 2 U 27/04 R – SozR 4-2700 § 8 Nr. 15; Urteil vom 9. Mai 2006 – B 2 U 1/05 R – SozR 4-2700 § 8 Nr. 17; Urteil vom 15. Mai 2012 – B 2 U 31/11 R – NZS 2012, 909).

25

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist es hinreichend wahrscheinlich, dass der Verlust der Zähne 21 und 22 durch den Arbeitsunfall vom 10. Juni 2008 wesentlich (mit-)verursacht worden ist.

26

Zunächst liegen Zweifel daran fern, dass das Unfallgeschehen vom 10. Juni 2008 als eine naturwissenschaftliche Bedingung des Zahnverlustes wirksam geworden ist. Denn ohne den Sturz des Klägers wären die Zähne zu diesem Zeitpunkt jedenfalls nicht ausgeschlagen worden. Hiergegen wenden sich weder Herr S. noch Dr. E., deren Einschätzung des Unfalls als Gelegenheitsursache vielmehr die naturwissenschaftliche Kausalität voraussetzt. Daneben ist nach den insoweit gleichlautenden Feststellungen sämtlicher eingeschalteten Fachärzte als weitere naturwissenschaftliche Ursache ein Vorschaden zu berücksichtigen.

27

Als Vorschaden ist beim Kläger durch die Behandlungsunterlagen und sachverständig ausgewerteten bildgebenden Befunde von Dr. G. entgegen deren anderslautender Einschätzung eine ausgeprägte Parodontitis belegt. Bereits im Jahre 2003 fehlten von den insgesamt 16 Oberkieferzähnen des Klägers sechs (16, 17, 24, 27, 28 und 12). Außerdem waren die Zähne 11 und 21 überkront. Durch den Vergleich der Röntgenaufnahmen vom 26. Juni 2003 und 10. Juni 2008 ist nachgewiesen, dass innerhalb dieser fünf Jahre eine gravierende Verschlechterung der parodontalen Situation mit einem Fortschreiten des horizontalen Knochenabbaus und ausgeprägten vertikalen Einbrüchen eingetreten ist, wie auch Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. bestätigt haben. Von den vom Unfall unbeeinträchtigten Oberkieferzähnen 18, 15, 14, 13, 11, 23, 25 und 26 waren nur noch die Zähne 15, 11, 23 und 25 mit einem Drittel ihrer Wurzel knöchern verankert.

28

Auch angesichts dieses Vorschadens ist der Verlust der Zähne dem Arbeitsunfall jedoch rechtlich wesentlich zuzurechnen. Denn der Vorschaden ist nach Überzeugung des Senats entgegen den Annahmen von Dr. E. und Herrn S. nicht als derart überragend zu veranschlagen, dass er der Unfalleinwirkung die Qualität einer erheblich mitwirkenden Bedingung vollständig nimmt. Beide Zahnmediziner haben zwar die Ansicht vertreten, eine ganz gewöhnliche Kaubelastung des täglichen Lebens habe für den Verlust der Zähne ausgereicht bzw. eine solche habe jederzeit eine Zahnlockerung mit nachfolgendem Verlust im weiteren zeitlichen Verlauf bewirken können. Insoweit leuchtet aber schon nicht ein, weshalb Zahn 21 derartigen Einwirkungen dann überhaupt vier und Zahn 22 sogar 27 Monate standgehalten hat. Rechtlich maßgeblich kommt es aber gerade darauf an, ob der Vorschaden so weit fortgeschritten war, dass der Erfolg (hier Verlust der Zähne) zu (etwa) derselben Zeit – und nicht irgendwann in der Zukunft – auch durch eine Alltagsbelastung bewirkt worden wäre (vgl. nur BSG, Urteil vom 30. Januar 2007 – B 2 U 8/06 R – juris). Um nachvollziehbar zu sein, muss sich eine solche Prognose auf objektiv feststellbare Umstände stützen können, deren tatsächliche Grundlagen vollbeweislich belegbar sind. Hier sprechen bereits die zeitlichen Abstände zwischen dem Unfallereignis und den Zeitpunkten der endgültigen Zahnverluste beachtlich der auf die Zähne innerhalb dieser Zeiträume einwirkenden Kaubelastungen stark gegen die Thesen der beiden Fachärzte.

29

Zudem ist nicht ersichtlich und wird von Dr. E. und Herrn S. auch nicht erläutert, weshalb die Zähne 21 und 22 sich am Unfalltag nicht in einem ähnlichen Zustand befunden haben sollen, wie ihre unmittelbaren Nachbarzähne 11 und 23. Soweit Herr S. insoweit nach dem Röntgenbild vom 10. Juni 2008 aufgrund des Zustandes nach Retransplantation davon ausgegangen ist, dass die Zähne 21 und 22 praktisch nur noch mit der Wurzelspitze knöchernen Kontakt hatten, kann sich der Senat dem nicht anschließen. Denn zwar haben auch Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. diesen Röntgenbefund bestätigt. Zugleich haben sie jedoch unwidersprochen darauf hingewiesen, dass durch die auf dem Orthopantomogramm vom Unfalltag ersichtlichen dreieckigen Aufhellungen über den Wurzeln dieser Zähne ihre zuvor bestehende knöcherne Fixierung mit einem Wurzeldrittel belegt wird. Diese radiologische Situation stellt in sich auch keinen Widerspruch dar. Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. haben unter Bezugnahme auf die von ihnen zitierte Literatur nämlich nachvollziehbar dargestellt, dass mit zunehmendem Zeitabstand zwischen Avulsion und Replantation infolge rascher Hämatombildung in der Alveole die Reposition erschwert wird. Auch hiergegen haben sich weder Herr S. noch Dr. E. gewandt. Insoweit wird durch die Sachverständigen aber zugleich eine plausible Erklärung dafür geliefert, weshalb Dr. G. die Zähne nicht in genau der Tiefe repositionieren konnte, die sie zuvor hatten. Die Vermutung, wonach die Zähne 21 und 22 zum Unfallzeitpunkt praktisch nur noch minimalen Wurzelkontakt zum Knochen hatten, ist damit entkräftet. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass sie seinerzeit ebenso wie ihre unmittelbaren Nachbarzähne zumindest noch mit einem Wurzeldrittel knöchern fixiert waren.

30

Schließlich darf auch die klinische Situation zur Erhärtung bzw. Entkräftung der Hypothese, ob sich der Zahnschaden auch ohne Unfalleinwirkung zur (annähernd) gleichen Zeit durch jedes andere austauschbare Alltagsereignis verwirklicht hätte, nicht unberücksichtigt bleiben. Auch wenn sich das Ausmaß einer Parodontitis nach den Ausführungen Dr. E.s im Wesentlichen nur bildgebend feststellen lässt, kann allein der radiologische Gebissstatus den von Dr. G. kurze Zeit vor dem Unfall festgestellten klinischen Befund doch nicht widerlegen. Nach diesem wiesen die Zähne 21 und 22 sowohl am 13. Mai als auch am 3. Juni 2008 eine optimale klinische Prognose auf, die keine Veranlassung zu irgendeiner prothetischen Versorgung gab. Folglich spricht auch die klinische Situation für eine im Unfallzeitpunkt (noch) ausreichend feste Einbindung der Zähne im Kiefer. Auch hierauf haben Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K. nachvollziehbar hingewiesen.

31

Insgesamt muss damit zwar von einem allmählichen unfallunabhängigen Fortschreiten der Parodontitis ausgegangen werden, von der auch die Zähne 21 und 22 nicht verschont geblieben sind. Eine zum Unfallzeitpunkt auf alltägliche Belastungen jederzeit ansprechende Verlustbereitschaft bei nahezu vollständig fehlender knöcherner Verankerung und korrespondierender klinischer Situation ist andererseits jedoch gerade nicht (voll) zu sichern bzw. sogar widerlegt. Im Ergebnis kommt dem Vorschaden in Relation zum Unfallgeschehen folglich kein derartiges Gewicht zu, dass beim Senat ernste Zweifel an einer wesentlichen Teilursächlichkeit des Unfalls für den Zahnschaden verbleiben. Er folgt deshalb der lebensnahen Bewertung von Prof. Dr. Dr. G. und Dr. K., wonach sich eben keine Aussage dazu treffen lässt, ob und wann der Verlust der Zähne 21 und 22 ohne traumatisches Ereignis eingetreten wäre.

32

Nach alledem war der Berufung stattzugeben.

33

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

34

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor, weil es sich bei der Entscheidung um die Würdigung der tatsächlichen Umstände des vorliegenden Einzelfalls auf sicherer Rechtsgrundlage gehandelt hat.


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(3) Die Berufungsschrift soll das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

Verwaltungsakt ist jede Verfügung, Entscheidung oder andere hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist. Allgemeinverfügung ist ein Verwaltungsakt, der sich an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis richtet oder die öffentlich-rechtliche Eigenschaft einer Sache oder ihre Benutzung durch die Allgemeinheit betrifft.

Bei der Auslegung einer Willenserklärung ist der wirkliche Wille zu erforschen und nicht an dem buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften.

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(2) Die Einwilligung der Beteiligten in die Änderung der Klage ist anzunehmen, wenn sie sich, ohne der Änderung zu widersprechen, in einem Schriftsatz oder in einer mündlichen Verhandlung auf die abgeänderte Klage eingelassen haben.

(3) Als eine Änderung der Klage ist es nicht anzusehen, wenn ohne Änderung des Klagegrunds

1.
die tatsächlichen oder rechtlichen Ausführungen ergänzt oder berichtigt werden,
2.
der Klageantrag in der Hauptsache oder in bezug auf Nebenforderungen erweitert oder beschränkt wird,
3.
statt der ursprünglich geforderten Leistung wegen einer später eingetretenen Veränderung eine andere Leistung verlangt wird.

(4) Die Entscheidung, daß eine Änderung der Klage nicht vorliege oder zuzulassen sei, ist unanfechtbar.

Das Landessozialgericht prüft den Streitfall im gleichen Umfang wie das Sozialgericht. Es hat auch neu vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel zu berücksichtigen.

(1) Durch Klage kann die Aufhebung eines Verwaltungsakts oder seine Abänderung sowie die Verurteilung zum Erlaß eines abgelehnten oder unterlassenen Verwaltungsakts begehrt werden. Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist, ist die Klage zulässig, wenn der Kläger behauptet, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts beschwert zu sein.

(2) Der Kläger ist beschwert, wenn der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts rechtswidrig ist. Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist Rechtswidrigkeit auch gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

(3) Eine Körperschaft oder eine Anstalt des öffentlichen Rechts kann mit der Klage die Aufhebung einer Anordnung der Aufsichtsbehörde begehren, wenn sie behauptet, daß die Anordnung das Aufsichtsrecht überschreite.

(4) Betrifft der angefochtene Verwaltungsakt eine Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, so kann mit der Klage neben der Aufhebung des Verwaltungsakts gleichzeitig die Leistung verlangt werden.

(5) Mit der Klage kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte.

(1) Arbeitsunfälle sind Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach § 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeit (versicherte Tätigkeit). Unfälle sind zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Wird die versicherte Tätigkeit im Haushalt der Versicherten oder an einem anderen Ort ausgeübt, besteht Versicherungsschutz in gleichem Umfang wie bei Ausübung der Tätigkeit auf der Unternehmensstätte.

(2) Versicherte Tätigkeiten sind auch

1.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit,
2.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges, um
a)
Kinder von Versicherten (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wegen ihrer, ihrer Ehegatten oder ihrer Lebenspartner beruflichen Tätigkeit fremder Obhut anzuvertrauen oder
b)
mit anderen Berufstätigen oder Versicherten gemeinsam ein Fahrzeug zu benutzen,
2a.
das Zurücklegen des unmittelbaren Weges nach und von dem Ort, an dem Kinder von Versicherten nach Nummer 2 Buchstabe a fremder Obhut anvertraut werden, wenn die versicherte Tätigkeit an dem Ort des gemeinsamen Haushalts ausgeübt wird,
3.
das Zurücklegen des von einem unmittelbaren Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit abweichenden Weges der Kinder von Personen (§ 56 des Ersten Buches), die mit ihnen in einem gemeinsamen Haushalt leben, wenn die Abweichung darauf beruht, daß die Kinder wegen der beruflichen Tätigkeit dieser Personen oder deren Ehegatten oder deren Lebenspartner fremder Obhut anvertraut werden,
4.
das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben,
5.
das mit einer versicherten Tätigkeit zusammenhängende Verwahren, Befördern, Instandhalten und Erneuern eines Arbeitsgeräts oder einer Schutzausrüstung sowie deren Erstbeschaffung, wenn diese auf Veranlassung der Unternehmer erfolgt.

(3) Als Gesundheitsschaden gilt auch die Beschädigung oder der Verlust eines Hilfsmittels.

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2011 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses zurückverwiesen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger unter Anerkennung einer "mittelgradigen depressiven Störung" als Unfallfolge ab 1.3.1998 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen ist.

2

Der Kläger war ab August 1995 als Gepäckabfertiger bei der damaligen Flughafen AG beschäftigt. Am 13.1.1997 wurde er bei der Ausübung der Beschäftigung zwischen einem Containertransporter sowie einem Gepäckcontainer-Anhänger eingeklemmt. Dadurch wurden sein dritter Finger links und sein Kniegelenk links gequetscht. Folgen dieser Verletzungen lagen über den 18.7.1997 hinaus nicht mehr vor.

3

Der Kläger wurde wegen des Unfalls zunächst ambulant, wegen anhaltender Beschwerden im linken Kniegelenk ab April 1997 in einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik stationär behandelt. Danach wurde eine Arbeitserprobung durchgeführt, die wegen gesundheitlicher Beschwerden abgebrochen wurde.

4

Anschließend fand eine Vielzahl von Behandlungen statt, die bis November 1999 überwiegend durch Durchgangsärzte erfolgten und im Auftrag und zulasten der Beklagten durchgeführt wurden. Diese Maßnahmen zur Diagnose und zur Heilbehandlung waren aber rückwirkend betrachtet nur zum Teil durch die Unfallfolgen bedingt. Zum anderen Teil beruhten sie auf unfallunabhängigen Vorschäden am linken Kniegelenk.

5

Der Kläger befand sich unter der Diagnose einer chronifizierten Depression ab März 1998 bei einer Diplom-Psychologin und ab April 1998 bei einem Psychiater in Behandlung. Vom 8.9. bis 3.10.1998 fand eine stationäre Behandlung in einer Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie statt, wo eine Angstneurose mit Panikattacken sowie eine Störung der Impulskontrolle diagnostiziert wurden.

6

Die Beklagte bewilligte dem Kläger einen ersten Vorschuss auf die voraussichtlich zu zahlende Verletztenrente (Vorschussbescheid vom 8.9.1998). Weitere Vorschusszahlungen folgten. Die Beklagte lehnte zunächst dennoch die "Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung über den 18.7.1997 hinaus" ab (Bescheid vom 27.9.2002). Den hiergegen vom Kläger erhobenen Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 11.3.2005 zurück. Später bewilligte und zahlte die Beklagte dem Kläger rückwirkend und durchgängig vom Unfalltag bis zum 30.9.2002 Verletztengeld.

7

Das SG Gießen hat die Beklagte durch Urteil vom 3.7.2008 verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer mittelgradigen depressiven Störung als Folge des Arbeitsunfalls ab 19.7.1997 Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH zu zahlen.

8

Das Hessische LSG hat der Berufung der Beklagten insoweit stattgegeben, als die Verletztenrente erst am 1.3.1998 beginne, und sie im Übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 26.9.2011). Bei dem Kläger liege eine dauerhafte psychische Erkrankung im Sinne einer chronifizierten depressiven Episode vor. Diese sei in "rechtlich-wesentlichem Umfang" durch den Verlauf der Heilbehandlung der unmittelbaren körperlichen Verletzungen aufgrund des Arbeitsunfalls verursacht worden. Die Heilbehandlung sei zwar rückwirkend betrachtet durch erhebliche degenerative Vorschäden bedingt gewesen. Für die Zurechnung mittelbarer Unfallfolgen komme es aber nicht darauf an, dass die Maßnahmen der Heilbehandlung von der Beklagten angeordnet worden seien. Vielmehr reiche es für die Zurechnung im Rahmen des § 11 Abs 1 SGB VII aus, wenn der Unfallversicherungsträger oder der ihm rechtlich zuzuordnende Durchgangsarzt bei seinem Handeln den objektivierbaren Anschein oder den Rechtsschein gesetzt habe, dass die Behandlung oder Untersuchung zur berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung oder zur Untersuchung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet werde und der Versicherte der Auffassung sein könne, dass die Heilbehandlung geeignet sei, die Unfallfolgen zu bessern oder zu beseitigen.

9

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und rügt die Verletzung der §§ 11 Abs 1, 56 Abs 1, 72 Abs 1 sowie 74 Abs 2 SGB VII. Das LSG habe durch seine Auslegung § 11 Abs 1 SGB VII verletzt, da als Ursache der Erkrankung letztlich nicht die Durchführung einer Heilbehandlung oder eine Untersuchung zur Klärung des Versicherungsfalls gesehen werde, sondern vielmehr die Art und Weise des Ablaufs der Heilbehandlung, die - jedenfalls aus Sicht des Klägers - zu Problemen geführt habe. Die Zurechnung zu den Unfallfolgen dürfe nicht aufgrund der subjektiven Einschätzung des Klägers erfolgen, weil dieser die Maßnahmen aus seiner Sicht für undurchschaubar halte und sich durch Zuständigkeitsfragen zwischen Ärzten oder Trägern belastet fühle. Unsicherheiten, die aus dem Wechsel der behandelnden Ärzte oder deren Diagnosestellung herrührten, seien aber durch § 11 SGB VII nicht geschützt. Das LSG habe auch weder festgestellt, dass die Maßnahmen zulasten des Unfallversicherungsträgers angeordnet worden seien, noch festgestellt, dass es sich um die Behandlung von Unfallfolgen gehandelt habe, noch dass diese durchgangsärztlich zu ihren Lasten angeordnet worden seien. Darüber hinaus verletze die Festlegung des Rentenbeginns durch das LSG §§ 72 Abs 1, 74 Abs 2 SGB VII, da dem Kläger rückwirkend bis einschließlich 30.9.2002 Verletztengeld gezahlt worden sei. Das Urteil beruhe zudem auf Verfahrensfehlern (Verletzung von §§ 62, 103 SGG).

10

Die Beklagte beantragt,

        

die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. September 2011 und des Sozialgerichts Gießen vom 3. Juli 2008 aufzuheben und die Klagen abzuweisen.

11

Der Kläger beantragt,

        

die Revision zurückzuweisen.

12

Er hält das Urteil des LSG für zutreffend. Insbesondere handele es sich bei der diagnostizierten mittelgradigen Depression um eine mittelbare Unfallfolge iS des § 11 SGB VII.

Entscheidungsgründe

13

Die Revision der Beklagten ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung durch das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

14

In dem Rechtsstreit wegen Feststellung einer Unfallfolge und Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH (1.) kann der Senat auf der Grundlage der vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden, ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen gemäß § 8 Abs 1 SGB VII unmittelbar durch den Arbeitsunfall wesentlich verursacht worden sind (2. a>) oder ob und ggf welche psychischen Gesundheitsstörungen als mittelbare Unfallfolgen iSd § 11 Abs 1 SGB VII festzustellen sind (2. b>). Es kann auch nicht abschließend beurteilt werden, ob ein Anspruch auf Verletztenrente iSd § 56 Abs 1 SGB VII besteht (3. a>). Soweit das LSG erneut zu dem Ergebnis gelangen sollte, dass ein Anspruch auf Verletztenrente gegeben ist, kann ein solcher gemäß § 72 Abs 1 SGB VII nicht für Zeiten vor dem 1.10.2002 bestehen (3. b>).

15

1. Die Beklagte wendet sich mit der Revision gegen das Urteil des LSG, mit dem dieses die Berufung gegen das den Anfechtungsklagen wegen der ablehnenden Verwaltungsakte in den Bescheiden der Beklagten (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG), den Klagen auf Feststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge (§ 55 Abs 1 Nr 3 SGG) sowie auf Zahlung einer Verletztenrente (§ 54 Abs 4 SGG)nach einer MdE um 30 vH stattgebende Urteil des SG im Wesentlichen bestätigt hat. Der Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob das LSG Bundesrecht verletzt hat, da dessen tatsächliche Feststellungen keine abschließende Beurteilung der geltend gemachten Ansprüche erlauben.

16

Die Beklagte hat (spätestens) in dem angefochtenen Bescheid in der Gestalt des Widerspruchsbescheides festgestellt, dass der Kläger am 13.1.1997 einen Arbeitsunfall mit den Gesundheitserstschäden am dritten Finger links und am Kniegelenk links erlitten hat. Daher richten sich dessen Anfechtungsklagen gegen die Ablehnung eines Anspruchs auf Feststellung einer chronifizierten depressiven Episode als Unfallfolge und die Ablehnung eines Rechts auf Verletztenrente.

17

Mit der Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 3 SGG kann der Kläger den behaupteten materiellen Anspruch auf Feststellung der Unfallfolge durchsetzen, ohne dass er daran durch seine Befugnis zur Erhebung einer Verpflichtungsklage gehindert wäre. Denn er kann zwischen beiden Rechtsschutzformen wählen, weil sie, soweit um Ansprüche auf Feststellung von Unfallfolgen (oder Versicherungsfällen) gestritten wird, grundsätzlich gleich rechtsschutzintensiv sind (vgl BSG Urteil vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, RdNr 12 f). Für das Begehren auf Verletztenrente hat er die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs 4 SGG zulässig mit der unechten Leistungsklage auf Gewährung einer Verletztenrente kombiniert.

18

2. Nach § 102 SGB VII haben die Versicherten gegen den zuständigen Unfallversicherungsträger einen Anspruch auf Feststellung einer Unfallfolge (oder eines Versicherungsfalls), wenn ein Gesundheitsschaden durch den Gesundheitserstschaden eines Versicherungsfalls oder infolge der Erfüllung eines Tatbestandes des § 11 SGB VII rechtlich wesentlich verursacht wird. Der Gesundheitsschaden muss sicher feststehen (Vollbeweis) und durch Einordnung in eines der gängigen Diagnosesysteme (zB ICD-10, DSM IV) unter Verwendung der dortigen Schlüssel exakt bezeichnet werden.

19

a) Es steht schon nicht sicher fest, welche Gesundheitsstörung bei dem Kläger genau vorliegt.

20

Zwar steht aufgrund der Feststellungen des LSG fest, dass auf "orthopädisch/chirurgischem und neurologischem" Fachgebiet über den 18.7.1997 hinaus keine Folgen des Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 vorliegen. Das LSG hat aber nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit festgestellt, welche psychische Gesundheitsstörung beim Kläger vorliegt, denn die Bezeichnung der Erkran-kung im Tenor weicht von derjenigen in den Gründen ab. Nach den Gründen der Entscheidung liegt beim Kläger eine mittelgradige depressive Episode nach "F 33.1" des ICD-10 vor. Im Tenor hat das LSG dagegen als Unfallfolge eine "mittelgradige depressive Störung" festgestellt.

21

b) Der Senat kann auch nicht abschließend beurteilen, ob eine ggf vorliegende mittelgradige depressive Episode iSv F 33.1 ICD-10 "infolge" des Versicherungsfalls besteht.

22

Das LSG hat nicht geprüft, ob die psychische Gesundheitsstörung eine solche iSd § 8 Abs 1 SGB VII ist. Das wäre anzunehmen, wenn sie unmittelbar durch den beim Versicherungsfall ausgelösten Gesundheitserstschaden verursacht worden ist. Die genau zu bezeichnende Gesundheitsstörung ist also als Unfallfolge festzustellen, wenn im wieder eröffneten Berufungsverfahren festzustellen ist, dass zwischen dem beim Arbeitsunfall vom 13.1.1997 eingetretenen Erstschaden und der psychischen Gesundheitsstörung ein unmittelbarer und rechtlich wesentlicher Ursachenzusammenhang besteht (haftungsausfüllende Kausalität).

23

c) Der Senat kann schon mangels Klarheit über das Vorliegen einer unmittelbaren Unfallfolge auch nicht abschließend entscheiden, ob die psychische Störung dem Versicherungsfall vom 13.1.1997 nach § 11 SGB VII als mittelbare Unfallfolge zuzurechnen ist. Das wird das LSG bei Verneinung einer unmittelbaren Unfallfolge aber zu prüfen haben.

24

Nach § 11 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB VII sind Folgen eines Versicherungsfalls auch solche Gesundheitsschäden oder der Tod eines Versicherten, die durch die Durchführung einer Heilbehandlung nach dem SGB VII oder durch Maßnahmen wesentlich verursacht wurden, welche zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls angeordnet wurden. Diese Vorschrift regelt, dass auch solche Gesundheitsschäden, die durch die Erfüllung der in ihr umschriebenen Tatbestände wesentlich verursacht werden, dem Versicherungsfall rechtlich zugerechnet werden. Diese mittelbaren Folgen müssen - anders als nach § 8 Abs 1 SGB VII - nicht durch den Gesundheitserstschaden verursacht worden sein(vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274 mwN).

25

Mit dieser Entscheidung hat der Senat seine Rechtsprechung zum früheren Recht fortgeführt. Bereits für die Bejahung des nach § 555 Abs 1 RVO erforderlichen ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Arbeitsunfall und der Heilbehandlung genügte es, dass der Verletzte, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, von seinem Standpunkt aus der Auffassung sein konnte, dass die Heilbehandlung, zu deren Durchführung er sich begeben hat, geeignet ist, der Beseitigung oder Besserung der durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörungen zu dienen. Schon zu jener Vorschrift hat das BSG entschieden, dass es nicht erforderlich ist, dass die Heilbehandlung wegen Folgen des Arbeitsunfalls objektiv geboten war (BSG vom 24.6.1981 - 2 RU 87/80 - BSGE 52, 57, 58 = SozR 2200 § 555 Nr 5).

26

Hieran ist mit der Maßgabe festzuhalten, dass § 11 Abs 1 SGB VII nun darauf abstellt, dass die Mitwirkung an einer vom Träger angeordneten ärztlichen Maßnahme sich auch dann als versichert erweist, wenn sich später herausstellt, dass in Wirklichkeit kein Versicherungsfall vorlag. Allerdings setzt die Zurechnung eines Gesundheitsschadens, der rechtlich wesentlich durch eine iSv § 11 Abs 1 SGB VII vom Unfallversicherungsträger angeordnete Maßnahme verursacht wurde, die bisherige Rechtsprechung eingrenzend voraus, dass der Träger oder seine Leistungserbringer gegenüber dem durch die Verrichtung einer bestimmten versicherten Tätigkeit Versicherten durch (festgestellte) Handlungen den Anschein begründet haben, die Behandlungs- oder Untersuchungsmaßnahme erfolge zur Behandlung von Unfallfolgen (oder zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalles oder einer Unfallfolge). Hieran hält der Senat auch im Hinblick auf die an seiner Rechtsprechung geäußerte Kritik (vgl Gundolf Wagner in juris PraxisReport 9/12 Anm 2) fest (wie der Senat wohl auch Krasney, in Becker ua, Kommentar zum SGB VII, § 11 RdNr 15; aA auch Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 11 RdNr 3; G. Wagner in jurisPK-SGB VII, § 11 RdNr 15; Holtstraeter in K/S/W, Kommentar zum Sozialrecht, § 11 SGB VII RdNr 2; Rapp in LPK-SGB VII, § 11 RdNr 1; Schmitt, SGB VII, 4. Aufl 2009, § 11 RdNr 4; Schwerdtfeger in Lauterbach, UV-SGB VII, Stand April 2007, § 11 SGB VII RdNr 4).

27

Auch die Prüfung des Ursachenzusammenhangs zwischen einer Gesundheitsstörung und einer der nach § 11 Abs 1 SGB VII tatbestandlichen Maßnahmen erfolgt nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Dabei ist auf einer ersten Prüfungsstufe zu fragen, ob der Versicherungsfall eine naturwissenschaftlich-philosophische Bedingung für den Eintritt der Gesundheitsstörung ist. Dabei ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nach den einschlägigen Erfahrungssätzen nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (aa). Wenn festzustellen ist, dass der Versicherungsfall eine (von möglicherweise vielen) Bedingungen für den Erfolg - hier die psychische Störung - ist, ist auf der ersten Prüfungsstufe weiter zu fragen, ob es für den Eintritt des Erfolgs noch andere Ursachen iS der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie gibt (bb); das können Bedingungen aus dem nicht versicherten Lebensbereich wie zB Vorerkrankungen, Anlagen, nicht versicherte Betätigungen oder Verhaltensweisen sein (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 15). Erst wenn sowohl der Versicherungsfall als auch andere Umstände als Ursachen des Gesundheitsschadens feststehen, ist auf einer zweiten Prüfungsstufe rechtlich wertend zu entscheiden, welche der positiv festzustellenden adäquaten Ursachen für die Gesundheitsstörung die rechtlich "Wesentliche" ist (cc). Dasselbe gilt für die Frage, ob eine MdE vorliegt und im Wesentlichen durch Unfallfolgen verursacht wurde.

28

aa) Der Senat kann nicht entscheiden, ob die Erkrankung des Klägers eine mittelbare Unfallfolge nach § 11 Abs 1 Nr 1 oder Nr 3 SGB VII ist oder keine Unfallfolge war.

29

Ob sich eine medizinische Maßnahme als Durchführung einer Heilbehandlung (§ 11 Abs 1 Nr 1 SGB VII) oder als Maßnahme zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls (§ 11 Abs 1 Nr 3 SGB VII)durch die Beklagte darstellt, beurteilt sich danach, wie der Versicherte ein der Beklagten zuzurechnendes Verhalten bei verständiger Würdigung der objektiven Gegebenheiten zum Zeitpunkt ihrer Durchführung verstehen kann und darf (vgl BSG vom 5.7.2011 - B 2 U 17/10 R - BSGE 108, 274, RdNr 43).

30

Ob der Kläger zum Zeitpunkt der jeweiligen ärztlichen Behandlungen diese nach den objektiven Gegebenheiten als solche der Beklagten verstehen musste, steht nicht sicher fest. Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 11 Abs 1 SGB VII spricht zwar, dass die fraglichen Maßnahmen durch D-Ärzte und BG-Kliniken veranlasst wurden und die Beklagte deren Kosten trug. Das LSG hat aber nicht mit der gebotenen Deutlichkeit festgestellt, dass die verschiedenen von Ärzten veranlassten Maßnahmen sich nicht nur nach der subjektiven Wahrnehmung des Klägers zur Zeit ihrer Erbringung, sondern auch nach den objektiven Gegebenheiten für den Kläger als Heilbehandlung der Beklagten oder als deren Maßnahmen zur Aufklärung des Sachverhalts eines Versicherungsfalls darstellten.

31

bb) Das LSG hat auch keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob und ggf welche anderen Ursachen als der Versicherungsfall das Vorliegen der psychischen Erkrankung naturwissenschaftlich-philosophisch verursacht haben.

32

Aus dem Fehlen solcher Feststellungen kann andererseits nicht gefolgert werden, dass die Verwirklichung eines Tatbestands nach § 11 Abs 1 Nr 1 und 3 SGB VII die einzige Ursache der bestehenden Gesundheitsstörung war. Denn das LSG hat bei der Abwägung der Beiträge, die verschiedene Ursachen für das Entstehen der MdE haben, also auf der (zweiten) Stufe zur Prüfung der "Wesentlichkeit" von (verschiedenen) Ursachen, Vorerkrankungen des Klägers auf psychischem Gebiet sowie das Bestehen weiterer, nicht mit dem Arbeitsunfall in Verbindung stehender Faktoren, zB familiäre Probleme, bejaht. Ohne (ausdrückliche) Feststellung dazu, ob und inwieweit diese nicht dem versicherten Risiko zuzurechnenden Ursachen naturwissenschaftlich-philosophisch wirksam geworden sind, ist das LSG sogleich in die rechtliche Wertung eingetreten und hat den Versicherungsfall als die wesentliche Ursache für das Bestehen der Erkrankung bezeichnet.

33

cc) Falls bei erneuter Prüfung des Klagebegehrens festgestellt werden sollte, dass für die Erkrankung sowohl der Versicherungsfall als auch andere Ursachen im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne vorliegen, ist nach der Theorie der wesentlichen Bedingung (zweite Stufe) zu prüfen, ob der Versicherungsfall die psychische Störung "wesentlich" verursacht hat. Unter Berücksichtigung der verschiedenen nach Erfahrungssätzen notwendigen oder hinreichenden Ursachen ist abzuwägen, welche von ihnen die rechtlich Wesentliche ist.

34

Bei der Überzeugungsbildung des Tatsachengerichts genügt für die Feststellung des naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachenzusammenhangs der Beweisgrad der hinreichenden Wahrscheinlichkeit (stRspr BSG vom 2.2.1978 - 8 RU 66/77 - BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38 S 105 f; BSG vom 30.4.1985 - 2 RU 43/84 - BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr 1 S 3 f). Dieser ist erfüllt, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht; allein die Möglichkeit eines Ursachenzusammenhangs genügt dagegen nicht (BSG vom 9.5.2006 - B 2 U 1/05 R - BSGE 96, 196 = SozR 4-2700 § 8 Nr 17, RdNr 20; BSG vom 18.1.2011 - B 2 U 5/10 R - SozR 4-2700 § 200 Nr 3).

35

3. a) Aus den gleichen Gründen kann der Senat nicht entscheiden, ob der Kläger einen Anspruch auf Verletztenrente hat.

36

Gemäß § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls - hier des anerkannten Arbeitsunfalls vom 13.1.1997 - über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert (MdE) ist, Anspruch auf Rente. Die Höhe der Rente richtet sich ua nach dem Umfang der sich aus der Beeinträchtigung des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens ergebenden verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens (§ 56 Abs 2 Satz 1 SGB VII).

37

Auch insoweit wird das LSG zu prüfen haben, ob eine MdE "infolge" des Arbeitsunfalls besteht. Hierfür gelten die oben zu 2. dargelegten Grundsätze entsprechend.

38

b) Sollte das LSG in dem erneuten Berufungsverfahren einen Anspruch auf Verletztenrente nach § 56 Abs 1 SGB VII bejahen, wird zu beachten sein, dass dieser erst am Tag nach Erlöschen des dem Kläger bewilligten Rechts auf Verletztengeld beginnen kann.

39

Zwar kann der Anspruch auf Verletztenrente - anders als das LSG meint - grundsätzlich bereits am Tag nach dem Versicherungsfall beginnen, wenn bereits zu diesem Zeitpunkt feststeht, dass eine MdE über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus vorliegen wird (zB bei Verlust eines Körperteils) und ein gesetzlich vorrangiger Anspruch nicht besteht.

40

Hier hat das LSG seine Entscheidung aber unter Verletzung von § 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII getroffen. Nach dieser Vorschrift beginnt ein Rentenanspruch erst, nachdem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Renten werden danach an Versicherte erst von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem der Anspruch auf Verletztengeld geendet hat. Nach dem Wortlaut der Vorschrift kommt es nicht darauf an, ob Verletztengeld gezahlt worden ist, sondern darauf, ob ein Anspruch auf diese Leistung bestand. Die Regelung verfolgt den Zweck, Doppelleistungen aus dem System der GUV, insbesondere den zeitgleichen Bezug von Verletztengeld und Verletztenrente, zu vermeiden.

41

Für die vom Kläger geführte Anfechtungs- und Leistungsklage wegen Verletztenrente ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung maßgeblich. Zu diesem Zeitpunkt stand und steht zwischen den Beteiligten durch Verwaltungsakt bindend fest, dass der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Verletztengeld vom Unfalltag durchgehend bis 30.9.2002 hat. Eine mögliche Verletztenrente (§ 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII) kann daher erst nach dem 30.9.2002, also nach dem Ende des Zeitraums beginnen, für den Verletztengeld zustand (§ 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII; § 74 Abs 2 SGB VII ist nicht anwendbar, da der Anspruch auf Verletztengeld nicht aufgrund einer erneuten Arbeitsunfähigkeit infolge Wiedererkrankung eingetreten ist; siehe dazu Kranig in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 74 RdNr 13).

42

4. Da das Urteil des LSG aufzuheben und zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr über die Frage, ob die Beklagte zulässige und begründete Verfahrensrügen gegen das Urteil des LSG erhoben hat.

43

5. Das LSG hat mit der im wiedereröffneten Berufungsverfahren zu treffenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden. Dabei wird ggf zu berücksichtigen sein, dass dem Kläger eine Verletztenrente nicht - wie begehrt - ab Juli 1997, sondern erst ab 1.10.2002 zusteht.

(1) Das Gericht hat im Urteil zu entscheiden, ob und in welchem Umfang die Beteiligten einander Kosten zu erstatten haben. Ist ein Mahnverfahren vorausgegangen (§ 182a), entscheidet das Gericht auch, welcher Beteiligte die Gerichtskosten zu tragen hat. Das Gericht entscheidet auf Antrag durch Beschluß, wenn das Verfahren anders beendet wird.

(2) Kosten sind die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen der Beteiligten.

(3) Die gesetzliche Vergütung eines Rechtsanwalts oder Rechtsbeistands ist stets erstattungsfähig.

(4) Nicht erstattungsfähig sind die Aufwendungen der in § 184 Abs. 1 genannten Gebührenpflichtigen.

(1) Gegen das Urteil eines Landessozialgerichts und gegen den Beschluss nach § 55a Absatz 5 Satz 1 steht den Beteiligten die Revision an das Bundessozialgericht nur zu, wenn sie in der Entscheidung des Landessozialgerichts oder in dem Beschluß des Bundessozialgerichts nach § 160a Abs. 4 Satz 1 zugelassen worden ist.

(2) Sie ist nur zuzulassen, wenn

1.
die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder
2.
das Urteil von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.
ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der geltend gemachte Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs. 1 Satz 1 und auf eine Verletzung des § 103 nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das Landessozialgericht ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

(3) Das Bundessozialgericht ist an die Zulassung gebunden.