Landessozialgericht Baden-Württemberg Beschluss, 27. Feb. 2018 - L 6 SB 2931/17

bei uns veröffentlicht am27.02.2018

Tenor

Die Verhängung von Missbrauchskosten im Gerichtsbescheid des Sozialgerichts H. vom 29. Juli 2017 wird aufgehoben.

Gründe

 
I.
In dem durch Klagerücknahme beendeten Rechtsstreit begehrte der Klägerin die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 und damit die Schwerbehinderteneigenschaft.
Mit Bescheid vom 9. März 2015 stellte das Landratsamt H. den GdB mit 40 seit 18. Februar 2015 fest, wobei es sich auf die Bewertung des versorgungsärztlichen Dienstes stützte, der einen Teil-GdB von 30 für degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen und ein Schulter-Arm-Syndrom sowie einen Teil-GdB von 30 für eine seelische Störung zugrunde legte. Die Funktionsbehinderung beider Kniegelenke sowie der Bluthochdruck bedingten danach jeweils keinen Teil-GdB von mindestens 10. Das dagegen geführte Widerspruchsverfahren blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid des Regierungspräsidiums S. vom 6. November 2015).
Die Klägerin hat ihr Begehren mit der am 16. November 2015 beim SG H. (SG) erhobenen Klage weiterverfolgt und geltend gemacht, dass insbesondere die orthopädischen/chirurgischen Befunde eine Anhebung des GdB auf 50 erforderten und auch die psychische Erkrankung im oberen Bereich ausgefüllt sei. Hinsichtlich des Morbus Bechterew sei die Befundung im Widerspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen gewesen und insoweit bestünde weiterer Aufklärungsbedarf von Amts wegen. Es werde beantragt, die behandelnde Hausärztin sowie den psychologischen Psychotherapeuten Dipl.-Psych. S., bei dem die Klägerin einmal in der Woche in Behandlung sei, als sachverständige Zeugen zu hören.
Das SG hat sachverständige Zeugenaussagen bei den behandelnden Ärzten Dr. H. (Allgemeinärztin), dem Chirurg Dr. S., der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie K. und Dr. B. (Oberarzt in der Abteilung Orthopädie und Unfallchirurgie der V. Klinik in B.) eingeholt. Zudem hat Dipl.-Psych. S. einen Bericht übersandt, ohne dass das SG ihn dazu beauftragt hatte. Während die behandelnden Ärzte von orthopädischer Seite der Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes zugestimmt haben, hat Dr. H. mitgeteilt, dass sie mit der Bewertung nicht übereinstimme und ihres Erachtens die Behinderungen nicht gänzlich erfasst seien. Sie gehe von einem chronischen Schmerzsyndrom aus, das zusätzlich mit einem Teil-GdB von 10 zu berücksichtigen sei und insgesamt einen GdB von 50 als angemessen erscheinen lasse. Die Nervenärztin K. hat aufgrund einer punktuellen Vorstellung 2015 nur berichten können, dass sich die während der früheren Behandlung im Jahr 2011 erhobenen psychischen Befunde nicht gebessert hätten. Dipl.-Psych. S. hat von einer aktuellen depressiven Krise aufgrund der zurückliegenden Trennung und der weiter schwelenden Trennungskonflikte mit dem zweiten Ehemann berichtet. Außer zu den Kindern und Enkelkindern bestünden keine tragfähigen sozialen Kontakte. Es werde eine antidepressive Medikation (Citalopram, aktuell Umstellung auf Mirtazapin) durchgeführt sowie eine parallele psychiatrische Mitbehandlung. Nachdem die Klägerin als aktuelle Psychiaterin Dr. G. mitgeteilt hatte, hat das SG auch von dieser eine sachverständige Zeugenaussage eingeholt, in der sie von einer derzeit mittelgradig ausgeprägten depressiven Symptomatik berichtet hat, im Übrigen aber keine gutachterliche Äußerung abgeben wollte, um die Behandlung nicht zu stören.
Das SG hat die Klägerin darauf hingewiesen, dass die Klage zurückgenommen werden sollte. Angesichts der Diagnose, des Schweregrades und der Dosierung der Medikamente, sei der Teil-GdB von 30 durchaus ausreichend. Ergänzend hat das SG auf § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hingewiesen. Nachdem die Klägerin weitere Sachverhaltsermittlung von Amts wegen sowohl auf psychiatrischem als auch auf orthopädischem Gebiet angeregt hatte, hat das SG mitgeteilt, dass die behandelnden Orthopäden den orthopädischen Teil-GdB bestätigt hätten und das Gericht nicht ins Blaue ermitteln würde. Im daraufhin nach § 109 SGG eingeholten orthopädischen Gutachten von Dr. R. hat dieser ebenfalls einen Teil-GdB von 30 auf orthopädischem Gebiet als angemessen eingeschätzt. Mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2016 ist die Klägerin zum einen dem Gutachten entgegengetreten und hat zum anderen nunmehr eine Hauterkrankung der Hände angeführt, wegen der sie beim Hautarzt Dr. F. in Behandlung sei, dessen Anhörung als sachverständiger Zeuge sie ausdrücklich beantrage. Mit Verfügung vom 2. Februar 2017 hat das SG die Beteiligten zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört und zugleich darauf hingewiesen, dass hinsichtlich des Gutachtensergebnisses von Dr. R. voraussichtlich auch über Missbrauchskosten nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG entschieden werden müsse. Nachdem die Klägerin einer Verhängung von Missbrauchskosten entgegengetreten war, hat das SG mit Verfügung vom 28. Februar 2017 mitgeteilt, dass es die Weiterführung des Rechtsstreits als missbräuchlich erachte, da er offensichtlich aussichtslos sei. Der Gerichtsbescheid werde nicht vor dem 15. März 2017 ergehen.
Mit Gerichtsbescheid vom 29. Juni 2017 hat das SG die Klage abgewiesen und der Klägerin Missbrauchskosten nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Höhe von 600 Euro auferlegt. Die Klage sei rechtsmissbräuchlich fortgeführt worden, da – nachdem sogar der Sachverständige auf eigenes Kostenrisiko den Gesamt-GdB von 40 bestätigt habe – kein sachlicher Grund vorgelegen habe, das offensichtlich aussichtslose Klageverfahren fortzuführen.
Nach Einlegung der Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg hat die Klägerin die Klage im Erörterungstermin vom 19. Februar 2018 zurückgenommen und die Aufhebung der Missbrauchskosten beantragt. Zur Begründung ihres Antrags hat die Klägerin vorgetragen, dass die Voraussetzungen für die Verhängung von Missbrauchskosten nicht erfüllt seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakten beider Instanzen Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Aufhebung der vom SG verhängten Missbrauchskosten ist zulässig.
10 
Nach § 192 Abs. 3 Satz 1 SGG wird die Entscheidung über die Festsetzung von Missbrauchskosten nach § 192 Abs. 1 SGG in ihrem Bestand nicht durch die Rücknahme der Klage berührt. Sie kann nur durch eine zu begründende Kostenentscheidung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden (§ 192 Abs. 3 Satz 2 SGG). Nach der Rücknahme der Klage und dem entsprechenden Antrag der Klägerin im Erörterungstermin vom 19. Februar 2018 war eine Entscheidung des Senats über den Fortbestand der Verhängung von Missbrauchskosten zu treffen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 27. März 2013 - L 1 U 5076/12 -, nicht veröffentlicht; Knittel in Hennig, SGG, Stand August 2009, § 192 Rz. 18a).
11 
Der Antrag ist auch begründet. Die Verhängung von Missbrauchskosten ist aufzuheben.
12 
Nach § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG kann das Gericht im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist.
13 
Ein Missbrauch im Sinne dieser Regelung ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Rechtsstreit trotz offensichtlicher Aussichtslosigkeit weitergeführt wird (BT-Drs. 14/6335, S. 33). Dabei genügt nach der geltenden Fassung des § 192 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die objektive Aussichtslosigkeit (LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 26. Juni 2003 - L 12 AL 3537/02 -; Hessisches LSG, Urteil vom 11. Dezember 2002 - L 6 AL 1000/01 -, jeweils zit. n. juris; Knittel a.a.O., § 192 Rz. 12; a.A. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 192 Rz. 9a) dann, wenn die weitere Rechtsverfolgung von jedem Einsichtigen als völlig aussichtslos angesehen werden muss. Diese Auslegung entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Missbrauchsgebühr in § 34 Abs. 2 Bundesverfassungsgerichtsgesetz (vgl. BVerfG, Beschluss vom 3. Juli 1995 - 2 BvR 1379/95 -, juris, Rz. 10 m.w.N.). Die Rechtsprechung des BVerfG ist auch zur Auslegung des § 192 SGG heranzuziehen, denn Wortlaut und Zweck beider Vorschriften stimmen überein (Urteil des Senats vom 26. September 2013 - L 6 U 1529/13 -, juris, Rz. 46).
14 
Vorliegend ist der Senat der Auffassung, dass die Klage vor dem SG zum Zeitpunkt der Entscheidung durch Gerichtsbescheid noch nicht die Schwelle der Missbräuchlichkeit erreicht hatte. Denn die Fortführung des Rechtsstreits musste nicht jedem Einsichtigen völlig aussichtslos erscheinen. Zutreffend ist zwar, dass der Sachverhalt hinsichtlich der orthopädischen Beeinträchtigungen der Klägerin bereits durch die sachverständigen Zeugenaussagen der behandelnden Orthopäden dahin aufgeklärt war, dass sich die Einschätzung des versorgungsärztlichen Dienstes bestätigt hatte. Bekräftigt wurde dies zudem durch das auf Antrag der Klägerin eingeholte Gutachten von Dr. R.. Eine Fortführung des Rechtsstreits allein wegen der orthopädischen Beschwerden wäre damit tatsächlich als aussichtslos zu bewerten gewesen. Die Klägerin hatte sich jedoch auch auf Beeinträchtigungen auf nervenärztlichem Gebiet gestützt, deren Bewertung nicht von vornherein unumstritten war. Im Gegenteil hatte die Hausärztin Dr. H. ein chronisches Schmerzsyndrom befundet und mitgeteilt, dass unter dessen Berücksichtigung der GdB mit 50 zu bemessen sei. Aus dem übersandten Bericht des Dipl.-Psych. S. sowie der Auskünfte der früheren Nervenärztin K. und der aktuell behandelnden Dr. G. ergab sich zudem das Vorliegen einer mittelgradig ausgeprägten depressiven Symptomatik, die sich gegenüber der früheren Situation jedenfalls nicht verbessert hatte und zwischenzeitlich medikamentös und gesprächstherapeutisch behandelt wurde. Darüber hinaus hatte die Klägerin zuletzt auf eine Hauterkrankung ihrer Hände hingewiesen und die Befragung ihres Hautarztes Dr. F. beantragt, was das SG übergangen hat.
15 
Hinsichtlich der letzteren Aspekte – psychische Beeinträchtigungen und Hauterkrankung der Hände – war es daher nicht missbräuchlich, um eine gerichtliche Entscheidung nachzusuchen. Im Hinblick auf die psychische Erkrankung stützte zumindest die Hausärztin das Begehren der Klägerin und es lagen Auskünfte vor, die nicht von vornherein zur Anspruchsstützung ungeeignet waren. Die zudem neu eingeführte Hauterkrankung hätte ebenfalls geeignet sein können, einen höheren GdB zu begründen. Auch wenn die Klage dann im Ergebnis trotzdem abzuweisen gewesen wäre, kann der Klägerin gleichwohl nicht der Vorwurf gemacht werden, sie hätte die Klage hinsichtlich dieser Aspekte weiterverfolgt, obwohl jeder Einsichtige sie zurückgenommen hätte. Denn auch ein einsichtiger Dritter hätte bei dieser Sachlage nicht jede Hoffnung auf einen günstigen Ausgang aufgeben müssen, weil jede andere Würdigung der erheblichen Tatsachen schlechterdings unvertretbar gewesen wäre (vgl. Knittel a.a.O., § 192 Rz. 13a).
16 
Die Verhängung von Missbrauchskosten konnte vor diesem Hintergrund keinen Bestand haben.
17 
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde anfechtbar (§ 177 SGG).

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Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 177


Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters können vorbehaltlich des § 160a Abs. 1 dieses Gesetzes und des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialger

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 109


(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschieß

Sozialgerichtsgesetz - SGG | § 192


(1) Das Gericht kann im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass 1. durch Verschulden des Beteiligten die Vertagung einer mün

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(1) Auf Antrag des Versicherten, des behinderten Menschen, des Versorgungsberechtigten oder Hinterbliebenen muß ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört werden. Die Anhörung kann davon abhängig gemacht werden, daß der Antragsteller die Kosten vorschießt und vorbehaltlich einer anderen Entscheidung des Gerichts endgültig trägt.

(2) Das Gericht kann einen Antrag ablehnen, wenn durch die Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag nach der freien Überzeugung des Gerichts in der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden ist.

(1) Das Gericht kann im Urteil oder, wenn das Verfahren anders beendet wird, durch Beschluss einem Beteiligten ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass

1.
durch Verschulden des Beteiligten die Vertagung einer mündlichen Verhandlung oder die Anberaumung eines neuen Termins zur mündlichen Verhandlung nötig geworden ist oder
2.
der Beteiligte den Rechtsstreit fortführt, obwohl ihm vom Vorsitzenden die Missbräuchlichkeit der Rechtsverfolgung oder -verteidigung dargelegt worden und er auf die Möglichkeit der Kostenauferlegung bei Fortführung des Rechtsstreites hingewiesen worden ist.
Dem Beteiligten steht gleich sein Vertreter oder Bevollmächtigter. Als verursachter Kostenbetrag gilt dabei mindestens der Betrag nach § 184 Abs. 2 für die jeweilige Instanz.

(2) (weggefallen)

(3) Die Entscheidung nach Absatz 1 wird in ihrem Bestand nicht durch die Rücknahme der Klage berührt. Sie kann nur durch eine zu begründende Kostenentscheidung im Rechtsmittelverfahren aufgehoben werden.

(4) Das Gericht kann der Behörde ganz oder teilweise die Kosten auferlegen, die dadurch verursacht werden, dass die Behörde erkennbare und notwendige Ermittlungen im Verwaltungsverfahren unterlassen hat, die im gerichtlichen Verfahren nachgeholt wurden. Die Entscheidung ergeht durch gesonderten Beschluss.

Entscheidungen des Landessozialgerichts, seines Vorsitzenden oder des Berichterstatters können vorbehaltlich des § 160a Abs. 1 dieses Gesetzes und des § 17a Abs. 4 Satz 4 des Gerichtsverfassungsgesetzes nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden.