Landgericht Waldshut-Tiengen Beschluss, 20. Feb. 2006 - 1 T 161/05

bei uns veröffentlicht am20.02.2006

Tenor

Auf die Beschwerde des Betreuers wird der Beschluss des Amtsgerichts W. vom 13.9.2005 aufgehoben.

Die vormundschaftsgerichtliche Genehmigung zur Anordnung des Betreuers, die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei der Betroffenen abzubrechen, und zur Versagung der Einwilligung, die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr fortzusetzen, wird erteilt.

Gründe

 
1. Für die Betroffene besteht seit 11.01.1999 eine Betreuung für die Aufgabenkreise Vermögenssorge, Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge und Postempfang. Betreuer ist der Ehemann Dr. H. B.. Die Betreuung wurde durch Beschluss vom 7.01.2004 bis zum 6.1.2009 verlängert. Grund für die Anordnung der Betreuung war eine ärztliche diagnostizierte Hirnleistungsminderung gewesen. Seit 8.12.1997 befindet sich die Betroffene im Pflegeheim M-Haus. Am 16.3.1999 wurde ihr zur Sicherstellung der Ernährung eine PEG-Sonde gelegt. Bei den Anhörungen durch das Amtsgericht vor Anordnung bzw. Verlängerung der Betreuung am 17.12.1998 und Genehmigung eines Bettgitters am 11.2.2003 war eine Verständigung mit ihr nicht möglich.
Am 8.4.2004 stellte der Ehemann und Betreuer den Antrag, den Abbruch der künstlichen Ernährung vormundschaftsgerichtlich zu genehmigen. Zur Begründung gab er an, seine Ehefrau sei seit vielen Jahren krankheitsbedingt unumkehrbar bewusstlos und kommunikationsunfähig, sie könne weder verbal noch nonverbal kommunizieren. Sie habe ihm gegenüber vorher wiederholt geäußert, sie wolle nicht in einem Zustand einer unumkehrbaren Bewusstlosigkeit künstlich am Leben gehalten werden. Jedenfalls entspreche dies ihrem mutmaßlichen Willen. Dem Antrag waren eine ärztliche Stellungnahme des Krankenhauses W. und schriftliche Äußerungen von Freunden der Familie B. beigefügt. Nach Bestellung einer Verfahrenspflegerin holte das Amtsgericht eine weitere ärztliche Stellungnahme des Krankenhauses W., eine Stellungnahme der Betreuungsbehörde und sodann ein fachneurologisches Gutachten über den Zustand der Betroffenen, die Prognose für die Zukunft und die möglichen Folgen eines Abbruchs der Ernährung ein. Auf die Stellungnahmen und das Gutachten Dr. E. wird Bezug genommen. Am 16.6.2005 wurde der Betroffenen anstelle der PEG-Sonde eine Nasensonde gelegt.
Das Amtsgericht hörte sodann den Ehemann und Betreuer an, vernahm die Bekannten bzw. Freunde der Familie T., E. Br., W. Br. und H. als Zeugen und suchte die Betroffene persönlich auf.
Durch Beschluss vom 13.9.2005 lehnte es den Antrag auf Abbruch der lebensverlängernden Maßnahmen ab; auf die Begründung des Beschusses wird Bezug genommen. Gegen diesen Beschluss richtet sich die am 27.9.2005 eingegangene Beschwerde des Ehemanns, mit der er insbesondere geltend macht, das Gericht habe zu Unrecht die Fortdauer der früheren Äußerungen der Betroffenen zu lebensverlängernden Maßnahmen bezweifelt. Bei irreversibler Bewusstlosigkeit fehle für die weitere künstliche Ernährung im Zweifel die mutmaßliche Einwilligung des Patienten. Wegen des Fehlens der Einwilligung sei die künstliche Ernährung daher rechtswidrig. Die jetzige Existenz der Betroffenen sei nach allgemeinen Überzeugungen nicht menschenwürdig.
Die Kammer hat den übrigen Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Ferner hat sie eine ärztliche Stellungnahme des Facharztes für Allgemeinmedizin Z. S. über den aktuellen gesundheitlichen Zustand der Betroffenen eingeholt und sich einen eigenen Eindruck von der Situation der Betroffenen im M-Haus verschafft, wobei der Pflegedienstleiter, die Stationsschwester, der Ehemann der Betroffenen und die Verfahrenspflegerin angehört wurden; auf das Protokoll vom 18.01.2006 (AS 287) wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die erwähnten Schriftsätze und den gesamten Akteninhalt Bezug genommen.
2. Die Beschwerde des Betreuers ist zulässig und begründet:
a) Mit dem Amtsgericht ist davon auszugehen, dass die Entscheidung des Betreuers, die Einwilligung in die Fortführung der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei der Betroffenen zu verweigern und damit den Abbruch dieser Maßnahmen zu veranlassen, der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf (vgl. dazu und zum folgenden BGH NJW 03, 1588). Der Betreuer hat bei seiner Entscheidung dem Willen des Betroffenen nach Maßgabe des § 1901 BGB Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Maßgebend sind die - auch früher geäußerten - Wünsche des Betroffenen, sofern sie sich feststellen lassen, nicht durch entgegenstehende Bekundungen widerrufen sind und dem Wohl des Betreuten nicht zuwiderlaufen. Dabei wirkt eine Willensbekundung, mit der der Patient seine Einwilligung in Maßnahmen der in Frage stehenden Art für eine Situation, wie sie jetzt eingetreten ist, erklärt oder verweigert hat, fort, falls der Patient sie nicht widerrufen hat. Sie kann etwa in einer „Patientenverfügung“ zum Ausdruck gekommen sein und ist als Ausdruck des fortwirkenden Selbstbestimmungsrechts, aber auch der Selbstverantwortung des Betroffenen für den Betreuer bindend. Ist eine Willensbekundung nicht festzustellen, bedeutet eine Orientierung am Wohl des Betroffenen, dass die Entscheidung gem. § 1901 Abs. 2 S. 2 BGB aus der Sicht des Betreuten - das heißt nach seinen Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen - zu treffen ist. In jedem Fall ist das Unterlassen oder der Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen nur zulässig, wenn das Grundleiden des Patienten nach ärztlicher Überzeugung unumkehrbar (irreversibel) ist und einen tödlichen Verlauf angenommen hat. Nicht erforderlich ist, dass der Tod in kurzer Zeit bevorsteht (OLG Karlsruhe NJW 04, 1882).
b) Im vorliegenden Fall ist mit dem Amtsgericht davon auszugehen, dass die Erkrankung der Betroffenen irreversibel in Richtung auf einen tödlichen Verlauf ist. Wie der Sachverständige Dr. E. ausgeführt hat, leidet die Betroffene an einem langjährigen schweren dementiellen Syndrom mit progredienter Tetraspastik, wobei differentialdiagnostisch Morbus Pick, Morbus Alzheimer oder andere chronisch progrediente dementielle Erkrankungen in Betracht kommen. Diese Erkrankung mit der beschriebenen Symptomatik sei unumkehrbar und werde zum Tod führen. Bei fehlender künstlicher Ernährung würde die Patientin rasch versterben, da sie nicht in der Lage sei, eigenständig Nahrung aufzunehmen. Ob sie die von der Tetraspastik ausgehende ausgeprägte Schmerzsymptomatik bewusst empfinde oder nur vegetative unbewusste Reaktionen zeige, sei nach heutigem medizinischem Wissen nicht sicher zu differenzieren. Die Betroffen sei in keiner Weise in der Lage, ihre persönliche Situation einzuschätzen oder Entscheidungen zu treffen, auch sei sie nicht in der Lage, ihren Willen zu bekunden. Diesen nach eingehenden Untersuchungen und Berücksichtung sämtlicher vorliegender ärztlicher Äußerungen gewonnen und sorgfältig begründeten Erkenntnissen des Sachverständigen ist zu folgen. Sie decken sich mit den früheren ärztlichen Stellungnahmen und entsprechen ausweislich der im Beschwerdeverfahren eingeholten ergänzenden Stellungnahme des behandelnden Arztes und der Beobachtungen des Pflegepersonals auch dem heutigen Zustand der Betroffenen, von dem sich die Kammer einen eigenen Eindruck verschafft hat. Dass der Tod in naher Zeit bevorsteht, ist angesichts der guten Pflege im M-Haus nicht zu erwarten, dies ist jedoch für die Erteilung der Einwilligung auch nicht erheblich (OLG Karlsruhe aaO). Gleichzeitig ergibt sich aus den Äußerungen des Sachverständigen, dass die Betroffene zu einer eigenen Entscheidung über die Einwilligung in das Legen bzw. Beibehalten der zur künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr erforderlichen Sonde nicht in der Lage ist.
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Nach dem Ergebnis der Ermittlungen und der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Betroffene ausdrücklich den Willen geäußert hat, in einer derartigen Situation nicht künstlich ernährt bzw. mit Flüssigkeit versorgt zu werden. Eine förmliche Äußerung im Sinne einer schriftlichen Patientenverfügung liegt allerdings nicht vor. Auch eine mündliche Patientenverfügung (zu deren Zulässigkeit vgl. Palandt/Diederichsen, vor § 1896 BGB, Rn. 9) im Sinne umfassender Anordnungen für den Fall der Unfähigkeit zur Regelung der eigenen Angelegenheiten ist nicht festzustellen. Es steht aber fest, dass die Betroffene mehrfach geäußert hat, sie wolle „so nicht enden“, sie wolle „so etwas nicht erleben“, sie wolle „so nicht existieren“, ihr Ehemann solle ihr „ein Schicksal ersparen“, wie sie es etwa bei Verwandten erlebt habe (Aussage des Ehemanns), wenn sie hilflos daliegen würde, wünsche sie „keine Verlängerung dieses Zustands“ (Zeugin T.), sie wolle „keine lebensverlängernden Maßnahmen, wenn sie nur am Leben erhalten werde und wenn keine Besserung zu erwarten sei“ (Zeugin E. Br.), sie wolle „so etwas nicht erleben“, sie wolle „nicht von Maschinen abhängig sein“ (Zeuge W. Br.), wenn so etwas bei ihr anfinge, wolle sie „lieber sterben“, nicht „in einem Pflegeheim enden oder an Maschinen angeschlossen sein“, sie würde „in Frieden leben“ und wolle auch „in Frieden sterben“ (Zeugin H.). An der Verlässlichkeit dieser Aussagen hat die Kammer keinen Zweifel. Die Äußerungen der Betroffenen sind zwar zum Teil schon vor längerer Zeit erfolgt, sie reichen aber bis in die Zeit, als sie in die heutige Lage geriet. Durch alle Äußerungen zieht sich gleich bleibend der Wille, nicht künstlich und ohne Aussicht auf Besserung am Leben gehalten zu werden, sondern in Frieden sterben zu können. Es handelt sich nicht um beiläufige, aus einer momentanen Stimmung heraus entstandene Aussagen, sondern ernsthafte, nach der Beschäftigung mit dem Problem (etwa aus Anlass ähnlicher Situationen bei Verwandten und anderen Personen) erfolgte Meinungsäußerungen.
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Dass die Äußerungen gegenüber den jetzt behandelnden Ärzten erfolgen müssten (vgl. LG Heilbronn, NJW 03, 3783), ist nach Auffassung der Kammer nicht vorauszusetzen. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies in den wenigsten Fällen gegeben sein wird. Der Wille des seine Einstellung äußernden Patienten wird dahingehen, dass dies bei Eintritt der ausweglosen Situation von seinen Vertrauenspersonen dem behandelnden Personal zur Kenntnis gebracht und dem dadurch Geltung verschafft wird.
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Für eine Änderung dieses ausdrücklich bekundeten Willens bestehen keinerlei konkrete Anhaltspunkte. Erforderlich wäre allerdings nicht unbedingt eine ausdrücklich erklärte Willensänderung, vielmehr wäre es ausreichend, „natürlich - kreatürliche Anzeichen von Lebenswillen als Widerruf eines in einer Patientenverfügung erklärten Verbots lebenserhaltender Maßnahmen zu werten“ (Kutzer, Vors. Richter am BGH, ZRP 05, 277). Keine der angehörten und vernommenen Auskunftspersonen hat über etwas derartiges berichtet. Soweit die Stationsschwester vor kurzem beim Betreten des Zimmers den Eindruck hatte, die Betroffene habe „Hilfe“ gesagt, ist dieser auf keine deutliche Wahrnehmung gestützte Eindruck zu vage, um daraus Schlussfolgerungen ziehen zu können. Abgesehen davon müsste damit nicht Hilfe gegen den Abbruch der Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr gemeint sein - von solchen Überlegungen kann die Betroffene ja nichts wissen -, vielmehr könnte auch Hilfe dazu gemeint sein, den als unerträglich empfundenen Zustand zu beenden. Allgemeine, auf keine konkreten Umstände gestützte Vermutungen, die Betroffene könnte ihre Einstellung geändert haben, reichen nicht aus, vom sicher festgestellten Willen abzuweichen. Dass die Betroffene in gewissem, allerdings stark eingeschränktem Maße auf ihre Umgebung reagieren kann, indem sie etwa die Stimmen ihres Ehemanns und des Pflegepersonals wahrzunehmen scheint (was aber eher ein Eindruck als eine Beobachtung ist) oder auf das Legen der Nasensonde mit Abwehr reagiert (!), ist kein Zeichen der Abkehr von ihrem früher erklärten Willen. Es ist Ausdruck der Würde des Menschen, das in einwilligungsfähigem Zustand ausgeübte Selbstbestimmungsrecht auch dann noch zu respektieren, wenn er zu eigenverantwortlichen Entscheidungen nicht mehr in der Lage ist (BGH NJW 03, 1588). Ihn gegen seinen Willen über viele Jahre am Leben zu erhalten und einer nach dem frei und unbeeinflusst geäußerten Willen als unerträglich angesehenen Situation auszusetzen, widerspricht seiner Menschenwürde.
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Ließe man entgegen der dargelegten Ansicht die Äußerungen der Betroffenen nicht als eindeutige Willensäußerungen ausreichen, wäre die Erteilung der Genehmigung nach dem mutmaßlichen Willen der Betroffenen zu beurteilen, der individuell, also aus den Lebensentscheidungen, Wertvorstellungen und Überzeugungen des Betroffenen zu ermitteln ist (BGH NJW 03, 1588). Aufgrund der vorstehend ausführlich wiedergegebenen Angaben sämtlicher Auskunftspersonen lässt sich der mutmaßliche Wille der Betroffenen feststellen, lebenserhaltende Maßnahmen in einer derartigen Situation für sich abzulehnen. Nicht außer Betracht bleiben kann dabei, dass die Betroffene als Ehefrau eines Arztes häufiger als andere Anlass hatte, sich mit der eigenen Position in dieser Frage auseinanderzusetzen, und dabei in besonderem Maße sachkundige Auskünfte ihres Ehemanns zur Beurteilung heranziehen konnte. Wenn sie vor diesem Hintergrund zu der Ansicht kam, lebensverlängernde Maßnahmen abzulehnen, hat die Kammer keinen Zweifel, dass es ihrem mutmaßlichen Willen entspricht, dass ihre Angehörigen, insbesondere ihr Ehemann, dem Rechnung tragen und ihr Leiden nicht über viele Jahre verlängern. Außer abstrakten Erwägungen spricht nichts, auch keine religiösen oder anderen Wertvorstellungen, für die Annahme eines anderen Willens. In dieser Situation hält es die Kammer für richtig, dem Willen der Betroffenen am besten entsprechend und keinesfalls ihrem Wohl zuwiderlaufend, die Genehmigung zu erteilen.
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Ob bei Fehlen auch eines mutmaßlichen Willens auf Kriterien zurückgegriffen werden könnte, die allgemeinen Wertvorstellungen entsprechen (in der Entscheidung des BGH NJW 03, 1588 wird dies offen gelassen), bedarf danach auch hier keiner Entscheidung mehr.
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3. Die vorliegende Entscheidung ist gerichtsgebührenfrei, § 131 Abs. 3 KostO. Anlass, die Erstattung außergerichtlicher Kosten anzuordnen, besteht nicht.

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