Landgericht Flensburg Beschluss, 21. Mai 2012 - II Qs 29/12
Tenor
Auf die Beschwerde des Angeklagten vom 15.04.2012 wird der Beschluss des Amtsgerichts Husum vom 01.03.2012 aufgehoben. Dem Angeklagten wird Rechtsanw. …, …, … als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Das Finanzverwaltungsamt Schleswig-Holstein - Landeskasse - trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen des Angeklagten.
Gründe
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Die zulässige Beschwerde ist begründet.
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Dem Angeklagten war gemäß § 140 Abs. 2. S. 1 3. Alt. StPO ein Pflichtverteidiger beizuordnen. Hiernach ist ein Pflichtverteidiger schon dann beizuordnen, wenn erhebliche Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten bestehen, sich selbst verteidigen zu können (Fischer, StPO, 51 Aufl. 2008, § 140 Rn. 30 m.w.N). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Der Angeklagte leidet ausweislich der ärztlichen Stellungnahme vom 13.12.2011, Bl. 111 d.A., unter anderem an einer paranoiden Schizophrenie, steht seit dem 14.12.2011 unter Betreuung und lebt nach Absolvierung einer stationären Drogentherapie in einem vollstationär betreuten Wohnheim. Jedenfalls die Kombination dieser Tatsachen bewirkt, dass Zweifel an der Fähigkeit des Angeklagten bestehen, sich selbst verteidigen zu können. Insbesondere macht die Unterstützung durch einen Betreuer eine Pflichtverteidigung im Strafverfahren nicht entbehrlich, da die Aufgaben des Betreuers und des Pflichtverteidigers unterschiedlich sind (OLG Nürnberg, Beschluss vom 25.07.2007, Az.: 2 Ws 452/07, zitiert nach juris). Eine psychische Erkrankung ist grundsätzlich auch geeignet, die Vertretung durch einen Pflichtverteidiger notwendig zu machen (dazu LG Bochum, Beschluss vom 20.06.2003, Az.: 10 Qs 28/03, zitiert nach juris).
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Die Bestellung des Pflichtverteidigers kann auch nach Abschluss des Verfahrens erfolgen, wenn der Antrag auf Beiordnung rechtzeitig gestellt wird. Der Verteidiger hat mit Schriftsatz vom 05.01.2012 und damit vor Einstellung des Verfahrens am 09.01.2012 seine notwendige Beiordnung beantragt. Entgegen der Auffassung des Amtsgerichts, die auch von mehreren Obergerichten geteilt wird (u.a. OLG Bamberg, Beschluss vom 15.10.2007, 1 Ws 675/07, zitiert nach beck online; OLG Düsseldorf, NStZ-RR 1996, 171) vertritt die Kammer nicht die Auffassung, dass die Beiordnung in keinem Fall -also auch wenn der Antrag rechtzeitig gestellt worden war- nach Beendigung des Verfahrens noch erfolgen kann. Die Möglichkeit einer nachträglichen Bestellung des Pflichtverteidigers jedenfalls bei rechtzeitiger Antragstellung wird u.a. auch vertreten von LG Potsdam, Beschluss vom 25.08.2004,Az.: 24 Qs 90/03, zitiert nach beck online; LG Bremen NStZ-RR 2004, 113; LG Stuttgart, Beschluss vom 18.07.2008, Az.: 7 Qs 64/08 mit weiteren Rechtsprechungsnachweisen zitiert nach beck online.
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Würde man die Auffassung der genannten Oberlandesgerichte vertreten, hätte es das betreffende Gericht in der Hand, den Beschluss über die Beiordnung als Pflichtverteidiger hinauszuzögern und damit möglicherweise sogar zu erreichen, dass der Verteidiger zunächst mangels Bestellung als Pflichtverteidiger beispielsweise aus Kostengründen nicht zu einer mündlichen Verhandlung erschiene und auch sonst keine frühzeitigen Aktivitäten zugunsten des Angeklagten entfaltete. Die wirksame Verteidigung des Angeklagten, die mit § 140 StPO geschützt werden soll, würde damit unterlaufen. Es wird insbesondere auf den sorgfältig begründeten Beschluss des Landgerichts Bremen a.a.O. Bezug genommen, dessen Ausführungen sich die Kammer anschließt.
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Dort heißt es auf S. 114/115:
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(…) Wenn ein Verteidiger, wie angesichts der bisher herrschenden Meinung in dieser Frage, befürchten muss, trotz Vorliegens der tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gegebenenfalls für Tätigkeiten, die er vor Erhalt des formalen Bestellungsakts zur Wahrnehmung der Verteidigungsinteressen des Beschuldigten entfaltet, keine Vergütung zu erhalten, weil -objektiv rechtswidrig- trotz rechtzeitiger Beantragung seiner Beiordnung diese infolge eines Gerichtsversehens oder aus anderen Gründen, auf die er und der Beschuldigte keinen Einfluss haben, bis zum Abschluss des Verfahrens unterbleibt, führt dies in der Konsequenz zwangsläufig auch dazu, dass derartige, der formalen Bestellung vorgreifende Tätigkeiten als "Pflichtverteidiger in spe" tendenziell eher unterbleiben werden. Dies aber wirkt sich strukturell zu Lasten des effektiven Rechtsschutzes des Beschuldigten aus (…).
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Im Übrigen kann, wie auch das LG Bremen a.a.O. ausführt, eine Parallele zum Prozesskostenhilfeverfahren gezogen werden, wo bei rechtzeitiger Antragstellung auch nach Beendigung des Verfahrens Prozesskostenhilfe bewilligt werden kann. Der Antrag auf Beiordnung ist rechtzeitig vor der Einstellung des Verfahrens eingegangen und hätte daher auch vor Einstellung des Verfahrens beschieden werden können.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 StPO analog.
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Tenor
1. Auf die Beschwerde des Angeschuldigten wird der die Bestellung eines Pflichtverteidigers ablehnende Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart - Bad Cannstatt vom 28. Mai 2008 - B1 Ds 116 Js 23393/07 AK 4741/07 -
aufgehoben.
2. Dem Angeschuldigten wird Rechtsanwalt S. als Verteidiger für das Strafverfahren bestellt.
3. Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens einschließlich der dem Angeschuldigten hierin erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
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(1) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn
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zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem Schöffengericht stattfindet; - 2.
dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird; - 3.
das Verfahren zu einem Berufsverbot führen kann; - 4.
der Beschuldigte nach den §§ 115, 115a, 128 Absatz 1 oder § 129 einem Gericht zur Entscheidung über Haft oder einstweilige Unterbringung vorzuführen ist; - 5.
der Beschuldigte sich auf Grund richterlicher Anordnung oder mit richterlicher Genehmigung in einer Anstalt befindet; - 6.
zur Vorbereitung eines Gutachtens über den psychischen Zustand des Beschuldigten seine Unterbringung nach § 81 in Frage kommt; - 7.
zu erwarten ist, dass ein Sicherungsverfahren durchgeführt wird; - 8.
der bisherige Verteidiger durch eine Entscheidung von der Mitwirkung in dem Verfahren ausgeschlossen ist; - 9.
dem Verletzten nach den §§ 397a und 406h Absatz 3 und 4 ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist; - 10.
bei einer richterlichen Vernehmung die Mitwirkung eines Verteidigers auf Grund der Bedeutung der Vernehmung zur Wahrung der Rechte des Beschuldigten geboten erscheint; - 11.
ein seh-, hör- oder sprachbehinderter Beschuldigter die Bestellung beantragt.
(2) Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt auch vor, wenn wegen der Schwere der Tat, der Schwere der zu erwartenden Rechtsfolge oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann.
(3) (weggefallen)
(1) Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last.
(2) Die Kosten des Verfahrens, die der Angeschuldigte durch eine schuldhafte Säumnis verursacht hat, werden ihm auferlegt. Die ihm insoweit entstandenen Auslagen werden der Staatskasse nicht auferlegt.
(3) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn der Angeschuldigte die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er in einer Selbstanzeige vorgetäuscht hat, die ihm zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Das Gericht kann davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er
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die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat, oder - 2.
wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.
(4) Stellt das Gericht das Verfahren nach einer Vorschrift ein, die dies nach seinem Ermessen zuläßt, so kann es davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen.
(5) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn das Verfahren nach vorangegangener vorläufiger Einstellung (§ 153a) endgültig eingestellt wird.