Landesarbeitsgericht Köln Urteil, 22. Okt. 2015 - 7 Sa 431/15
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 26.02.2015 in Sachen 3 Ca 2399/14 wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz noch um die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung der Beklagten vom 02.10.2014.
3Wegen des Sach- und Streitstandes in erster Instanz, wegen der erstinstanzlich zur Entscheidung gestellten Sachanträge und wegen der Gründe, die die 3. Kammer des Arbeitsgerichts Bonn dazu bewogen haben, der Kündigungsschutzklage in vollem Umfang stattzugeben, wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Bonn vom 26.02.2015 Bezug genommen.
4Das Urteil des Arbeitsgerichts wurde der Beklagten am 24.03.2015 zugestellt. Die Beklagte hat hiergegen am 20.04.2015 Berufung eingelegt und diese am 21.05.2015 begründet.
5Die Beklagte und Berufungsklägerin stellt zunächst klar, dass sie an der hilfsweise ausgesprochenen ordentlichen Kündigung nicht festhält, weil eine solche aus tarifvertraglichen Gründen nicht mehr möglich war.
6Darüber hinaus stellt die Beklagte klar, dass sie die außerordentliche Kündigung nicht mehr auf den Verdacht eines Arbeitszeitbetruges stützt, den die Klägerin nach dem erstinstanzlichen Vorbringen der Beklagten am Montag, den 01.09.2014 begangen haben soll.
7Im Übrigen hält die Beklagte aber an der außerordentlichen, fristlosen Kündigung vom 02.10.2014 und den zu deren Rechtfertigung erstinstanzlich vorgebrachten verhaltensbedingten Sachverhalten fest.
8So bleibt die Beklagte bei ihrer Auffassung, dass der dringende Verdacht bestehe, die Klägerin habe am Freitag, den 29. August 2014 einen (versuchten) Arbeitszeitbetrug begangen. Zu Unrecht habe das Arbeitsgericht die Voraussetzungen des dringenden Tatverdachts als nicht bewiesen angesehen. Hätte es sich mit dem Aussagegehalt der Erklärungen und den zeitlichen Abläufen näher auseinandergesetzt, hätte es zu dem Ergebnis kommen müssen, dass die Aussagen der Klägerin nicht zutreffen können, jedenfalls aber sehr unwahrscheinlich seien.
9Die Beklagte hält auch an dem Vorwurf fest, dass die Klägerin ihren Vorgesetzten durch Übersendung eines Bildschirmausdrucks darüber habe täuschen wollen, dass sie die zunächst unterbliebene Buchung von vier Urlaubstagen aus Februar/März 2014 ordnungsgemäß nachgeholt habe, obwohl dies jedenfalls im Zeitpunkt der Erstellung des Bildschirmausdrucks ersichtlich nicht der Fall gewesen sei. Jedenfalls hätte die Klägerin ihren Vorgesetzten zeitnah darüber informieren müssen, wenn nachträglich die Speicherung der nachgetragenen Urlaubstage fehlgeschlagen sein sollte.
10Den gravierendsten Pflichtverstoß sieht die Beklagte jedoch darin, dass die Klägerin anlässlich ihrer Freistellung ab dem 03.09.2014 es trotz Aufforderung unterlassen habe, sämtliche Arbeitsmittel vollständig zurückzugeben, sondern die SIM-Karte ihres Diensthandys, eine Ultrakarte und eine weitere Datenkarte behalten habe. Sie habe auch den Vorgesetzten darüber getäuscht, dass sie die technischen Geräte vollständig zurückgegeben habe.
11Ferner habe sie die dienstliche SIM-Karte verbotswidrig in ihr Privathandy eingesetzt und dazu beschädigt, indem sie sie auf Mini-Karten-Format zurechtgeschnitten habe. Schließlich habe sie auch mit Hilfe der SIM-Karte weiter private Telefonate geführt. Sie habe sich ferner trotz ihrer Freistellung in das dienstliche IT-System eingeloggt, um dort diverse Daten in ihrem Kalender zu löschen. Auch das Arbeitsgericht habe hierin einen Pflichtverstoß der Klägerin gesehen, jedoch aufgrund einer fehlerhaft durchgeführten Interessenabwägung zu Unrecht die Auffassung vertreten, dass vor Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung nochmals der Ausspruch einer Abmahnung vorrangig gewesen sei.
12Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den vollständigen Inhalt der Berufungsbegründungsschrift der Beklagten Bezug genommen.
13Die Beklagte und Berufungsklägerin beantragt nunmehr,
14das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 26.02.2015,3 Ca 2399/14, abzuändern und die Klage abzuweisen.
15Die Klägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
16die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
17Die Klägerin verteidigt das arbeitsgerichtliche Urteil und bleibt dabei, dass sie sich in keinem der von der Beklagten angesprochenen Sachverhaltskomplexe rechtswidrig verhalten habe, schon gar nicht vorsätzlich.
18Am 29.08.2014 habe sie in den Räumen der Niederlassung der D IT Services GmbH in der W mit dem dortigen Mitarbeiter Z eine Besprechung zum Thema myNet und Intranet gehabt. Diese Besprechung habe im Büro des Herrn P , aber mit dem Gesprächspartner Z stattgefunden, ohne dass Herr P bei dem Gespräch anwesend gewesen sei. Etwas anderes habe sie auch in der Anhörung nicht geäußert. Hinsichtlich der korrekten Erfassung ihrer Urlaubstage habe sie mehrfach schriftlich und mündlich alle zumutbaren Anstrengungen unternommen. Ihr sei letztendlich auch durch Herrn G von der Personalabteilung die vollständige und fehlerfreie Buchung bestätigt worden.
19Weiterhin lässt sich die Klägerin dahin ein, dass sie die dienstliche SIM-Karte nicht beschädigt habe. Sie habe sie vielmehr von dem Anbieter V auf das aktuell in ihrem Privathandy benötigte Kartenformat zuschneiden lassen. Mit Hilfe einer gängigen Schablone sei die SIM-Karte aber weiterhin uneingeschränkt auch in den dienstlichen BlackBerry-Geräten einsetzbar. Ihr sei erlaubt gewesen, mit Hilfe der dienstlichen SIM-Karte privat zu telefonieren. Dies sei stets und bis heute von der Beklagten entsprechend in Rechnung gestellt worden.
20Anlässlich ihrer Freistellung sei sie auch nicht aufgefordert worden, „sämtliche Arbeitsmittel zurückzugeben“. Als die Beklagte die Herausgabe der SIM-Karten verlangt habe, sei sie dem unverzüglich nachgekommen. Ferner treffe es nicht zu, dass sie, die Klägerin, aufgrund ihrer Freistellung keine Dispositionsbefugnis mehr über die in ihrem Profil hinterlegten Daten gehabt habe. Die Beklagte habe das Profil auch nach ihrer Freistellung nicht gesperrt. Sie habe sich mit ihrem Benutzernamen und ihrem üblichen Passwort weiterhin in das System einwählen können. Nach der Freistellung habe sie in ihrem Outlook-Kalender – unstreitig – auch nur private Termine gelöscht.
21Schließlich rügt die Klägerin nochmals, dass der Betriebsrat vor der Kündigung ordnungsgemäß angehört worden sei.
22Wegen weiterer Einzelheiten wird auf den vollständigen Inhalt der Berufungserwiderungsschrift der Klägerin Bezug genommen.
23Bezug genommen wird ferner auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht vom 22.10.2015.
24E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
25I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 26.02.2015 in Sachen 3 Ca 2399/14 ist zulässig. Die Berufung ist gemäߧ 64 Abs. 2 c) ArbGG statthaft. Sie wurde auch innerhalb der in § 66 Abs. 1 ArbGG vorgeschriebenen Fristen formell ordnungsgemäß eingelegt und begründet.
26II. Die Berufung der Beklagten konnte in der Sache jedoch keinen Erfolg haben. Das Arbeitsgericht Bonn hat die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 02.10.2014 zu Recht für rechtsunwirksam erklärt und festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch diese Kündigung nicht beendet worden ist. Die Einlassungen der Beklagten in der Berufungsinstanz geben dem Berufungsgericht keinen hinreichenden Anlass, die Entscheidung des Arbeitsgerichts Bonn abzuändern.
27Im Einzelnen gilt auf der Grundlage des zuletzt erreichten Sach- und Streitstandes zusammenfassend und ergänzend das Folgende:
281. Die Beklagte kann die fristlose Kündigung vom 02.10.2014 nicht auf den Vorwurf stützen, es bestehe der dringende Verdacht, dass die Klägerin durch Übersendung eines sogenannten Screenshots am 02.07.2014 ihren Vorgesetzten darüber getäuscht habe, dass sie eine von diesem angemahnte Nachbuchung bestimmter Urlaubstage aus Februar 2014 tatsächlich vorgenommen habe. Das Arbeitsgericht hat zu Recht darauf abgestellt, dass schon keine objektiven Umstände erkennbar sind, die einen entsprechenden dringenden Verdacht zu erhärten vermöchten. Einer weiteren inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Stellenwert eines solchen Kündigungsvorwurfs bedarf es daher nicht.
29a. Der äußere Sachverhalt erscheint im Wesentlichen unstreitig: Unstreitig hat der Vorgesetzte der Klägerin diese am 25.06.2014 aufgefordert, bestimmte im Februar 2014 genommene Urlaubstage im System nach zu buchen. Unstreitig hat die Klägerin dem Vorgesetzten daraufhin am 02.07.2014 einen sogenannten Screenshot übersandt, welcher belegen sollte, dass die Klägerin die fragliche Nachbuchung nunmehr vorgenommen habe. Ebenso unstreitig ist, dass im Zeitpunkt der Übersendung des Screenshots eine erfolgreiche abschließende Umbuchung im System noch nicht zustande gekommen war. Nach der eigenen Einlassung der Klägerin habe das System ihre Umbuchungsbemühungen zunächst nicht angenommen und es habe der Mithilfe des Mitarbeiters der Personalabteilung G bedurft, um die erfolgreiche Umbuchung sicherzustellen. Diese sei dann am 31.07.2014 durch den Vorgesetzten bestätigt worden.
30b. Selbstverständlich kann denklogisch nicht ausgeschlossen werden, dass die Klägerin bei der Übersendung des Screenshots die Absicht verfolgte, ihren Vorgesetzten zu täuschen. Die rein theoretische Möglichkeit, dass sich ein Sachverhalt in bestimmter Weise abgespielt haben und ein Arbeitnehmer dabei eine Arbeitsvertragsverletzung begangen haben könnte, reicht jedoch nicht aus, um eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.
31c. Zwar ist in ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung anerkannt, dass nicht in jedem Fall einer verhaltensbedingten Kündigung der Kündigungssachverhalt in vollem Umfang nachgewiesen sein muss in dem Sinne, dass jedweden vernünftigen objektiven Zweifeln Schweigen geboten ist. Vielmehr kann unter bestimmten Umständen auch ein niedrigerer Grad der Gewissheit ausreichen, um eine sogenannte Verdachtskündigung zu rechtfertigen. Dabei reicht es jedoch schon nicht aus, wenn die Möglichkeit, es liege ein tatsächlicher Sachverhalt vor, in welchem ein Arbeitnehmer eine schwerwiegende Vertragsverletzung begangen hat, nur gleich wahrscheinlich ist wie die objektive Möglichkeit, dass dies nicht der Fall war. Der für den Ausspruch einer außerordentlichen Verdachtskündigung erforderliche ‚dringende Tatverdacht‘ muss somit zwar nicht wie bei der Tatkündigung so geartet sein, dass er jedem vernünftigen Zweifel am Vorliegen einer bestimmten Sachverhaltsvariante Schweigen gebietet. Er darf aber nur relativ geringfügig hinter dem Grad der Gewissheit bei der Tatkündigung zurückbleiben und muss in jedem Fall wahrscheinlicher sein als die Möglichkeit, dass die inkriminierte Vertragsverletzung in Wirklichkeit nicht stattgefunden hat (BAG vom 25.10.2010, AP Nr.48 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung; BAG v. 29.11.2007, AP Nr.40 zu § 626 BGB Verdacht strafbarer Handlung; BAG vom 30.04.1987, NZA 1987, 699; LAG Köln vom 13.08.2015, 7 Sa 145/15; LAG Köln vom 10.08.1999, 13 Sa 220/99; Staudinger/Preis, BGB § 626 Rdnr.227; APS/Dörner/Vossen, § 626 BGB Rdnr. 357).
32d. Diese Voraussetzungen einer Verdachtskündigung liegen hinsichtlich des Kündigungsgrunds ‚nachträgliche Urlaubsbuchung‘ ersichtlich nicht vor. Zur Überzeugung des Berufungsgerichts erscheint es nicht einmal gleich wahrscheinlich, dass die Klägerin ihren Vorgesetzten durch Übersendung des Screenshots täuschen wollte als dass sie ohne die ihr unterstellte Täuschungsabsicht gehandelt hat.
33aa. So hat das Arbeitsgericht bereits auf die nicht fernliegende Möglichkeit aufmerksam gemacht, dass die Klägerin durch die vergleichsweise aufwendige Übersendung eines Screenshots ihrem Vorgesetzten gegenüber gerade ihren guten Willen verdeutlichen wollte, seine Weisung hinsichtlich der Urlaubsnachbuchung zu erfüllen.
34bb. Gegen eine Täuschungsabsicht der Klägerin spricht weiter, dass ihr klar sein musste, dass der Vorgesetzte den Vollzug der Buchungsänderung jederzeit auf einfache Weise hätte nachkontrollieren können, sei es aufgrund der ihm eingeräumten Leseberechtigung, sei es durch Nachfrage bei der für die Buchung letztlich zuständigen Personalabteilung.
35cc. Darüber hinaus ist jedem täglichen Benutzer von Büro-EDV-Systemen bekannt, dass es immer wieder im Einzelfall zu technischen Fehlfunktionen kommen kann, die es nach Einschätzung der zuständigen Techniker theoretisch gar nicht geben dürfte, wobei solche Fehlfunktionen selbstverständlich in nicht seltenen Fällen auch auf Fehlbedienungen durch den Nutzer beruhen.
36e. Die fristlose Kündigung vom 02.10.2014 kann darüber hinaus auch deshalb nicht auf den Kündigungsgrund einer Täuschung über die vorgenommene Urlaubsnachbuchung gestützt werden, weil die Beklagte nicht substantiiert dargelegt hat, dass insoweit die 14-Tage-Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingehalten wurde.
37aa. Die Übersendung des Screenshots erfolgte am 02.07.2014. Nach der insoweit unwidersprochen gebliebenen Darstellung der Klägerin bestätigte der Vorgesetzte spätestens am 31.07.2014, dass nunmehr die geforderte Nachbuchung tatsächlich erfolgt war.
38bb. Darauf, dass eine Anhörung der Klägerin zu der beabsichtigten Kündigung erst im September 2014 erfolgte, kann die Beklagte sich im Hinblick auf § 626 Abs.2 BGB nicht berufen; denn eine wirksame Verdachtskündigung erfordert nicht nur unabdingbar die Anhörung des Arbeitnehmers, sondern auch ein zügiges Ermitteln des Sachverhalts durch den Arbeitgeber. Welche Ermittlungen jedenfalls nach dem 31.07.2014 noch erforderlich gewesen wären, erschließt sich nicht.
39f. Schließlich erscheint es in Anbetracht des Vorbringens der Beklagten in der Berufungsinstanz auch nicht widerspruchsfrei nachvollziehbar, dass sich die Klägerin durch die nicht erfolgte Nachbuchung der Urlaubstage einen finanziellen Vorteil erschlichen hätte, wie die Beklagte in der ersten Instanz behauptet hat.
40aa. In der Berufungsinstanz hat die Beklagte zur Funktionsweise des Systems AZE wie folgt vorgetragen: „Sofern an einem Tag Arbeitszeit hinterlegt ist, ist die – nachträgliche – Eingabe von Urlaubstagen nicht mehr möglich. Wird für einen bestimmten Zeitraum weder Arbeitszeit noch Urlaub gebucht, führt dies zu einem entsprechend negativen Zeitsaldo (das System geht von Fehlzeit aus). Wird sodann nachträglich Urlaub eingetragen, würde sich ein negativer Saldo nachträglich entsprechend ausgleichen bzw. ein positiver Saldo würde sich – für den Arbeitnehmer ersichtlich – deutlich erhöhen“ (Berufungsbegründungsschrift Seite 4).
41bb. Geht man von dieser Darlegung aus, so konnte die Klägerin an den streitigen Urlaubstagen aus Februar 2014 ursprünglich keine Arbeitszeit eingetragen haben, da dann ein Nachbuchen von Urlaub von vornherein nicht möglich gewesen wäre.
42cc. Hat die Klägerin seinerzeit für die fraglichen Tage aber gar keine Eintragung im System vorgenommen, wären ihr – der Berufungsbegründungsschrift zufolge – entsprechende Minusstunden im Arbeitszeitkonto angeschrieben worden. Ein etwaiger Urlaub wäre demnach de facto ein unbezahlter Urlaub gewesen. Warum vor diesem Hintergrund eine unterbliebene Nachbuchung der damaligen Urlaubstage für die Klägerin finanziell vorteilhaft gewesen wäre, erschließt sich nicht.
432. Zu Recht hat das Arbeitsgericht einen dringenden Tatverdacht auch im Hinblick auf den der Klägerin vorgeworfenen Arbeitszeitbetrug von Freitag, dem 29.08.2014 verneint. Anknüpfend an die obigen Überlegungen zum erforderlichen Grad der Gewissheit bei der dringenden Verdachtskündigung hätte die Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin am 29.08.2014 in den fraglichen Nachmittagsstunden tatsächlich nicht einem Dienstgeschäft in den Räumen der D IT Services GmbH nachgegangen wäre, zumindest deutlich höher sein müssen als die gegenteilige Sachverhaltsversion der Klägerin. Auch dies kann in Übereinstimmung mit dem Arbeitsgericht nicht festgestellt werden.
44a. Das Berufungsgericht verschließt keineswegs die Augen vor der Möglichkeit, dass die Klägerin am Nachmittag des 29.08.2014 in den Räumen der D IT Services GmbH tatsächlich keinem Dienstgeschäft nachgegangen ist, sei es, dass sie lediglich einen privaten Besuch bei Herrn P habe abstatten wollen, sei es, dass sie überhaupt nicht vor Ort gewesen wäre.
45b. Für die Version der Klägerin können andererseits folgende Indizien vorgebracht werden: Die Klägerin ist tatsächlich dienstlich mit dem Projekt myNet befasst. Der Mitarbeiter P hat bereits auf die erste Nachfrage hin angegeben, dass es an dem fraglichen Freitagnachmittag zu einem Arbeitstreffen zum System myNet gekommen sei, welches von dem Mitarbeiter Z organisiert worden sei. Dass er hierbei (noch) keine Angaben zur Teilnahme der Klägerin an einem solchen Gespräch gemacht hat, kann auch von der Art der Fragestellung der Beklagten abhängen, z. B. wenn diese nicht gezielt nach einer Anwesenheit der Klägerin gefragt haben sollte, etwa um den Mitarbeiter P nicht ‚hellhörig‘ werden zu lassen. Schließlich hat der Mitarbeiter Z ohne Wenn und Aber bekräftigt, dass er an diesem Freitagnachmittag eine Stunde lang mit der Klägerin über das Projekt myNet konferiert habe.
46c. Der Angabe der Beklagten, der Mitarbeiter Z habe aber auch ausgesagt, dass er die Klägerin vor seinem Dienstgespräch mit ihr im Büro des Mitarbeiters P angetroffen habe, kommt keine entscheidende Bedeutung zu. Zum einen bestätigt auch diese Angabe zumindest, dass sich die Klägerin zur fraglichen Zeit tatsächlich in den Räumen der D IT Services GmbH aufgehalten hat. Andererseits sagt sie nichts darüber aus, ob nicht der gesamte Aufenthalt dort letztlich durch Dienstgeschäfte geprägt war.
47d. Das Berufungsgericht räumt der Beklagten ein, dass im Hinblick auf den von ihr für den 29.08.2014 vermuteten (versuchten) Arbeitszeitbetrug der Klägerin ein Anfangsverdacht angenommen werden kann. Dass die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Klägerin am Nachmittag des 29.08.2014 in Wirklichkeit nicht in den Räumen der D IT Services GmbH aufgehalten oder dort jedenfalls keinen Dienstgeschäften nachgegangen ist, im Sinne eines dringenden Tatverdachtes deutlich höher ist als die gegenteilige Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin dort Dienstgeschäfte verrichtet hat, lässt sich jedoch nicht feststellen. Immerhin kann sich die Klägerin auf das Zeugnis zweier Mitarbeiter eines konzernangehörigen Unternehmens der Beklagten berufen. Zwar besteht zwischen der Klägerin und dem Zeugen Pütz – nach der Darstellung der Beklagten – ein enges persönliches Verhältnis. Ein anerkannter Rechtsgrundsatz, wonach alle Ehegatten, Lebenspartner oder sonstige enge persönliche Freunde als Zeugen stets lügen, existiert jedoch nicht.
483. Schließlich führt – wiederum in Übereinstimmung mit demArbeitsgericht – auch das Verhalten der Klägerin bei der Herausgabe der in ihrem Besitz befindlichen Arbeitsmaterialien anlässlich ihrer Freistellung am
4903. September 2014 nicht zur Rechtfertigung der streitigen Kündigung durch einen wichtigen Grund im Sinne des § 626 Abs. 1 BGB.
50a. Zunächst teilt das Berufungsgericht uneingeschränkt die Auffassung des Arbeitsgerichts, dass in dem von der Klägerin privat veranlassten „Zuschneiden“ der dienstlichen SIM-Karte, damit diese für ihr eigenes Privathandy passend wird, eine arbeitsvertragliche Pflichtverletzung LAG. Zwar hat die Klägerin nachvollziehbar dargelegt, dass diese Aktion die SIM-Karte für das dienstliche BlackBerry nicht dauerhaft unbrauchbar gemacht hat; denn mit Hilfe einer Schablone kann das SIM-Karten-Format variiert werden. Dennoch stellt die Handlungsweise der Klägerin einen Eingriff in das Eigentum der Beklagten dar, zu dem sich die Klägerin nicht ohne weiteres für befugt halten durfte. Sie hätte somit die Erlaubnis der Beklagten einholen müssen, was sie nicht getan hat.
51b. Der Umstand, dass die Klägerin beim ersten Herausgabeverlangen der Beklagten die SIM-Karte und weitere Datenkarten zunächst in ihrem Besitz behalten hat, ist demgegenüber bereits differenziert zu betrachten.
52aa. Zunächst ist festzuhalten, dass eine „Täuschung“ der Beklagten insoweit nicht feststellbar ist. Es wäre der Person, die die von der Klägerin zurückgegebenen Gegenstände in Empfang genommen hat, ohne weiteres mit Leichtigkeit möglich gewesen, die Rückgabe der SIM-Karte und der weiteren Datenkarten zu überprüfen. Dies gilt nicht zuletzt auch deshalb, weil die Klägerin zuvor unstreitig nicht nur eine, sondern vier entsprechende Datenkarten in ihrem Besitz hatte, nämlich neben der eigentlichen SIM-Karte noch zwei Ultrakarten und eine Datenkarte, mit deren Rückgabe der Empfänger zu rechnen hatte.
53bb. Zum anderen ist im Laufe des Rechtsstreits unstreitig geworden, dass die Klägerin durchaus befugt war, von ihrem dienstlichen Handy private Telefonate zu führen, die ihr dann später über die Beklagte in Rechnung gestellt wurden. Dies war auch noch nach Auftreten des Streits der Parteien der Fall. In der Dienstwagenrechtsprechung ist anerkannt, dass dann, wenn ein Arbeitnehmer einen Dienstwagen auch zur privaten Nutzung ausgehändigt bekommen hat, ein Herausgabeverlangen anlässlich einer vorläufigen Arbeitsfreistellung nicht ohne weiteres zulässig ist.
54c. Unstreitig hat sich die Klägerin schließlich während ihrer Freistellungsphase von außen mit Hilfe der sich noch in ihrem Besitz befindlichen Datenkarten in das dienstliche EDV-System der Beklagten eingeloggt und dort Löschungen vorgenommen.
55aa. Zunächst ist festzuhalten, dass die von der Klägerin vorgenommenen Löschungen unstreitig ausschließlich private Kalenderdaten der Klägerin betreffen. Der Klägerin kann also nicht vorgeworfen werden, zu Dienstzwecken dienende Datenbestände gelöscht oder sonst beeinträchtigt zu haben.
56bb. Sodann hat die Erörterung in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht zwischen den Parteien kontroverse Standpunkte darüber gegeben, welche Befugnisse genau die Mitarbeiter, die über einen dienstlichen Laptop und ein Diensthandy verfügen, hinsichtlich der Benutzung dieser Geräte haben.
57aaa. Die Klägerin hatte bereits schriftsätzlich vorgetragen, dass sie sich auch während der Freistellungsphase anstandslos mit ihrem vorherigen Benutzernamen und Passwort im System der Beklagten habe anmelden können. Der Beklagten wäre es zweifelsfrei möglich gewesen, dies z. B. durch Änderung des Passworts unmöglich zu machen.
58bbb. Zum anderen hat die Beklagte in der mündlichen Verhandlung folgendes ausgeführt: „Es gebe bei der Beklagten eine Compliance-Richtlinie, die es verbiete, dienstliche SIM-Karten in privaten Handys zu nutzen, und zwar aus Sicherheitsgründen. Erforderlich sei vielmehr die Nutzung einer Applikation mit dem Namen ‚Good for Enterprise‘. Diese Richtlinie sei auch veröffentlicht“.
59Der Klägervertreter erklärt laut Sitzungsprotokoll hierzu, „dass er vom Betriebsrat die Auskunft erhalten habe, dass es eine entsprechende Richtlinie so nicht gebe“.
60Die Beklagtenvertreterin erklärt darauf hin, „es mag sein, dass der Betriebsrat dies als strittig empfinde.“
61ccc. Die Beklagte hat im vorliegenden Rechtsstreit, obwohl dies nahegelegen hätte, nicht ausreichend substantiiert dargelegt, welche Verhaltensregeln im Hinblick auf die überlassenen Laptops und Diensthandys aufgestellt, wirksam und den Mitarbeitern kommuniziert waren. Wenn die Beklagte einräumt, dass die von ihr für maßgeblich gehaltene Compliance-Richtlinie vom Betriebsrat möglicherweise als strittig empfunden wird, so spricht dies dafür, dass nicht nur bei der hiesigen Klägerin, sondern in den einschlägigen Arbeitnehmerkreisen allgemein eine Unsicherheit zu bestehen scheint, was genau im Einzelfall erlaubt ist und was nicht.
62ddd. Gerade dieser Gesichtspunkt unterstreicht die Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts, wonach die Beklagte im vorliegenden Fall vorrangig eine Abmahnung hätte aussprechen müssen, bevor sie die Vorgänge um die Herausgabe und nachträgliche Benutzung des Dienstlaptops und Diensthandys der Klägerin zum Anlass für eine verhaltensbedingte Kündigung nehmen wollte. Eine Abmahnung war somit schon aus diesem Grunde nicht entbehrlich. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin klare und unmissverständliche Verhaltensanweisungen in der Zukunft keineswegs befolgt hätte, liegen nicht vor. Vielmehr war die Abmahnung erforderlich, um der Klägerin ihren Pflichtenkreis, den sie im Zusammenhang mit der Herausgabe der EDV-Gegenstände teilweise verletzt hat, genau und unmissverständlich vor Augen zu stellen.
634. Auch die abschließende Interessenabwägung führt dazu, dass vorliegend nach dem Ultima-ratio-Prinzip die Beklagte noch keine fristlose Beendigungskündigung in Erwägung ziehen durfte, sondern zunächst vorrangig eine Abmahnung aussprechen musste.
64a. Die Klägerin stellt, wie schon ihr Einkommen belegt, keine ganz untergeordnete Mitarbeiterin dar. Die Beklagte als Arbeitgeberin hat demnach auch ein gesteigertes berechtigtes Interesse daran, auf den redlichen Umgang der Klägerin mit ihr überlassenen Dienstgegenständen unbedingt vertrauen zu können. Dahinter stehen darüber hinaus auch unübersehbare IT-Sicherheitsbedürfnisse.
65b. Für die Klägerin stellt das Arbeitsverhältnis indessen im Zweifel ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage dar. Zudem kann sie im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung auf eine 15-jährige Betriebszugehörigkeit zurückblicken. Dieser soziale Besitzstand ist für die Tarifvertragsparteien ausschlaggebend gewesen, nur noch die außerordentliche Kündigung der Klägerin zuzulassen. Die Anforderungen an einen wichtigen Grund im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB können aber nicht herabgesenkt werden, nur weil eine ordentliche Kündigung der Klägerin tarifvertraglich ausgeschlossen ist. Dadurch würde der Schutzzweck der tarifvertraglichen Norm in ihr Gegenteil verkehrt.
66c. Wie gesehen sind der Klägerin zwar verschiedene Arbeitsvertragsverstöße im Zusammenhang mit der Herausgabe ihrer Arbeitsmaterialien vorzuwerfen. Es ist jedoch nicht erkennbar, dass die Klägerin es vorsätzlich darauf angelegt hätte, die Beklagte finanziell oder auf andere Art zu schädigen. Es mag angebracht gewesen sein, der Klägerin nochmals aus der Sicht der Beklagten als ihres Arbeitgebers unmissverständlich klarzumachen, was sie von ihr im Umgang mit den ihr überlassenen Arbeitsmaterialien erwartet. Eine solche Abmahnung stellte ein milderes und nach Lage der Dinge keineswegs von vornherein aussichtsloses Mittel dar, um die berechtigten Interessen der Beklagten ausreichend zu wahren.
67d. Es muss daher bei der bereits vom Arbeitsgericht festgestellten Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigung vom 02.10.2014 verbleiben. Die Berufung der Beklagten konnte keinen Erfolg haben.
68III. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 97 Abs. 1 ArbGG.
69Ein gesetzlicher Grund für die Zulassung der Revision ist nicht ersichtlich. Die vorliegende Entscheidung folgt den Grundsätzen der höchstrichterlichen Rechtsprechung und richtet sich im Übrigen nach den besonderen Umständen des Einzelfalles.
70R e c h t s m i t t e l b e l e h r u n g
71Gegen dieses Urteil ist ein weiteres Rechtsmittel nicht statthaft. Auf§ 72 a ArbGG wird vorsorglich hingewiesen.
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(1) Die Frist für die Einlegung der Berufung beträgt einen Monat, die Frist für die Begründung der Berufung zwei Monate. Beide Fristen beginnen mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung. Die Berufung muß innerhalb einer Frist von einem Monat nach Zustellung der Berufungsbegründung beantwortet werden. Mit der Zustellung der Berufungsbegründung ist der Berufungsbeklagte auf die Frist für die Berufungsbeantwortung hinzuweisen. Die Fristen zur Begründung der Berufung und zur Berufungsbeantwortung können vom Vorsitzenden einmal auf Antrag verlängert werden, wenn nach seiner freien Überzeugung der Rechtsstreit durch die Verlängerung nicht verzögert wird oder wenn die Partei erhebliche Gründe darlegt.
(2) Die Bestimmung des Termins zur mündlichen Verhandlung muss unverzüglich erfolgen. § 522 Abs. 1 der Zivilprozessordnung bleibt unberührt; die Verwerfung der Berufung ohne mündliche Verhandlung ergeht durch Beschluss des Vorsitzenden. § 522 Abs. 2 und 3 der Zivilprozessordnung findet keine Anwendung.
(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorliegen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Der Kündigende muss dem anderen Teil auf Verlangen den Kündigungsgrund unverzüglich schriftlich mitteilen.
(1) In den Fällen des § 2a Abs. 1 Nr. 4 wird das Verfahren auf Antrag einer räumlich und sachlich zuständigen Vereinigung von Arbeitnehmern oder von Arbeitgebern oder der obersten Arbeitsbehörde des Bundes oder der obersten Arbeitsbehörde eines Landes, auf dessen Gebiet sich die Tätigkeit der Vereinigung erstreckt, eingeleitet.
(2) Für Verfahren nach § 2a Absatz 1 Nummer 4 ist das Landesarbeitsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Vereinigung, über deren Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit zu entscheiden ist, ihren Sitz hat.
(2a) Für das Verfahren sind § 80 Absatz 1, 2 Satz 1 und Absatz 3, §§ 81, 83 Absatz 1 und 2 bis 4, §§ 83a, 84 Satz 1 und 2, § 91 Absatz 2 und §§ 92 bis 96 entsprechend anzuwenden. Für die Vertretung der Beteiligten gilt § 11 Absatz 4 und 5 entsprechend.
(3) Der rechtskräftige Beschluss über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit einer Vereinigung wirkt für und gegen jedermann. Die Vorschrift des § 63 über die Übersendung von Urteilen gilt entsprechend für die rechtskräftigen Beschlüsse von Gerichten für Arbeitssachen im Verfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4.
(4) In den Fällen des § 2a Abs. 1 Nr. 4 findet eine Wiederaufnahme des Verfahrens auch dann statt, wenn die Entscheidung über die Tariffähigkeit oder Tarifzuständigkeit darauf beruht, daß ein Beteiligter absichtlich unrichtige Angaben oder Aussagen gemacht hat. § 581 der Zivilprozeßordnung findet keine Anwendung.
(5) Hängt die Entscheidung eines Rechtsstreits davon ab, ob eine Vereinigung tariffähig oder ob die Tarifzuständigkeit der Vereinigung gegeben ist, so hat das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung des Beschlußverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 auszusetzen. Im Falle des Satzes 1 sind die Parteien des Rechtsstreits auch im Beschlußverfahren nach § 2a Abs. 1 Nr. 4 antragsberechtigt.