Europäischer Gerichtshof Urteil, 04. Okt. 2018 - C-384/17

ECLI:ECLI:EU:C:2018:810
04.10.2018

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

4. Oktober 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Straßenverkehr – Steuerliche Vorschriften – Richtlinie 1999/62/EG – Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge – Mautgebühr – Pflicht der Mitgliedstaaten, wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen festzulegen – Pauschale Geldbuße – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie“

In der Rechtssache C‑384/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn) mit Entscheidung vom 13. Juni 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juni 2017, in dem Verfahren

Dooel Uvoz‑Izvoz Skopje Link Logistic N&N

gegen

Budapest Rendőrfőkapitánya

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richter E. Levits und A. Borg Barthet, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie des Richters F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der ungarischen Regierung, vertreten durch G. Koós und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Havas und J. Hottiaux als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juni 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 9a der Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge (ABl. 1999, L 187, S. 42) in der durch die Richtlinie 2011/76/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 (ABl. 2011, L 269, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 1999/62).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Dooel Uvoz‑Izvoz Skopje Link Logistic N&N (im Folgenden: Link Logistic N&N) und dem Budapest Rendőrfőkapitánya (Polizeipräsident in Budapest, Ungarn) über eine Geldbuße, die gegen die Link Logistic N&N wegen Benutzung eines Streckenabschnitts einer Autobahn ohne Entrichtung der vorgeschriebenen Gebühr verhängt wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 1, 12 und 15 der Richtlinie 1999/62 lauten:

„(1)

Die Beseitigung der Wettbewerbsverzerrungen zwischen Verkehrsunternehmen aus den Mitgliedstaaten erfordert die Harmonisierung der Abgabesysteme und die Einführung gerechter Mechanismen für die Erhebung von Gebühren von den Verkehrsunternehmern.

(12)

Die bestehenden Wettbewerbsverzerrungen können zwar nicht allein durch die Harmonisierung der Steuern oder der Verbrauchsabgaben auf Kraftstoffe beseitigt werden, sie können jedoch – solange es keine technisch und wirtschaftlich besseren Erhebungsformen gibt – dadurch gemildert werden, dass Maut- und/oder Autobahnbenutzungsgebühren beibehalten oder eingeführt werden. Ferner sollte den Mitgliedstaaten das Erheben von Gebühren für die Benutzung von Brücken, Tunnels und Gebirgspässen gestattet sein.

(15)

Die Benutzungsgebühren sollten entsprechend der Dauer der Benutzung der betreffenden Verkehrswege festgelegt werden und unter Berücksichtigung der von den Straßenfahrzeugen verursachten Kosten differenziert werden.“

4

Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie gilt für Kraftfahrzeugsteuern und für Maut- und Benutzungsgebühren, die von den in Artikel 2 definierten Fahrzeugen erhoben werden.“

5

Art. 2 der Richtlinie sieht vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b)

‚Mautgebühr‘ eine für eine Fahrt eines Fahrzeugs auf einem bestimmten Verkehrsweg zu leistende Zahlung, deren Höhe sich nach der zurückgelegten Wegstrecke und dem Fahrzeugtyp richtet und die eine Infrastrukturgebühr und/oder eine Gebühr für externe Kosten beinhaltet;

…“

6

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 1999/62 lautet:

„Unbeschadet des Artikels 9 Absatz 1a dürfen die Mitgliedstaaten unter den in den Absätzen 2, 3, 4 und 5 dieses Artikels und in den Artikeln 7a bis 7k genannten Bedingungen Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf dem transeuropäischen Straßennetz oder auf bestimmten Abschnitten dieses Netzes und zusätzlich auf anderen Abschnitten ihrer Autobahnnetze, die nicht zum transeuropäischen Straßennetz gehören, beibehalten oder einführen. Das Recht der Mitgliedstaaten, unter Beachtung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf anderen Straßen zu erheben, bleibt hiervon unberührt, sofern die Erhebung von Maut- und/oder Benutzungsgebühren auf solchen anderen Straßen den internationalen Verkehr nicht diskriminiert und nicht zur Verzerrung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen führt.“

7

Art. 9a der Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten sehen geeignete Kontrollen vor und legen Sanktionen zur Ahndung von Verstößen gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften fest. Sie treffen die zur Anwendung dieser Vorschriften erforderlichen Maßnahmen. Die Sanktionen müssen wirksam, angemessen und abschreckend sein.“

Ungarisches Recht

Straßenverkehrsgesetz

8

§ 20 Abs. 1 des Közúti közlekedésről szóló 1988. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 1988 über den Straßenverkehr, im Folgenden: Straßenverkehrsgesetz) bestimmt:

„Gegen eine Person, die gegen die in diesem Gesetz sowie in spezifischen Rechts- und Verwaltungsvorschriften und in Gemeinschaftsrechtsakten festgelegten Bestimmungen betreffend

m)

die für die Nutzung des mautpflichtigen Streckenabschnitts fällige streckenbezogene Gebühr

… verstößt, kann eine Geldbuße verhängt werden.“

9

§ 21 des Straßenverkehrsgesetzes sieht vor:

„(1)   Der Fahrzeughalter oder, im Fall von § 21/A Abs. 2, die Person, der das Fahrzeug zur Nutzung überlassen wurde, ist dafür verantwortlich, dass mit dem von ihm gehaltenen oder benutzten Kraftfahrzeug die durch besondere Rechtsvorschriften festgelegten Vorschriften über

h)

die für die Nutzung des mautpflichtigen Streckenabschnitts fällige streckenbezogene Gebühr

eingehalten werden …

(2)   Bei einem Verstoß gegen eine der in Abs. 1 genannten Vorschriften wird gegen den Fahrzeughalter oder, im Fall von § 21/A Abs. 2, die Person, der das Fahrzeug zur Nutzung überlassen wurde, eine Geldbuße in Höhe von 10000 [ungarischen] Forint bis 300000 [ungarischen] Forint [(HUF) (ungefähr 32 Euro bis 974 Euro)] festgesetzt. Die Höhe der bei einem Verstoß gegen diese Vorschriften zu verhängenden Geldbußen wird durch Regierungsverordnung festgelegt. Verstößt ein und dasselbe Verhalten gegen mehrere Vorschriften und wird es im Rahmen desselben Verfahrens geprüft, wird es mit einer Geldbuße geahndet, die der Summe der für jeden einzelnen Verstoß vorgesehenen Geldbußen entspricht.

(5)   Unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Abs. 1 werden durch Regierungsverordnung die Verstöße bestimmt, für die gegen den Fahrzeughalter … eine Geldbuße festgesetzt werden kann.“

Mautgebührengesetz

10

§ 3 Abs. 1 und 6 des Az autópályák, autóutak és főutak használatáért fizetendő, megtett úttal arányos díjról szóló 2013. évi LXVII. törvény (Gesetz Nr. LXVII von 2013 über die Erhebung von streckenbezogenen Gebühren für die Benutzung von Autobahnen, Schnellstraßen und Hauptstraßen, im Folgenden: Mautgebührengesetz) bestimmt:

„(1)   Für die Benutzung mautpflichtiger Straßenabschnitte durch mautpflichtige Kraftfahrzeuge ist eine Straßennutzungsberechtigung nach diesem Gesetz erforderlich.

(6)   Der Halter des … Kraftfahrzeugs ist dafür verantwortlich, dass das von ihm gehaltene Kraftfahrzeug die in Abs. 1 festgelegten Vorgaben einhält.“

11

§ 14 des Mautgebührengesetzes sieht vor:

„Eine unberechtigte Straßennutzung liegt – außer in den Befreiungsfällen nach § 9 – vor, wenn

a)

der zur Mautzahlung Verpflichtete nicht vor Beginn der Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts ein Streckenticket für diesen Straßenabschnitt erworben hat und nicht über einen gültigen, mit dem Verwalter des Mautsystems geschlossenen Vertrag über die Abgabe von Mauterklärungen bei der Mauterhebungsstelle und die Mautentrichtung nach diesem Gesetz verfügt,

b)

der zur Mautzahlung Verpflichtete den mautpflichtigen Straßenabschnitt auf der Grundlage einer Maut- oder Umweltschutzerklärung nutzt, in der eine niedrigere als die für ihn geltende Maut- oder Umweltschutzkategorie angegeben ist, oder

c)

für die Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts in Bezug auf das betreffende Kraftfahrzeug ein gültiger, mit dem Verwalter des Mautsystems geschlossener Vertrag über die Abgabe von Mauterklärungen bei der Mauterhebungsstelle und die Mautentrichtung nach diesem Gesetz vorliegt, während der Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts jedoch eine der Voraussetzungen für das vorschriftsmäßige Funktionieren des Bordgeräts, die in einer aufgrund der Ermächtigung nach diesem Gesetz erlassenen Rechtsverordnung festgelegt sind, nicht erfüllt ist und der zur Zahlung der Maut Verpflichtete nicht vor Beginn der Nutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts ein Streckenticket für diesen Straßenabschnitt erworben hat.“

12

§ 15 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)   Die Höhe der Geldbuße wird so festgelegt, dass die zur Zahlung Verpflichteten dazu angehalten werden, den geforderten Mautbetrag zu entrichten.

(2)   Die festgesetzten Geldbußen sind Haushaltseinnahmen des Zentralhaushalts, die in dem in § 14 Abs. 4 Buchst. d [des Az államháztartásról szóló 2011. évi CXCV. törvény (Gesetz Nr. CXCV von 2011 über den Staatshaushalt)] genannten Abschnitt zu verbuchen sind. Die Zahlung der Geldbuße erfolgt in [ungarischen] Forint durch Überweisung auf ein durch eine nach diesem Gesetz erlassene Rechtsvorschrift bestimmtes Bankkonto.“

13

§ 16 des Mautgebührengesetzes sieht vor:

„Die unberechtigte Straßennutzung im Sinne dieses Gesetzes stellt einen Verstoß dar, der nach Maßgabe des Straßenverkehrsgesetzes mit einer Geldbuße geahndet werden kann.“

14

Der mit dem Gesetz Nr. LIV von 2014 mit Wirkung zum 9. November 2014 in das Mautgebührengesetz eingefügte § 29/A des Mautgebührengesetzes bestimmt in den Abs. 1, 4, 6 und 7:

„(1)   Bei Vorliegen der Voraussetzungen der Abs. 2 bis 4 wird Antragstellern, die bei der mit der Erhebung der Maut beauftragten Stelle (im Folgenden: Mauterhebungsstelle) einen Antrag gemäß den Abs. 6 und 7 (im Folgenden: Antrag) stellen, nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Gesetzes die Geldbuße erlassen, die wegen einer unberechtigten Straßennutzung im Sinne des § 14 Buchst. a, die zwischen dem 1. Juli 2013 und dem 31. März 2014 stattgefunden hat, festgesetzt worden ist.

(4)   Auf Antrag gemäß Abs. 7 wird dem Antragsteller die Geldbuße wegen einer Zuwiderhandlung gegen § 14 Buchst. a erlassen, wenn die Geldbuße auf einem mautpflichtigen Straßenabschnitt oder einer dorthin führenden Straße – innerhalb der Gültigkeitsdauer des Streckentickets höchstens einmal je Fahrtrichtung an einem bestimmten Kontrollpunkt – verhängt wurde, der betreffende mautpflichtige Straßenabschnitt unter Straßennetzgesichtspunkten funktionell parallel zu der Straße verläuft, für die das in Rede stehende Fahrzeug in demselben Zeitraum über eine Straßennutzungsberechtigung verfügte, und von dieser Berechtigung während ihrer Gültigkeitsdauer kein Gebrauch gemacht worden ist.

(6)   Neben der Erfüllung der Bestimmungen der Abs. 2 bis 4 setzt der Erlass der Geldbuße voraus, dass der Antragsteller vor Antragstellung bei der Mauterhebungsstelle für jede Geldbuße Bearbeitungsgebühren in Höhe von 12000 HUF [(ungefähr 39 Euro)] einschließlich Mehrwertsteuer entrichtet hat und diese Zahlung bei Antragstellung nachweist …

(7)   Der Antrag kann innerhalb von 60 Tagen nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. LIV von 2014 zur Änderung des [Mautgebührengesetzes] gestellt werden. Die Mauterhebungsstelle stellt auf der Grundlage des eingereichten Antrags – wenn sein Inhalt den Bestimmungen dieses Gesetzes entspricht und zu den in der Datenbank der Mauterhebungsstelle gespeicherten Informationen nicht im Widerspruch steht – eine Bescheinigung darüber aus, dass dem Antragsteller wegen Erfüllung der in den Abs. 2 bis 4 geregelten Voraussetzungen die Geldbuße erlassen werden kann. Wenn der Inhalt des Antrags von den in der Datenbank der Mauterhebungsstelle gespeicherten Informationen abweicht, wird die Bescheinigung nicht erteilt. Die Mauterhebungsstelle erteilt die Bescheinigung binnen 120 Tagen nach Eingang des Antrags …“

Regierungsverordnung Nr. 410/2007

15

§ 1 Abs. 1 der A közigazgatási bírsággal sújtandó közlekedési szabályszegések köréről, az e tevékenységekre vonatkozó rendelkezések megsértése esetén kiszabható bírságok összegéről, felhasználásának rendjéről és az ellenőrzésben történő közreműködés feltételeiről szóló 410/2007. (XII. 29.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 410 vom 29. Dezember 2007 über die bußgeldbewehrten Straßenverkehrsverstöße, die Höhe der möglichen Geldbußen bei solchen Verstößen, die Verwendung der Geldbußen und die Voraussetzungen für die Beteiligung an den Kontrollen, im Folgenden: Regierungsverordnung Nr. 410/2007) bestimmt:

„Gemäß § 21 Abs. 1 des [Straßenverkehrsgesetzes] wird bei einem Verstoß gegen die Bestimmungen der §§ 2 bis 8/A gegen den Fahrzeughalter … eine Geldbuße in der in dieser Verordnung festgelegten Höhe festgesetzt.“

16

In § 8/A der Regierungsverordnung Nr. 410/2007 heißt es:

„(1)   In Verbindung mit § 21 Abs. 1 Buchst. h des [Straßenverkehrsgesetzes] hat der Fahrzeughalter bei einem Verstoß gegen die in Anhang 9 genannten Rechtsvorschriften eine Geldbuße in der für die Fahrzeugkategorie festgelegten Höhe zu zahlen.

(2)   Gegen den Fahrzeughalter kann die Geldbuße nach Abs. 1 wegen unberechtigter Straßennutzung mit demselben Fahrzeug nicht erneut verhängt werden, wenn seit der erstmaligen Feststellung der unberechtigten Straßennutzung mit diesem Fahrzeug keine acht Stunden vergangen sind.

…“

17

In Anhang 9 dieser Verordnung ist Folgendes festgelegt:

„A

B

 

 

 

B1

B2

B3

1. Verstoß gegen das Mautgebührengesetz

Höhe der Geldbuße für die betreffende Fahrzeugkategorie

 

J2

J3

J4

2. Verstoß gegen § 14 Buchst. a

140 000

150 000

165 000

3. Verstoß gegen § 14 Buchst. b

80 000

90 000

110 000

4. Verstoß gegen § 14 Buchst. c

140 000

150 000

165 000“

Regierungsverordnung Nr. 209/2013

18

§ 24 Abs. 3 der Az ED törvény végrehajtásáról szóló 209/2013 (VI. 18.) Korm. rendelet (Regierungsverordnung Nr. 209 vom 18. Juni 2013 zur Durchführung des Mautgebührengesetzes) lautet:

„Das Streckenticket ist eine Straßennutzungsberechtigung für eine Fahrt ohne Unterbrechungen mit einem Kraftfahrzeug, dessen Parameter beim Erwerb angegeben wurden. Das Streckenticket ist nicht übertragbar; die Route und die Kraftfahrzeugparameter, die bei seinem Erwerb angegeben wurden und auf ihm vermerkt sind, können nicht geändert werden. Das Streckenticket kann wie folgt für eine an einem zuvor festgelegten Tag angetretene Fahrt verwendet werden:

a)

wenn seine Gültigkeit am Tag des Erwerbs beginnt, vom Zeitpunkt des Erwerbs bis zum Ablauf des folgenden Tages,

b)

wenn es im Vorverkauf höchstens 30 Tage zuvor erworben wurde, vom Beginn des festgelegten Kalendertages bis zum Ablauf des folgenden Tages.“

19

§ 26 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung bestimmt:

„Vor Beginn der Nutzung der mautpflichtigen Strecke hat der zur Entrichtung der Maut Verpflichtete dafür zu sorgen, dass er zu dem Verwalter des Mautsystems in einem Rechtsverhältnis steht, das es ihm ermöglicht, das von der Mauterhebungsstelle betriebene elektronische Mautsystem tatsächlich zu benutzen und darüber das Streckenticket für die tatsächlich benutzte Straße zu erwerben.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

20

Am 29. Oktober 2015 um 19.34 Uhr war ein Lastkraftwagen der Kategorie J4 im Sinne der Regierungsverordnung Nr. 410/2007, dessen Halter die Link Logistik N&N, ein in der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien registriertes Unternehmen, war, in Ungarn auf einem mautpflichtigen Straßenabschnitt unterwegs, ohne im Besitz eines gültigen Mauttickets zu sein und ohne die Gebühr entrichtet zu haben, die der auf diesem Abschnitt zurückgelegten Strecke entsprach.

21

Am gleichen Tag um 19.52 Uhr entrichtete der Fahrer des Lastkraftwagens von sich aus die Gebühr in Höhe von 19573 HUF (ungefähr 63 Euro) für den gesamten mautpflichtigen Straßenabschnitt, den er benutzen wollte, und setzte seine Fahrt auf diesem Abschnitt fort.

22

Mit Entscheidung vom 15. Januar 2016 verhängte der Vas Megye Rendőrfőkapitánya (Polizeipräsident für das Komitat Vas, Ungarn) dennoch nach den §§ 21 bis 21/B des Straßenverkehrsgesetzes sowie § 1 Abs. 1 und § 8/A der Regierungsverordnung Nr. 410/2007 eine Geldbuße in Höhe von 165000 HUF (ungefähr 532 Euro) gegen die Link Logistik N&N. Er begründete dies damit, dass das betreffende Fahrzeug unter Verstoß gegen § 14 Buchst. a des Mautgebührengesetzes ohne vorherige Zahlung der vorgeschriebenen Gebühr unterwegs gewesen sei.

23

Der Polizeipräsident in Budapest bestätigte diese Entscheidung mit der Begründung, dass die einschlägige nationale Regelung der Verwaltungsbehörde keinerlei Ermessen hinsichtlich der Höhe der Geldbußen einräume. Die Verwaltungsbehörde dürfe keine Billigkeitserwägungen berücksichtigen, sondern sich nur auf die gesetzlich vorgesehenen Gesichtspunkte stützen. Dazu zählten weder die von der Link Logistik N&N geltend gemachten Gesichtspunkte – wie der nachträgliche, kurzfristig erfolgte Erwerb eines Streckentickets für die gesamte mautpflichtige Strecke – noch etwaige Hindernisse für den Erwerb eines Streckentickets vor Benutzung des mautpflichtigen Straßenabschnitts.

24

Die Link Logistik N&N erhob gegen die Entscheidung des Polizeipräsidenten in Budapest beim vorlegenden Gericht, dem Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely, Ungarn), Klage und machte u. a. geltend, dass die ungarische Regelung mit dem Unionsrecht unvereinbar sei. Da sie eine Geldbuße habe entrichten müssen, die genauso hoch sei wie die, die gegen Personen oder Unternehmen verhängt werde, die gar kein Streckenticket erworben hätten, sei der Betrag dieser Geldbuße überhöht.

25

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Gerichtshof das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit in den – sachlich dem Ausgangsrechtsstreit ähnlichen – Rechtssachen Euro-Team und Spirál-Gép (Urteil vom 22. März 2017, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229) ausgelegt und festgestellt habe, dass die Höhe der von der ungarischen Regelung vorgeschriebenen Geldbußen diesem Erfordernis nicht entspreche.

26

Das vorlegende Gericht, das über den Ausgangsrechtsstreit zu entscheiden hat, stellt sich zunächst die Frage, ob diese Bestimmung unmittelbar anwendbar ist.

27

Sodann meint das vorlegende Gericht, dass ein solches Erfordernis nicht schrankenlos sei. Zwar lasse sich aus dem Vorrang des Unionsrechts und der Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten ableiten, dass nationales Recht unangewendet bleiben müsse, soweit es einer Bestimmung einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinie widerspreche, es sei aber nicht erforderlich und manchmal sogar unmöglich, das nationale Recht im Wege der Rechtsauslegung inhaltlich zu ergänzen.

28

Das vorlegende Gericht ist daher der Auffassung, dass eine mit einer Richtlinie vereinbare Auslegung des nationalen Rechts nicht zu einer verdeckten Gesetzgebung, einer Übernahme der Gesetzgebungszuständigkeit und einer Zuständigkeitsüberschreitung der Rechtsanwendungsorgane führen dürfe.

29

Im vorliegenden Fall sei es nicht möglich, durch eine im Einklang mit der Richtlinie 1999/62 stehende Auslegung des nationalen Rechts – ohne Tätigwerden des Gesetzgebers – § 21 Abs. 2 des Straßenverkehrsgesetzes um das Erfordernis der Angemessenheit zu ergänzen, da zum einen diese Bestimmung hinsichtlich der Festlegung der Höhe der Geldbußen auf eine Regierungsverordnung verweise und zum anderen die anzuwendende und auszulegende ungarische Regelung das Erfordernis der Angemessenheit nicht enthalte.

30

Hinsichtlich der Frage, ob das nationale Recht unionsrechtskonform ausgelegt werden könne, ohne dass der nationale Gesetzgeber das Erfordernis der Angemessenheit in das nationale Recht aufnehme, seien die Experten uneins und würden unterschiedliche Auffassungen vertreten.

31

Unter diesen Umständen hat das Szombathelyi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Szombathely) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 festgelegte und im Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), ausgelegte Erfordernis der Angemessenheit eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung?

2.

Falls das in dieser Bestimmung festgelegte Erfordernis der Angemessenheit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), keine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung ist:

Ermöglicht und erfordert die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts im Einklang mit dem Unionsrecht, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte und Verwaltungsbehörden die im vorliegenden Fall einschlägige innerstaatliche ungarische Regelung um die im Urteil des Gerichtshofs vom22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), festgelegten inhaltlichen Kriterien der Angemessenheit ergänzen, ohne dass eine innerstaatliche Rechtsvorschrift erlassen worden ist?

Zu den Vorlagefragen

32

Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es sich bei dem in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehenen Erfordernis der Angemessenheit der von den Mitgliedstaaten festgelegten Sanktionen für Verstöße gegen die aufgrund der Richtlinie 1999/62 erlassenen Vorschriften um eine unmittelbar anwendbare Bestimmung handelt und ob – falls dies nicht der Fall ist – die Gerichte und Verwaltungsbehörden des betreffenden Mitgliedstaats die in Rede stehende nationale Regelung im Hinblick auf eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts ohne ein Eingreifen des nationalen Gesetzgebers durch Hinzufügung von in der Rechtsprechung des Gerichtshofs definierten inhaltlichen Kriterien ergänzen dürfen oder müssen.

Zur Zulässigkeit

33

Die ungarische Regierung hält die Vorlagefragen für unzulässig. Eine Beantwortung der ersten Frage sei für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht erforderlich, da die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Weiteres auf das Ausgangsverfahren übertragbar sei. Zur zweiten Frage ergebe sich aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts, dass dieses vom Gerichtshof Hinweise erwarte, wie das nationale Recht im Ausgangsverfahren auf unionsrechtskonforme Weise auszulegen sei, was aber in die alleinige Zuständigkeit des nationalen Richters falle.

34

Zur ersten Unzulässigkeitseinrede ist darauf hinzuweisen, dass es im Rahmen der mit Art. 267 AEUV eingerichteten Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Betreffen daher die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl. u. a. Urteil vom 5. Juni 2018, Wirtschaftsakademie Schleswig-Holstein, C‑210/16, EU:C:2018:388, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

35

Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann es nur dann ablehnen, über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts zu befinden, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Regelung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteil vom 31. Mai 2018, Zheng, C‑190/17, EU:C:2018:357, Rn. 21).

36

Dies ist hier jedoch nicht der Fall. Die Vorlageentscheidung legt nämlich zunächst den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen hinreichend dar, damit die Bedeutung der Vorlagefragen erfasst werden kann. Danach bezeichnet das Vorabentscheidungsersuchen klar die Gründe, aus denen sich dem vorlegenden Gericht die Frage nach der Auslegung des Art. 9a der Richtlinie 1999/62, insbesondere des dort aufgestellten Erfordernisses der Angemessenheit in seiner Auslegung durch den Gerichtshof im Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), stellt. Außerdem steht die erbetene Auslegung im Zusammenhang mit der Realität und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, und die Vorlagefragen sind nicht hypothetisch, da die Antwort des Gerichtshofs eine unmittelbare Auswirkung auf die Geldbuße hat, die gegen die Klägerin des Ausgangsverfahrens verhängt bzw. nicht verhängt werden könnte.

37

Was die zweite Unzulässigkeitseinrede betrifft, ist es zwar nach ständiger Rechtsprechung nicht Sache des Gerichtshofs, über die Auslegung nationaler Vorschriften zu befinden, da ihre Auslegung in die ausschließliche Zuständigkeit der nationalen Gerichte fällt (Urteil vom 5. Juni 2018, Grupo Norte Facility, C‑574/16, EU:C:2018:390, Rn. 32).

38

Die Fragen beziehen sich jedoch, so wie sie vom vorlegenden Gericht formuliert wurden, nicht auf die Auslegung des ungarischen Rechts, sondern auf die Auslegung des Unionsrechts, speziell des Erfordernisses der Angemessenheit nach Art. 9a der Richtlinie 1999/62, sowie auf die Folgen, die sich aus dem Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép (C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229), ergeben. Dies fällt in die Zuständigkeit des Gerichtshofs.

39

In Anbetracht dessen sind die Vorlagefragen zulässig.

Zur Beantwortung der Fragen

Vorbemerkungen

40

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen und die durch eine nationale Regelung zu beachten sind, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt oder dieses umsetzt (vgl. u. a. Beschluss vom 12. Juni 2014, Pańczyk, C‑28/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:2003, Rn. 26). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet die Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu erlassen, die zur Erreichung der angestrebten Ziele geeignet sind und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. April 2018, Egenberger, C‑414/16, EU:C:2018:257, Rn. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Dieser Grundsatz, der auch durch Art. 49 Abs. 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) garantiert wird, wonach das Strafmaß zur Straftat nicht unverhältnismäßig sein darf, gilt gemäß Art. 51 Abs. 1 der Charta für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union.

42

Somit muss die Schwere einer Sanktion der Schwere der betreffenden Straftat entsprechen, wobei sich eine solche Anforderung sowohl aus Art. 52 Abs. 1 der Charta als auch aus dem in Art. 49 Abs. 3 der Charta verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Strafen ergibt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a., C‑537/16, EU:C:2018:193, Rn. 56).

43

Nach den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) besitzt das in Art. 49 der Charta garantierte Recht, da es einem durch die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnete Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) garantierten Recht entspricht, gemäß Art. 52 Abs. 3 der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie in der EMRK vorgesehen sind. Folglich gelten für einen Fall wie den des Ausgangsverfahrens gemäß Art. 17 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 und 3 der Charta die Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Bereich der Verhältnismäßigkeit von Sanktionen.

44

Bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Eigentumsrecht – wie es in Art. 1 des am 20. März 1952 in Paris unterzeichneten Zusatzprotokolls Nr. 1 zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten niedergelegt ist, wonach jede natürliche oder juristische Person das Recht auf Achtung ihres Eigentums hat – beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls, ob straf- oder verwaltungsrechtliche Sanktionen finanzieller Art für die von ihnen betroffene Person nicht eine übermäßige Belastung des Eigentums oder einen übermäßigen Eigentumsentzug bedeuten, der zur Unverhältnismäßigkeit dieser Sanktionen führt (vgl. u. a. EGMR, 18. Juni 2013, S. C. Complex Herta Import Export S.R.L. Lipova/Rumänien, CE:ECHR:2013:0618JUD001711804, § 38, und EGMR, 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien, CE:ECHR:2014:0304JUD001864010, § 199).

45

Demnach verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zum einen, dass die verhängte Sanktion der Schwere der Straftat entspricht, und zum anderen, dass die individuellen Umstände des Einzelfalls sowohl bei der Bestimmung der Sanktion als auch bei der Festlegung der Höhe der Geldbuße berücksichtigt werden.

46

Die Vorlagefragen sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.

Zur ersten und zur zweiten Frage

47

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne in allen Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gegenüber einem Mitgliedstaat vor dessen Gerichten auf sie berufen, wenn dieser Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt hat (Urteil vom 15. Februar 2017, British Film Institute, C‑592/15, EU:C:2017:117, Rn. 13).

48

In diesem Zusammenhang sind die Rechtsnatur, die Systematik und der Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmung zu prüfen (Urteil vom 4. Dezember 1974, Van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 12). Ein entsprechender Fall liegt u. a. vor, wenn die Bestimmung der fraglichen Richtlinie eine Verpflichtung enthält, die weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und ihrem Wesen nach keiner weiteren Maßnahme der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf und diesen bei der Durchführung keinen Ermessensspielraum lässt (vgl. u. a. Urteile vom 4. Dezember 1974, Van Duyn, 41/74, EU:C:1974:133, Rn. 6 und 13, sowie vom 22. Dezember 2010, Gavieiro Gavieiro und Iglesias Torres, C‑444/09 und C‑456/09, EU:C:2010:819, Rn. 79).

49

Somit ist im vorliegenden Fall zu prüfen, ob das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit inhaltlich unbedingt und hinreichend genau ist, damit sich ein Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat vor dessen nationalen Behörden darauf berufen kann.

50

Nach dieser Bestimmung legen die Mitgliedstaaten zur Ahndung von Verstößen gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen innerstaatlichen Vorschriften Sanktionen fest, die wirksam, angemessen und abschreckend sein müssen.

51

Die Mitgliedstaaten sind daher zur Umsetzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Richtlinie 1999/62 verpflichtet, die nach ihrem innerstaatlichen Recht erforderlichen Rechtsakte zu erlassen. Damit stellt Art. 9a der Richtlinie eine Verpflichtung auf, die ihrem Wesen nach eine Maßnahme der Mitgliedstaaten erfordert, die bei der Erfüllung dieser Verpflichtung über einen großen Ermessensspielraum verfügen.

52

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie nicht näher regelt, wie die innerstaatlichen Sanktionen festzulegen sind, und insbesondere kein ausdrückliches Kriterium für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit solcher Sanktionen enthält (Urteil vom 22. März 2017, Euro-Team und Spirál-Gép, C‑497/15 und C‑498/15, EU:C:2017:229, Rn. 38).

53

Da Art. 9a der Richtlinie 1999/62 ein Eingreifen der Mitgliedstaaten erfordert und ihnen einen beträchtlichen Ermessensspielraum verleiht, kann er somit nicht als inhaltlich unbedingt und hinreichend genau angesehen werden und hat daher keine unmittelbare Wirkung.

54

Eine gegenteilige Auslegung würde in der Praxis zu einem Verlust des Ermessensspielraums führen, der allein den nationalen Gesetzgebern verliehen wurde, denen in dem von Art. 9a der Richtlinie 1999/62 definierten Rahmen die Schaffung einer geeigneten Sanktionsregelung obliegt.

55

Daraus folgt, dass das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens nicht dahin ausgelegt werden kann, dass es den nationalen Richter verpflichtet, sich an die Stelle des nationalen Gesetzgebers zu setzen.

56

Art. 9a der Richtlinie 1999/62 hat somit keine unmittelbare Wirkung und verleiht dem Einzelnen in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens kein Recht, sich vor den nationalen Behörden auf ihn zu berufen.

57

Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, und die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV und Art. 288 AEUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten und damit im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten obliegt (vgl. u. a. Urteile vom 14. September 2016, Martínez Andrés und Castrejana López, C‑184/15 und C‑197/15, EU:C:2016:680, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 24. Januar 2018, Pantuso u. a., C‑616/16 und C‑617/16, EU:C:2018:32, Rn. 42).

58

Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Behörden, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (vgl. u. a. Urteile vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 43, und vom 28. Juni 2018, Crespo Rey, C‑2/17, EU:C:2018:511, Rn. 70 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Allerdings unterliegt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl. u. a. Urteil vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 44).

60

Unter dem Vorbehalt der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Prüfungen ergibt sich aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass eine Auslegung des nationalen Rechts im Einklang mit Art. 9a der Richtlinie 1999/62 zu einer Auslegungcontra legem führen könnte, da das Gericht die Geldbuße der Klägerin des Ausgangsverfahrens herabsetzen müsste, obwohl die ungarischen Rechtsvorschriften über Straßenverkehrsverstöße die Höhe der Geldbußen genau festlegen, ohne die Möglichkeit einer Herabsetzung vorzusehen oder zu verlangen, dass sie mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehen.

61

Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung ist das nationale Gericht, wenn eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, verpflichtet, das Unionsrecht in vollem Umfang anzuwenden und die Rechte, die dieses dem Einzelnen einräumt, zu schützen, indem es notfalls jede Bestimmung unangewendet lässt, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde (Urteil vom 13. Juli 2016, Pöpperl, C‑187/15, EU:C:2016:550, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zum einen zu antworten, dass das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62 vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit keine unmittelbare Wirkung hat, und zum anderen, dass das nationale Gericht aufgrund seiner Verpflichtung, alle zur Umsetzung dieser Bestimmung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, das nationale Recht im Einklang mit dieser Bestimmung auszulegen, oder, falls eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen hat, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde.

Kosten

63

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Das in Art. 9a der Richtlinie 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 1999 über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge in der durch die Richtlinie 2011/76/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. September 2011 geänderten Fassung vorgesehene Erfordernis der Angemessenheit hat keine unmittelbare Wirkung.

 

Das nationale Gericht hat aufgrund seiner Verpflichtung, alle zur Umsetzung dieser Bestimmung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, das nationale Recht im Einklang mit dieser Bestimmung auszulegen oder, falls eine solche konforme Auslegung nicht möglich ist, jede nationale Bestimmung unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 04. Okt. 2018 - C-384/17

Urteilsbesprechung schreiben

0 Urteilsbesprechungen zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 04. Okt. 2018 - C-384/17

Referenzen - Gesetze

Europäischer Gerichtshof Urteil, 04. Okt. 2018 - C-384/17 zitiert 4 §§.

Straßenverkehrsgesetz - StVG | § 21 Fahren ohne Fahrerlaubnis


(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder ihm das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dies

Straßenverkehrsgesetz - StVG | § 1 Zulassung


(1) Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger, die auf öffentlichen Straßen in Betrieb gesetzt werden sollen, müssen von der zuständigen Behörde (Zulassungsbehörde) zum Verkehr zugelassen sein. Die Zulassung erfolgt auf Antrag des Verfügungsberechtigten des F

Referenzen

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1.
ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder ihm das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten ist, oder
2.
als Halter eines Kraftfahrzeugs anordnet oder zulässt, dass jemand das Fahrzeug führt, der die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder dem das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten ist.

(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen wird bestraft, wer

1.
eine Tat nach Absatz 1 fahrlässig begeht,
2.
vorsätzlich oder fahrlässig ein Kraftfahrzeug führt, obwohl der vorgeschriebene Führerschein nach § 94 der Strafprozessordnung in Verwahrung genommen, sichergestellt oder beschlagnahmt ist, oder
3.
vorsätzlich oder fahrlässig als Halter eines Kraftfahrzeugs anordnet oder zulässt, dass jemand das Fahrzeug führt, obwohl der vorgeschriebene Führerschein nach § 94 der Strafprozessordnung in Verwahrung genommen, sichergestellt oder beschlagnahmt ist.

(3) In den Fällen des Absatzes 1 kann das Kraftfahrzeug, auf das sich die Tat bezieht, eingezogen werden, wenn der Täter

1.
das Fahrzeug geführt hat, obwohl ihm die Fahrerlaubnis entzogen oder das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten war oder obwohl eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuchs gegen ihn angeordnet war,
2.
als Halter des Fahrzeugs angeordnet oder zugelassen hat, dass jemand das Fahrzeug führte, dem die Fahrerlaubnis entzogen oder das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten war oder gegen den eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuchs angeordnet war, oder
3.
in den letzten drei Jahren vor der Tat schon einmal wegen einer Tat nach Absatz 1 verurteilt worden ist.

(1) Kraftfahrzeuge und ihre Anhänger, die auf öffentlichen Straßen in Betrieb gesetzt werden sollen, müssen von der zuständigen Behörde (Zulassungsbehörde) zum Verkehr zugelassen sein. Die Zulassung erfolgt auf Antrag des Verfügungsberechtigten des Fahrzeugs bei Vorliegen einer Betriebserlaubnis, Einzelgenehmigung oder EG-Typgenehmigung durch Zuteilung eines amtlichen Kennzeichens.

(2) Als Kraftfahrzeuge im Sinne dieses Gesetzes gelten Landfahrzeuge, die durch Maschinenkraft bewegt werden, ohne an Bahngleise gebunden zu sein.

(3) Keine Kraftfahrzeuge im Sinne dieses Gesetzes sind Landfahrzeuge, die durch Muskelkraft fortbewegt werden und mit einem elektromotorischen Hilfsantrieb mit einer Nenndauerleistung von höchstens 0,25 kW ausgestattet sind, dessen Unterstützung sich mit zunehmender Fahrzeuggeschwindigkeit progressiv verringert und

1.
beim Erreichen einer Geschwindigkeit von 25 km/h oder früher,
2.
wenn der Fahrer im Treten einhält,
unterbrochen wird. Satz 1 gilt auch dann, soweit die in Satz 1 bezeichneten Fahrzeuge zusätzlich über eine elektromotorische Anfahr- oder Schiebehilfe verfügen, die eine Beschleunigung des Fahrzeuges auf eine Geschwindigkeit von bis zu 6 km/h, auch ohne gleichzeitiges Treten des Fahrers, ermöglicht. Für Fahrzeuge im Sinne der Sätze 1 und 2 sind die Vorschriften über Fahrräder anzuwenden.

(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer

1.
ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder ihm das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten ist, oder
2.
als Halter eines Kraftfahrzeugs anordnet oder zulässt, dass jemand das Fahrzeug führt, der die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder dem das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten ist.

(2) Mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen wird bestraft, wer

1.
eine Tat nach Absatz 1 fahrlässig begeht,
2.
vorsätzlich oder fahrlässig ein Kraftfahrzeug führt, obwohl der vorgeschriebene Führerschein nach § 94 der Strafprozessordnung in Verwahrung genommen, sichergestellt oder beschlagnahmt ist, oder
3.
vorsätzlich oder fahrlässig als Halter eines Kraftfahrzeugs anordnet oder zulässt, dass jemand das Fahrzeug führt, obwohl der vorgeschriebene Führerschein nach § 94 der Strafprozessordnung in Verwahrung genommen, sichergestellt oder beschlagnahmt ist.

(3) In den Fällen des Absatzes 1 kann das Kraftfahrzeug, auf das sich die Tat bezieht, eingezogen werden, wenn der Täter

1.
das Fahrzeug geführt hat, obwohl ihm die Fahrerlaubnis entzogen oder das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten war oder obwohl eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuchs gegen ihn angeordnet war,
2.
als Halter des Fahrzeugs angeordnet oder zugelassen hat, dass jemand das Fahrzeug führte, dem die Fahrerlaubnis entzogen oder das Führen des Fahrzeugs nach § 44 des Strafgesetzbuchs oder nach § 25 dieses Gesetzes verboten war oder gegen den eine Sperre nach § 69a Abs. 1 Satz 3 des Strafgesetzbuchs angeordnet war, oder
3.
in den letzten drei Jahren vor der Tat schon einmal wegen einer Tat nach Absatz 1 verurteilt worden ist.