Europäischer Gerichtshof Schlussantrag des Generalanwalts, 25. Sept. 2018 - C-349/17

ECLI:ECLI:EU:C:2018:768
25.09.2018

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 25. September 2018(1)

Rechtssache C349/17

Eesti Pagar AS

gegen

Ettevõtluse Arendamise Sihtasutus,

Majandus- ja Kommunikatsiooniministeerium

(Vorabentscheidungsersuchen des Tallinna Ringkonnakohus [Bezirksgericht Tallinn, Estland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Staatliche Beihilfen – Verordnung (EG) Nr. 800/2008 – Beihilfen, die einen Anreizeffekt haben – Einreichung eines Beihilfeantrags, bevor mit der Durchführung des Vorhabens begonnen wird – Beurteilung dieses Kriteriums – Befugnisse der nationalen Behörden – Art. 108 Abs. 3 AEUV – Verpflichtung der nationalen Behörden zur Rückforderung einer für rechtswidrig erachteten Beihilfe – Allgemeiner unionsrechtlicher Grundsatz des Vertrauensschutzes – Verjährung – Nichtvorliegen einer Entscheidung der Europäischen Kommission oder eines nationalen Gerichts – Bestimmung der für die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe durch eine nationale Behörde geltenden Frist – Rechtsgrundlage – Zinsen – Verpflichtung, Zinsen zu verlangen – Rechtsgrundlage – Anwendungsmodalitäten“






1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Tallinna Ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn, Estland) wirft eine Reihe wichtiger und brisanter Fragen im Zusammenhang mit staatlichen Beihilfen auf.

2.        Insbesondere betrifft das Ersuchen erstens die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008(2), zweitens die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Rückforderung rechtswidriger Beihilfen, drittens den allgemeinen unionsrechtlichen Grundsatz des Vertrauensschutzes, viertens die für die mitgliedstaatliche Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe geltende Verjährungsfrist und fünftens die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, bei der Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe Zinsen zu verlangen.

3.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines zwischen der Eesti Pagar AS sowie der Ettevõtluse Arendamise Sihtasutus (Stiftung zur Entwicklung des Unternehmertums, im Folgenden: EAS) und dem Majandus- ja Kommunikatsiooniministeerium (Wirtschafts- und Kommunikationsministerium, im Folgenden: Ministerium) anhängigen Rechtsstreits, in dem es um die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung der EAS geht, mit der diese von Eesti Pagar die Rückzahlung von 526 300 Euro zuzüglich Zinsen wegen einer Beihilfe verlangt, die sie ihr zuvor gewährt hatte, und die das Ministerium auf den Widerspruch der Eesti Pagar bestätigt hat.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

4.        Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95(3) sieht vor:

„Die Verjährungsfrist für die Verfolgung beträgt vier Jahre ab Begehung der Unregelmäßigkeit … Jedoch kann in den sektorbezogenen Regelungen eine kürzere Frist vorgesehen werden, die nicht weniger als drei Jahre betragen darf.“

5.        Art. 14 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999(4) lautet:

„(1)      In Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger Beihilfen entscheidet die Kommission, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern (nachstehend ‚Rückforderungsentscheidung‘ genannt). Die Kommission verlangt nicht die Rückforderung der Beihilfe, wenn dies gegen einen allgemeinen Grundsatz des [Unionsrechts] verstoßen würde.

(2) Die aufgrund einer Rückforderungsentscheidung zurückzufordernde Beihilfe umfasst Zinsen, die nach einem von der Kommission festgelegten angemessenen Satz berechnet werden. Die Zinsen sind von dem Zeitpunkt, ab dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger zur Verfügung stand, bis zu ihrer tatsächlichen Rückzahlung zahlbar.“

6.        Art. 15 Abs. 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Die Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen gelten für eine Frist von zehn Jahren.“

7.        Art. 9 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004(5) lautet:

„(1)      Soweit per Entscheidung nicht anders bestimmt, entspricht der Zinssatz, der bei der Rückforderung einer unter Verstoß gegen Artikel [108] Absatz 3 [AEU]-Vertrag gewährten staatlichen Beihilfe anzuwenden ist, dem effektiven Jahreszins, der für jedes Kalenderjahr im Voraus von der Kommission festgesetzt wird.

(2)      Zur Berechnung des Zinssatzes wird der Geldmarktsatz für ein Jahr um 100 Basispunkte erhöht. Liegt dieser Satz nicht vor, so wird der Geldmarktsatz für drei Monate oder, falls auch dieser nicht vorliegt, die Rendite staatlicher Schuldverschreibungen für die Berechnung verwendet.

(3)      Bei Fehlen zuverlässiger Daten zum Geldmarktsatz bzw. zur Rendite staatlicher Schuldverschreibungen und gleichwertiger Daten oder unter außergewöhnlichen Umständen kann die Kommission den Rückforderungszinssatz in enger Zusammenarbeit mit den betreffenden Mitgliedstaaten nach einer anderen Methode auf der Grundlage der ihr vorliegenden Angaben festsetzen.

(4)      Der Rückforderungszinssatz wird einmal jährlich angepasst. Der Basissatz wird auf der Grundlage des Geldmarktsatzes für ein Jahr im September, Oktober und November des betreffenden Jahres berechnet. Der berechnete Satz gilt für das gesamte folgende Jahr.

(5)      Um erheblichen plötzlichen Schwankungen Rechnung zu tragen, wird zusätzlich immer dann eine Aktualisierung vorgenommen, wenn der über die drei Vormonate berechnete Durchschnittssatz um mehr als 15 v. H. vom geltenden Satz abweicht. Dieser neue Satz tritt am ersten Tag des zweiten Monats in Kraft, der auf den für die Berechnung verwendeten Monat folgt.“

8.        In Art. 11 dieser Verordnung heißt es:

„(1)      Anzuwenden ist der zu dem Zeitpunkt, ab dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger das erste Mal zur Verfügung gestellt wurde, geltende Zinssatz.

(2)      Der Zinssatz wird bis zur Rückzahlung der Beihilfe nach der Zinseszinsformel berechnet. Für die im Vorjahr aufgelaufenen Zinsen sind in jedem folgenden Jahr Zinsen fällig.

(3)      Der in Absatz 1 genannte Zinssatz gilt während des gesamten Zeitraums bis zum Tag der Rückzahlung. Liegt jedoch mehr als ein Jahr zwischen dem Tag, an dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger zum ersten Mal zur Verfügung gestellt wurde, und dem Tag der Rückzahlung der Beihilfe, so wird der Zinssatz ausgehend von dem zum Zeitpunkt der Neuberechnung geltenden Satz jährlich neu berechnet.“

9.        Art. 101 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006(6) sieht vor:

„Eine finanzielle Berichtigung durch die Kommission berührt nicht die Verpflichtungen des Mitgliedstaats, Einziehungen gemäß Artikel 98 Absatz 2 dieser Verordnung weiter zu verfolgen und die staatlichen Beihilfen gemäß Artikel 87 des [AEU‑]Vertrags und Artikel 14 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 zurückzufordern.“

10.      Im 28. Erwägungsgrund der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung wird ausgeführt:

„Um sicherzustellen, dass die Beihilfe notwendig ist und als Anreiz dafür dient, dass mehr Tätigkeiten oder Vorhaben in Angriff genommen werden, sollte diese Verordnung nicht für Beihilfen zugunsten von Tätigkeiten gelten, die der Empfänger auch ohne Beihilfe unter Marktbedingungen durchführen würde. Im Falle von Beihilfen, die auf der Grundlage dieser Verordnung an ein KMU [kleines und mittleres Unternehmen] vergeben werden, sollte ein solcher Anreizeffekt als gegeben angesehen werden, wenn das betreffende KMU bei dem Mitgliedstaat einen Beihilfeantrag stellt, bevor es mit der Durchführung des geförderten Vorhabens oder der geförderten Tätigkeiten beginnt. …“

11.      Art. 8 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bestimmt:

„(1)      Mit dieser Verordnung werden nur Beihilfen freigestellt, die einen Anreizeffekt haben.

(2)      KMU-Beihilfen, die unter diese Verordnung fallen, gelten als Beihilfen mit Anreizeffekt, wenn der Beihilfeempfänger den Beihilfeantrag im betreffenden Mitgliedstaat vor Beginn des Vorhabens oder der Tätigkeit gestellt hat.“

12.      Art. 125 („Aufgaben der Verwaltungsbehörde“) Abs. 4 und 5 der Verordnung (EU) Nr. 1303/2013(7) sieht vor:

„(4)      In Bezug auf die Finanzverwaltung und ‑kontrolle des operationellen Programms muss die Verwaltungsbehörde

a)      überprüfen, ob die kofinanzierten Produkte und Dienstleistungen … den anwendbaren Rechtsvorschriften, dem operationellen Programm und den Bedingungen für die Unterstützung des Vorhabens genügen;

c)      unter Berücksichtigung der ermittelten Risiken wirksame und angemessene Vorbeugungsmaßnahmen gegen Betrug treffen;

(5)      Überprüfungen gemäß Absatz 4 Unterabsatz 1 Buchstabe a umfassen folgende Verfahren:

a)      Verwaltungsprüfung aller von den Begünstigten eingereichten Anträge auf Ausgabenerstattung,

b)      Vor-Ort-Überprüfungen der Vorhaben.

Häufigkeit und Umfang der Vor-Ort-Überprüfungen sind der Höhe der öffentlichen Unterstützung des Vorhabens und dem Risiko angemessen, das im Rahmen dieser Überprüfungen und Prüfungen des Verwaltungs- und Kontrollsystems insgesamt durch die Prüfbehörde ermittelt wird.“

13.      Art. 143 („Finanzielle Berichtigungen durch die Mitgliedstaaten“) Abs. 1 und 2 dieser Verordnung enthält die folgende Regelung:

„(1)      Es obliegt in erster Linie den Mitgliedstaaten, Unregelmäßigkeiten zu untersuchen, die erforderlichen finanziellen Berichtigungen vorzunehmen und die Wiedereinziehungen zu betreiben. …

(2)      Die Mitgliedstaaten nehmen die finanziellen Berichtigungen vor, die aufgrund der im Rahmen von Vorhaben oder operationellen Programmen festgestellten vereinzelten oder systembedingten Unregelmäßigkeiten notwendig sind. Finanzielle Berichtigungen bestehen in der vollständigen oder teilweisen Streichung des öffentlichen Beitrags zu einem Vorhaben oder operationellen Programm. …“

14.      Art. 2 Nr. 23 der Verordnung (EU) Nr. 651/2014(8) enthält die folgende Begriffsbestimmung:

„‚Beginn der Arbeiten‘: entweder der Beginn der Bauarbeiten für die Investition oder die erste rechtsverbindliche Verpflichtung zur Bestellung von Ausrüstung oder eine andere Verpflichtung, die die Investition unumkehrbar macht, wobei der früheste dieser Zeitpunkte maßgebend ist; der Kauf von Grundstücken und Vorarbeiten wie die Einholung von Genehmigungen und die Erstellung vorläufiger Durchführbarkeitsstudien gelten nicht als Beginn der Arbeiten. Bei einer Übernahme ist der ‚Beginn der Arbeiten‘ der Zeitpunkt des Erwerbs der unmittelbar mit der erworbenen Betriebsstätte verbundenen Vermögenswerte;“

15.      Art. 29 („Zusammenarbeit mit Gerichten der Mitgliedstaaten“) Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 2015/1589(9) bestimmt:

„Zum Zweck der Anwendung von Artikel 107 Absatz 1 und Artikel 108 AEUV können die Gerichte der Mitgliedstaaten die Kommission um Übermittlung von Informationen, die sich im Besitz der Kommission befinden, oder um Stellungnahme zu Fragen, die die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen betreffen, bitten.“

16.      In Rn. 38 der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007–2013 (2006/C 54/08) (ABl. 2006, C 54, S. 13) heißt es:

„Es ist wichtig, dass eine Regionalbeihilfe Anreiz zu Investitionen gibt, die sonst in den geförderten Regionen nicht getätigt würden. Daher können Beihilfen im Rahmen von Beihilferegelungen nur gewährt werden, wenn der Empfänger diese beantragt hat und die für die Verwaltung der Regelung zuständige Behörde vor Beginn der Arbeiten schriftlich bestätigt(39) hat, dass das Vorhaben vorbehaltlich einer detaillierten Überprüfung die Förderwürdigkeitsbedingungen grundsätzlich erfüllt(40). In sämtlichen Beihilferegelungen ist ausdrücklich auf diese beiden Voraussetzungen zu verweisen(41). Bei Ad-hoc-Beihilfen muss die zuständige Behörde vor Beginn der Arbeiten eine schriftliche Absichtserklärung zur Gewährung der Beihilfe abgeben, die von der Genehmigung der Beihilfe durch die Kommission abhängig ist. Werden die Arbeiten begonnen, bevor diese Bedingungen erfüllt sind, so kann das Vorhaben keine Beihilfen erhalten.“

17.      Fn. 40 (Fn. 39 der estnischen Fassung) dieser Leitlinien enthält die folgende Klarstellung:

„Unter dem ‚Beginn der Arbeiten‘ ist entweder die Aufnahme der Bauarbeiten oder die erste verbindliche Verpflichtung zur Bestellung von Anlagen zu verstehen, wobei Durchführbarkeitsstudien ausgeschlossen sind.“

18.      In den Rn. 16, 20 und 41 der Bekanntmachung der Kommission über die Durchsetzung des Beihilferechts durch die einzelstaatlichen Gerichte (2009/C 85/01) (ABl. 2009, C 85, S. 1) heißt es:

„16.      Einzelstaatliche Gerichtsverfahren können die Anwendbarkeit einer Gruppenfreistellungsverordnung oder einer bestehenden bzw. genehmigten Beihilferegelung oder sowohl einer solchen Verordnung als auch einer solchen Regelung zum Gegenstand haben. Geht es um die Anwendbarkeit einer solchen Verordnung oder Regelung, so muss sich das einzelstaatliche Gericht auf die Prüfung der Frage beschränken, ob alle Voraussetzungen der betreffenden Verordnung bzw. Regelung erfüllt sind. Ist Letzteres nicht der Fall, so darf sich das Gericht nicht zur Vereinbarkeit der Beihilfemaßnahme mit dem [Binnenmarkt] äußern, da für die Beurteilung dieser Frage ausschließlich die Kommission zuständig ist.

20.      Die Hauptaufgabe der Kommission besteht darin, anhand der Kriterien von Artikel [107] Absätze 2 und 3 [AEU]-Vertrag die Vereinbarkeit der geplanten Beihilfemaßnahmen mit dem [Binnenmarkt] zu prüfen. Diese Prüfung fällt in die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission und unterliegt der Kontrolle durch die [Unionsgerichte]. Nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH sind die einzelstaatlichen Gerichte nicht befugt, eine Beihilfemaßnahme für mit Artikel [107] Absatz 2 oder 3 [AEU]-Vertrag vereinbar zu erklären.

41.      Die einzelstaatlichen Gerichte müssen im Rahmen ihrer Verpflichtung, die Zahlung von Rechtswidrigkeitszinsen anzuordnen, zunächst die zurückzufordernden Zinsen ermitteln. Dafür gelten folgende Grundsätze:

a)      Ausgegangen wird vom nominalen Beihilfebetrag.

b)      Bei der Festlegung des zugrunde zu legenden Zinssatzes und der Berechnungsmethode sollten die einzelstaatlichen Gerichte berücksichtigen, dass sie bei der Anordnung der Zahlung von Rechtswidrigkeitszinsen dasselbe Ziel verfolgen müssen wie die Kommission bei einer entsprechenden Anordnung auf der Grundlage von Artikel 14 der [Verordnung Nr. 659/1999]. Ferner ist zu bedenken, dass es sich bei Klagen auf Zahlung von Rechtswidrigkeitszinsen um Klagen nach dem [Unionsrecht] handelt, die sich unmittelbar auf Artikel [108] Absatz 3 [AEU]-Vertrag stützen. …

c)      Damit die Kohärenz mit Artikel 14 der [Verordnung Nr. 659/1999] gewährleistet und dem Effektivitätsgrundsatz entsprochen wird, darf die vom einzelstaatlichen Gericht angewandte Zinsberechnungsmethode nach Auffassung der Kommission nicht weniger streng sein als die in der Durchführungsverordnung festgelegte Methode. Demnach müssen die Rechtswidrigkeitszinsen nach der Zinseszinsformel berechnet werden, und der zugrunde gelegte Zinssatz darf nicht niedriger sein als der Referenzzinssatz.

d)      Ist die nach einzelstaatlichem Recht vorgesehene Zinsberechnungsmethode strenger als die in der Durchführungsverordnung festgelegte Methode, so muss das einzelstaatliche Gericht nach Auffassung der Kommission zudem im Einklang mit dem Äquivalenzgrundsatz die strengeren einzelstaatlichen Vorschriften auch auf Klagen anwenden, die sich auf Artikel [108] Absatz 3 [AEU]-Vertrag stützen.

e)      Die Zinsen werden in jedem Fall ab dem Zeitpunkt berechnet, ab dem die rechtswidrige Beihilfe dem Empfänger zur Verfügung stand. Bis zu welchem Zeitpunkt sie berechnet werden, hängt von der Lage bei Verkündung des einzelstaatlichen Urteils ab. …“

B.      Estnisches Recht

19.      § 26 („Rückforderung der Beihilfe“) Abs. 5 und 6 des Perioodi 2007–2013 struktuuritoetuse seadus (Gesetz über die Strukturbeihilfe für den Zeitraum 2007–2013, im Folgenden: STS)(10) sieht vor:

„(5)      Die Entscheidung über die Rückforderung kann spätestens am 31. Dezember 2025 erlassen werden. Im in Art. 88 der Verordnung … Nr. 1083/2006 … geregelten Fall kann die Entscheidung über die Rückforderung bis zum Ablauf der von der Regierung der Republik für die Aufbewahrung der Unterlagen bestimmten Frist erlassen werden.

(6)      Die Regierung der Republik legt die Voraussetzungen und das Verfahren für die Rückforderung und die Rückzahlung der Förderung fest.“

20.      § 28 („Zinsen und Verzugszinsen“) Abs. 1 bis 3 dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Auf den ausstehenden Betrag einer aufgrund von § 26 Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes zurückzuzahlenden Förderung werden Zinsen verlangt. Der Zinssatz auf den ausstehenden Betrag der zurückzuzahlenden Förderung ist der Euribor für sechs Monate zuzüglich 5 % jährlich. Die Zinsberechnungsgrundlage ist ein Zeitraum von 360 Tagen.

(11)      Zinsen werden nicht verlangt, wenn ein erzielter Gewinn zurückgefordert wird und der Empfänger der Beihilfe die Verpflichtungen zur Mitteilung des Gewinns aus dem Projekt erfüllt hat, die ihm nach Maßgabe des Verfahrens gemäß § 21 Abs. 2 dieses Gesetzes auferlegt wurden.

(2)      Die Zinsen werden ab dem Tag berechnet, an dem die Entscheidung über die Rückforderung wirksam wird, wobei der Zinssatz zugrunde gelegt wird, der am letzten Werktag des dem Kalendermonat, in dem die Entscheidung erlassen wurde, vorangegangenen Monats galt. Wurde bei der Beantragung oder der Verwendung der Förderung eine Straftat begangen, so werden die Zinsen ab dem Tag der Auszahlung der Förderung berechnet, wobei der an diesem Tag geltende Zinssatz zugrunde gelegt wird.

(3)      Die Zinsen werden bis zum Tag der Rückzahlung der Förderung berechnet, jedoch nicht länger als bis zum Termin für die Rückzahlung, im Fall einer Stundung bis zum endgültigen Termin für die Rückzahlung. …“

21.      § 11 („Rückforderung der Beihilfe“) Abs. 1 des määrus nr 278 „Toetuse tagasinõudmise ja tagasimaksmise ning toetuse andmisel ja kasutamisel toimunud rikkumisest teabe edastamise tingimused ja kord“ (Verordnung Nr. 278 vom 22. Dezember 2006 über die Voraussetzungen und Verfahren für die Rückforderung und die Rückzahlung der Förderung und für die Übermittlung der Information über einen bei der Gewährung und der Verwendung der Förderung aufgetretenen Verstoß)(11) lautet:

„Die Entscheidung über die Rückforderung der Förderung ist eine Ermessensentscheidung; sie ergeht innerhalb von 45 Kalendertagen, bei einer Rückforderung von mehr als 127 823 Euro innerhalb von 90 Kalendertagen, gerechnet ab dem Tag der Kenntniserlangung von den Gründen für die Rückforderung der Förderung. In begründeten Fällen kann die Frist für den Erlass der Entscheidung um eine angemessene Frist verlängert werden.“

22.      In § 1 („Anwendungsbereich“) des määrus nr 44 „Tööstusettevõtja tehnoloogiainvesteeringu toetamise tingimused ja kord“ (ministerielle Verordnung vom 4. Juni 2008 über die Voraussetzungen und das Verfahren für die Förderung von Technologieinvestitionen von Industrieunternehmen [in Kraft getreten am 15. Juni 2008] [RTL 2008, 48, 658; RT I, 4.1.2013, 9, im Folgenden: Verordnung Nr. 44] heißt es u. a.:

„(1)      Die Voraussetzungen und das Verfahren für die Förderung von Technologieinvestitionen von Industrieunternehmen (im Folgenden: Maßnahme) werden zur Umsetzung der auf das ‚Innovations- und Wachstumspotenzial der Unternehmen‘ gerichteten Ziele als Schwerpunkte des operationellen Programms ‚Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen‘ festgelegt.

(2)      Im Rahmen der Maßnahme können bewilligt werden: 1. eine nach Maßgabe der [allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung] gewährte und den Bestimmungen dieser Verordnung sowie des § 342 des [konkurentsiseadus (Wettbewerbsgesetz)] unterliegende Regionalbeihilfe; …“

II.    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

23.      Eesti Pagar schloss am 28. August 2008 mit der Kauko-Telko Oy einen Kaufvertrag, in dem sie sich zum Erwerb einer Fertigungslinie für Kasten- und Toastbrot zum Preis von 2 770 000 Euro verpflichtete. Nach den Bestimmungen des Vertrags wurde dieser bei Leistung einer ersten Anzahlung in Höhe von 5 %, die am 3. September 2008 erfolgte, wirksam.

24.      Am 29. September 2008 schloss Eesti Pagar mit der Nordea Finance Estonia AS einen Leasingvertrag, woraufhin die Parteien am 13. Oktober 2008 einen dreiseitigen Kaufvertrag schlossen, in dem Kauko-Telko sich verpflichtete, diese Brotfertigungslinie an Nordea Finance Estonia zu verkaufen, die sich verpflichtete, Letztere an Eesti Pagar zu verleasen. Dieser Vertrag galt ab seiner Unterzeichnung.

25.      Am 24. Oktober 2008 stellte Eesti Pagar bei der EAS aufgrund von § 1 der Verordnung Nr. 44 einen Antrag auf Beihilfe für die Anschaffung und die Installation der erwähnten Brotfertigungslinie. Die EAS gab diesem Antrag mit Entscheidung vom 10. März 2009 in Höhe von 526 300 Euro statt.

26.      Am 8. Januar 2014 erließ die EAS eine Entscheidung, mit der sie von Eesti Pagar den Betrag der Beihilfe zuzüglich Zinsen und Zinseszinsen in Höhe von insgesamt 98 454 Euro für die Zeit von der Zahlung der Beihilfe bis zur Rückforderungsentscheidung zurückforderte. In dieser Entscheidung hieß es, dass als Ergebnis einer im Dezember 2012 durchgeführten Nachprüfung festgestellt worden sei, dass der Kaufvertrag vom 28. August 2008 vor der Einreichung des Beihilfeantrags bei der EAS geschlossen worden sei, weshalb der nach Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung erforderliche Anreizeffekt der Beihilfe nicht nachgewiesen sei.

27.      Gegen diese Rückforderungsentscheidung legte Eesti Pagar am 10. Februar 2014 beim Ministerium Widerspruch ein, der mit der Majandus- ja Kommunikatsiooniministeeriumi käskkiri nr 14-0003 Vaideotsus (Entscheidung des Ministeriums Nr. 14-0003 vom 21. März 2014) zurückgewiesen wurde.

28.      Am 21. April 2014 erhob Eesti Pagar beim Tallinna Halduskohus (Verwaltungsgericht Tallinn, Estland) Klage auf Nichtigerklärung der Rückforderungsentscheidung der EAS sowie der bestätigenden Entscheidung des Ministeriums, hilfsweise auf Feststellung der Rechtswidrigkeit dieser Entscheidungen, soweit sie die Rückzahlung der Beihilfe betreffen, weiter hilfsweise auf ihre Nichtigerklärung hinsichtlich der Zinsforderung. Mit Urteil vom 17. November 2014 wies dieses Gericht die Klage in vollem Umfang ab.

29.      Gegen dieses Urteil legte Eesti Pagar am 16. Dezember 2014 beim vorlegenden Gericht Berufung ein, die mit Urteil vom 25. September 2015 zurückgewiesen wurde.

30.      Am 26. Oktober 2015 legte Eesti Pagar Kassationsbeschwerde ein, der das Riigikohus (Oberstes Gericht, Estland) mit Urteil vom 9. Juni 2016 insoweit teilweise stattgab, als es das Urteil des vorlegenden Gerichts aufhob und Nr. 1.1 des verfügenden Teils der Rückforderungsentscheidung sowie den Teil von dessen Nr. 1.2 für nichtig erklärte, der die Zinsen betraf, die aus der nach Nr. 1.1 errechneten Summe der Zinseszinsen festzusetzen waren; im Übrigen verwies es die Sache an das vorlegende Gericht zu erneuter Prüfung zurück. Dieses Urteil des Riigikohus (Oberstes Gericht) beruht u. a. auf den folgenden Erwägungen:

–        Eine vor der Beantragung der Beihilfe geschlossene verbindliche Vereinbarung zum Zweck des Erwerbs von Anlagen schließe einen Anreizeffekt nicht aus, wenn der Käufer sich bei einer Versagung der Beihilfe ohne übermäßige Schwierigkeiten von dem Vertrag lossagen könne, was im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen erscheine;

–        es gebe keine Vorschrift des Unionsrechts, die die Mitgliedstaaten ausdrücklich und zwingend verpflichten würde, eine Beihilfe ohne eine entsprechende Entscheidung der Kommission zurückzufordern, weshalb die Rückforderung einer solchen Beihilfe auf eigene Initiative des Mitgliedstaats eine Ermessensentscheidung der nationalen Stellen sei;

–        werde eine Beihilfe auf Initiative des Mitgliedstaats zurückgefordert, so sei bei der Ausübung des Ermessens das berechtigte Vertrauen des Begünstigten zu berücksichtigen, das auch durch die Tätigkeit einer nationalen Stelle entstehen könne;

–        zwar sei im vorliegenden Fall unklar, ob die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 festgelegte Verjährungsfrist von vier Jahren bei der Rückforderung der von einem Mitgliedstaat gezahlten Strukturbeihilfen anwendbar sei; jedenfalls könne aber die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehene Verjährungsfrist von zehn Jahren keine Anwendung finden, wenn die Kommission keine Entscheidung über die Rückforderung der Beihilfe erlassen habe;

–        weder im estnischen noch im Unionsrecht gebe es eine Rechtsgrundlage dafür, Zinsen für die Zeit zwischen der Auszahlung der Beihilfe und ihrer Wiedereinziehung zu verlangen, da insbesondere die Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 gemäß Art. 14 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung Nr. 659/1999 nur Zinsen beträfen, die für eine aufgrund einer Kommissionsentscheidung zurückzuzahlende Beihilfe anfielen, und da in Art. 4 Abs. 2 sowie in Art. 5 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2988/95 keine Verpflichtung zur Zinszahlung festgelegt, sondern vielmehr vorausgesetzt werde, dass eine solche Verpflichtung durch Rechtsvorschriften der Union oder der Mitgliedstaaten geregelt werde.

31.      In dem vor dem vorlegenden Gericht wieder aufgenommenen Verfahren macht Eesti Pagar u. a. geltend, die von ihr am 28. August, 29. September und 13. Oktober 2008 geschlossenen Verträge seien nicht bindend gewesen, da sie davon bei einer Verweigerung der Beihilfe ohne Weiteres hätte zurücktreten können, wobei der Rücktritt mit geringen Kosten verbunden gewesen wäre. Das Vorhaben wäre ohne die beantragte Beihilfe nicht realisiert worden, und die EAS hätte deren Anreizeffekt inhaltlich prüfen müssen.

32.      Eesti Pagar trägt auch vor, dass der Abschluss dieser Verträge der EAS bei Einreichung des Beihilfeantrags bekannt gewesen sei und dass ein Vertreter der EAS ihr empfohlen habe, sie vor der Einreichung dieses Antrags abzuschließen. Durch die Gewährung der beantragten Beihilfe habe die EAS daher ein berechtigtes Vertrauen von Eesti Pagar in die Rechtmäßigkeit der Beihilfe begründet.

33.      Eesti Pagar macht weiter geltend, dass die EAS nicht verpflichtet sei, die Beihilfe zurückzufordern, hilfsweise, dass deren Rückforderung nach § 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 278 sowie § 26 Abs. 6 des STS und sogar nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 verjährt sei und dass die Zinsforderung im Widerspruch zu § 27 Abs. 1 und § 28 Abs. 1 bis 3 des STS stehe.

34.      Die EAS und das Ministerium sind der Ansicht, dass der Beihilfeantrag den Anforderungen nach Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung nicht entspreche und dass die EAS insbesondere gemäß Art. 101 der Verordnung Nr. 1083/2006 verpflichtet gewesen sei, die Beihilfe von Eesti Pagar zurückzufordern.

35.      Die EAS bestreitet, dass sie bei der Prüfung des Antrags Kenntnis von den Verträgen gehabt habe, die Eesti Pagar am 28. August, 29. September und 13. Oktober 2008 geschlossen habe, und dass sie zu deren Abschluss geraten habe. Sie habe somit bei Eesti Pagar kein berechtigtes Vertrauen begründet. Das Ministerium meint, dass jedenfalls weder die Gutgläubigkeit des Beihilfeempfängers noch das Verhalten eines Verwaltungsorgans von der Verpflichtung befreie, eine rechtswidrige Beihilfe zurückzuzahlen.

36.      Die EAS und das Ministerium tragen vor, dass im vorliegenden Fall die zehnjährige Verjährungsfrist nach Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 zumindest entsprechend gelte und dass sich die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen aus Art. 11 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 2 dieser Verordnung ergebe.

37.      Am 30. Dezember 2016 reichte die Kommission beim vorlegenden Gericht als amicus curiae eine Stellungnahme gemäß Art. 29 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 ein.

38.      Das vorlegende Gericht führt erstens aus, es sei zwar aufgrund einer innerstaatlichen Rechtsvorschrift, nach der für die Gerichte, die nicht in letzter Instanz entschieden, die von einem Gericht einer höheren Instanz vorgenommene Beurteilung einer Rechtsfrage verbindlich sei, an die Vorgaben im Urteil des Riigikohus (Oberstes Gericht) vom 9. Juni 2016 hinsichtlich der Auslegung und Anwendung des Rechts gebunden; aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergebe sich jedoch, dass eine solche Rechtsvorschrift ihm nicht die in Art. 267 AEUV vorgesehene Befugnis nehmen könne, dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts vorzulegen.

39.      Zweitens sei es zweifelhaft, ob die Auffassung des Riigikohus (Oberstes Gericht), wonach es möglich gewesen sei, zu beurteilen, ob sich die Person, die die Beihilfe beantragt habe, im Fall einer Versagung der Beihilfe ohne übermäßige Schwierigkeiten von den Verträgen hätte lossagen können, auch für die von einem Mitgliedstaat nach der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung vorgenommene Beurteilung des Anreizeffekts gelte und ob eine mitgliedstaatliche Stelle befugt sei, bei einer Beihilfe das Vorliegen eines Anreizeffekts in der Sache zu prüfen.

40.      Drittens gehe aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht klar hervor, ob ein Mitgliedstaat, wenn er ohne einen entsprechenden Beschluss der Kommission über die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe entscheide, befugt sei, von den innerstaatlichen Verwaltungsverfahrensgrundsätzen auszugehen und ein beim Beihilfeempfänger durch eine mitgliedstaatliche Stelle hervorgerufenes berechtigtes Vertrauen zu berücksichtigen.

41.      Viertens sei auch weiterhin unklar, ob bei der von einer mitgliedstaatlichen Stelle erlassenen Entscheidung über die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe von der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 vorgesehenen Verjährungsfrist von vier Jahren oder der in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Verjährungsfrist von zehn Jahren auszugehen sei.

42.      Fünftens sei es, auch wenn das Riigikohus (Oberstes Gericht) den Rechtsstreit über die Zinsen zum Teil entschieden und die Rückforderungsentscheidung insoweit für nichtig erklärt habe, als Eesti Pagar zur Zahlung von Zinsen verpflichtet worden sei, für die Entscheidung über die Sache weiterhin erforderlich, Klarheit darüber zu gewinnen, welche Anforderungen sich aus dem Unionsrecht bei einer von einem Mitgliedstaat aus eigener Initiative vorgenommenen Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe hinsichtlich der Zahlung von Zinsen ergäben.

43.      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs gehe nicht mit hinreichender Klarheit hervor, ob die mitgliedstaatliche Stelle verpflichtet sei, bei der aus eigener Initiative vorgenommenen Rückforderung von den Zielen des Art. 108 Abs. 3 AEUV auszugehen, unabhängig von den im innerstaatlichen Recht für die Forderung von Zinsen festgelegten Regeln, und die Zinsen gemäß den Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 zu berechnen.

44.      Unter diesen Umständen hat das Tallinna Ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung dahin auszulegen, dass im Kontext dieser Bestimmung mit der „[Durchführung] des Vorhabens oder der Tätigkeit“ begonnen wurde, wenn die zu fördernde Tätigkeit beispielsweise im Erwerb einer Anlage besteht und der Kaufvertrag über die entsprechende Anlage abgeschlossen wurde? Sind die mitgliedstaatlichen Stellen befugt, einen Verstoß gegen das in der genannten Bestimmung aufgestellte Kriterium anhand der Kosten eines Rücktritts von dem Vertrag, der gegen das Erfordernis des Anreizeffekts verstößt, zu beurteilen? Wenn die mitgliedstaatlichen Stellen eine solche Befugnis haben, bei wie hohen Kosten (in Prozent), die für den Rücktritt vom Vertrag anfallen, lässt sich dann davon ausgehen, dass sie unter dem Aspekt der Erfüllung des Erfordernisses des Anreizeffekts hinreichend marginal sind?

2.      Ist eine mitgliedstaatliche Stelle verpflichtet, eine von ihr gewährte rechtswidrige Beihilfe auch dann zurückzufordern, wenn die Kommission keinen entsprechenden Beschluss erlassen hat?

3.      Kann eine mitgliedstaatliche Stelle, die entscheidet, eine Beihilfe zu gewähren – in der falschen Annahme, dass es sich um eine Beihilfe handelt, die den Gruppenfreistellungsvoraussetzungen entspricht, während sie in Wirklichkeit eine rechtswidrige Beihilfe gewährt – bei den Empfängern der Beihilfe ein berechtigtes Vertrauen begründen? Genügt für die Begründung eines berechtigten Vertrauens bei den Empfängern insbesondere, dass die mitgliedstaatliche Stelle bei der Gewährung der rechtswidrigen Beihilfe die Umstände kennt, die dazu führen, dass die Beihilfe nicht von der Gruppenfreistellung erfasst wird?

Wenn die vorstehende Frage bejaht wird, müssen das öffentliche Interesse und das Interesse des Einzelnen gegeneinander abgewogen werden. Ist es im Kontext der entsprechenden Abwägung von Bedeutung, ob die Kommission in Bezug auf die in Rede stehende Beihilfe einen Beschluss erlassen hat, mit dem sie sie für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt hat?

4.      Welche Verjährungsfrist gilt für die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe durch eine mitgliedstaatliche Stelle? Beträgt diese Frist zehn Jahre entsprechend dem Zeitraum, nach dem die Beihilfe gemäß den Art. 1 und 15 der Verordnung Nr. 659/1999 zu einer bestehenden Beihilfe wird und nicht mehr zurückgefordert werden kann, oder vier Jahre gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95?

Was ist die Rechtsgrundlage für eine solche Rückforderung, wenn die Beihilfe aus einem Strukturfonds gewährt wurde: Art. 108 Abs. 3 AEUV oder die Verordnung Nr. 2988/95?

5.      Wenn eine mitgliedstaatliche Stelle eine rechtswidrige Beihilfe zurückfordert, ist sie dann dabei verpflichtet, von dem Empfänger Zinsen auf die rechtswidrige Beihilfe zu verlangen? Wenn ja, welche Regeln finden dann auf die Berechnung der Zinsen u. a. hinsichtlich des Zinssatzes und des Berechnungszeitraums Anwendung?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

45.      Eesti Pagar, die estnische und die griechische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die EAS und alle vorerwähnten Verfahrensbeteiligten außer der griechischen Regierung haben in der Sitzung vom 18. Juni 2018 mündlich verhandelt.

IV.    Würdigung

A.      Zur Vorgeschichte des Ausgangsrechtsstreits

1.      Resümee der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

46.      Die Kommission macht geltend, das vorlegende Gericht habe sich nicht abschließend dazu geäußert, ob die geschlossenen Verträge rechtsverbindlich gewesen seien, ob die EAS bei der Prüfung des Beihilfeantrags vom Abschluss dieser Verträge Kenntnis gehabt habe und ob die EAS Eesti Pagar empfohlen habe, diese Verträge zu schließen.

47.      Dem Urteil des Riigikohus (Oberstes Gericht) vom 9. Juni 2016 und dem Vorabentscheidungsersuchen sei zu entnehmen, dass zumindest der dreiseitige Kaufvertrag vom 13. Oktober 2008 eine verbindliche Vereinbarung dargestellt habe und dass das vorlegende Gericht davon ausgegangen sei, dass die EAS Kenntnis vom Abschluss der Verträge gehabt, Eesti Pagar aber nicht geraten habe, diese abzuschließen.

48.      Eesti Pagar trägt vor, der Vertrag vom 28. August 2008 sei eigentlich nur ein Vorvertrag, nicht aber ein endgültig bindender Vertrag gewesen; Letzterer habe nach dem Willen der Parteien nicht wirksam werden sollen, wenn die EAS die beantragte Beihilfe nicht gewähren würde. Es stehe fest, dass sich die Eesti Pagar für einen Rückzug aus dem vorvertraglichen Verhältnis entstehenden Kosten auf einen – von ihr bereits vor Einreichung des Beihilfeantrags gezahlten – Betrag in Höhe von 5 % des gesamten Vertragspreises beschränkt hätten.

49.      Aus dem Leasingvertrag vom 29. September 2008 ergebe sich, dass die damit verbundenen Verpflichtungen entgegen der Darstellung des vorlegenden Gerichts erst bei Vorliegen mehrerer Voraussetzungen wirksam werden sollten. Wegen dieser Voraussetzungen sei der Leasingvertrag erst am 7. November 2008 und somit nach Einreichung des Beihilfeantrags wirksam geworden.

50.      Der Vertrag vom 13. Oktober 2008 habe keine Verpflichtung für Eesti Pagar begründet und keinen anderen Zweck als der Vertrag vom 28. August 2008 verfolgt. Zudem habe die EAS weder in der Rückforderungsentscheidung noch im Verfahren vor dem vorlegenden Gericht diesen Vertrag erwähnt.

51.      Im Übrigen gehe aus einer Reihe von Beweismitteln hervor, dass die EAS Kenntnis von diesen Verträgen gehabt und Eesti Pagar empfohlen habe, sie vor Einreichung des Beihilfeantrags abzuschließen.

2.      Würdigung

52.      Es ist klar, dass es in einem Vorabentscheidungsverfahren allein Sache des vorlegenden Gerichts ist, die Tatsachenfeststellungen zu treffen, und dass der Gerichtshof diese nicht (wie von Eesti Pagar im vorliegenden Fall gewünscht) korrigieren darf.

53.      Davon abgesehen bin ich (wie die Kommission) der Meinung, dass das vorlegende Gericht offenbar noch keine endgültige Feststellung dazu getroffen hat, ob die am 28. August, 29. September und 13. Oktober 2008(12) geschlossenen Verträge rechtsverbindlich waren, ob die EAS bei der Prüfung des Beihilfeantrags wusste, dass diese Verträge zuvor abgeschlossen worden waren, und ob die EAS Eesti Pagar empfohlen hatte, diese Verträge vor der Einreichung des Beihilfeantrags abzuschließen(13).

54.      Dies erleichtert dem Gerichtshof seine Aufgabe natürlich nicht, da es, wie aus der Rechtsprechung hervorgeht, wünschenswert ist und „je nach der Gestaltung des Falles von Vorteil sein [kann], wenn der Sachverhalt und die ausschließlich nach nationalem Recht zu beurteilenden Fragen zum Zeitpunkt der Vorlage an den Gerichtshof geklärt sind“(14).

55.      Auf jeden Fall werde ich, um dem vorlegenden Gericht nützliche Antworten zu geben, auf jede dieser Varianten eingehen, und zwar insbesondere auf diejenigen, wonach die EAS von diesen Verträgen wusste und Eesti Pagar empfahl, sie vor Einreichung ihres Antrags abzuschließen.

B.      Zur Zulässigkeit der Vorlagefragen

1.      Resümee der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

56.      Nach der Ansicht von Eesti Pagar hat das Riigikohus (Oberstes Gericht) mit seinem Urteil vom 9. Juni 2016 den Rechtsstreit auf nationaler Ebene im Wesentlichen entschieden, so dass die Vorlagefragen angesichts des Verfahrensstadiums, in dem sie gestellt würden, außer der vierten Frage unzulässig und irrelevant seien, zumal das Riigikohus (Oberstes Gericht) in diesem Urteil selbst erklärt habe, die Befassung des Gerichtshofs mit einem Vorabentscheidungsersuchen könne nur für die Frage der Verjährung relevant sein.

57.      Im Übrigen meint Eesti Pagar, dass die erste Frage als solche irrelevant sei und auf der unzutreffenden Prämisse einer Missachtung des Anreizeffekts beruhe, dass die zweite Frage eher darauf zu richten sei, ob eine Rechtsgrundlage für die Verpflichtung eines Mitgliedstaats bestehe, eine Beihilfe aus eigener Initiative zurückzufordern, und dass die dritte Frage auf einer unvollständigen Darstellung des Sachverhalts beruhe, da die EAS ihr den Abschluss der Verträge vom 28. August, 29. September und 13. Oktober 2008 empfohlen habe; die vierte Frage sei in dem Sinne zu ergänzen, dass sie die Rückforderung einer Beihilfe auf Veranlassung einer nationalen Stelle betreffe, und beruhe auf der unrichtigen Annahme, dass eine Rückforderungspflicht aus Art. 108 Abs. 3 AEUV herzuleiten sei.

2.      Würdigung

58.      Ich weise darauf hin, dass das Riigikohus (Oberstes Gericht) in seinem Urteil vom 9. Juni 2016 die Aufhebung des früheren Urteils des vorlegenden Gerichts und die teilweise Nichtigerklärung der streitigen Entscheidung u. a. auf die Auslegung mehrerer Bestimmungen des Unionsrechts gestützt hat, ohne dass dieses oberste Gericht an den Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen gerichtet hätte. Die Kommission, die sich auf Bitten des vorlegenden Gerichts gemäß Art. 29 Abs. 1 der Verordnung 2015/1589 am Ausgangsrechtsstreit alsamicus curiae beteiligt hat, hat sowohl vor diesem Gericht als auch vor dem Gerichtshof nahezu alle unionsrechtlichen Erwägungen des Riigikohus (Oberstes Gericht) bemängelt.

59.      Das vorlegende Gericht erklärt zwar, nach estnischem Recht durch die vom Riigikohus (Oberstes Gericht) vorgenommene Auslegung und Anwendung des Rechts gebunden zu sein, meint jedoch, dies könne ihm nicht die Befugnis nehmen, dem Gerichtshof nach Art. 267 AEUV Fragen zur Auslegung des Unionsrechts vorzulegen. Sein Vorabentscheidungsersuchen beruht somit im Wesentlichen auf den Zweifeln, die es an der vom Riigikohus (Oberstes Gericht) vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts hat.

60.      Ein unterinstanzliches Gericht behält in einer solchen Situation zwar grundsätzlich die Befugnis, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen(15); der Rechtsstreit darf jedoch durch das Urteil des höchsten estnischen Gerichts noch nicht endgültig entschieden sein, weil die Vorlagefragen sonst rein hypothetisch sind.

61.      Meines Erachtens geht aus dem Vorlagebeschluss klar hervor, dass das vorlegende Gericht noch in vollem Umfang über den Ausgangsrechtsstreit hinsichtlich der Probleme zu entscheiden hat, die Gegenstand der Vorlagefragen 1 bis 4 sind.

62.      Zu der die Zinsen betreffenden fünften Frage weist das vorlegende Gericht selbst darauf hin, dass das Riigikohus (Oberstes Gericht) den Ausgangsrechtsstreit teilweise entschieden habe, indem es die Rückforderungsentscheidung für nichtig erklärt habe, soweit Eesti Pagar darin zur Zinszahlung verpflichtet worden sei. Für die Entscheidung über die bei ihm anhängige Sache sei es jedoch weiterhin erforderlich, die unionsrechtlichen Anforderungen für die Zahlung von Zinsen für den Fall zu erfahren, dass ein Mitgliedstaat eine rechtswidrige Beihilfe aus eigener Initiative zurückfordere.

63.      Jedenfalls bin ich (wie die Kommission) der Ansicht, dass das Riigikohus (Oberstes Gericht) in seinem Urteil ausgeführt hat, das vorlegende Gericht müsse noch über die Frage der Zinsberechnung entscheiden, wodurch folglich eine Neufestsetzung der aufgehobenen Zinsen nicht ausgeschlossen wird, falls die Kommission einen Beschluss zur Rückforderung der Beihilfe erlassen sollte.

C.      Zur ersten Vorlagefrage: Anreizeffekt der Beihilfe

1.      Resümee der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

64.      Eesti Pagar trägt vor, aus den Umständen des Falles und den vorgelegten Beweismitteln gehe klar hervor, dass die Beihilfe einen Anreizeffekt gehabt habe. Sie betont, dass sie das Vorhaben ohne diese Beihilfe nicht realisiert hätte, dass sie vor Antragstellung keinen endgültig verbindlichen Vertrag geschlossen habe und dass bei der Beurteilung der Bindungswirkung eines Vertrags die Möglichkeit eines Vertragsrücktritts sowie die damit verbundenen marginalen Kosten zu berücksichtigen seien.

65.      Hingegen könne man sich nicht auf eine Fußnote der unverbindlichen Leitlinien stützen, um geltend zu machen, dass die Beihilfe keinen Anreizeffekt habe. Jedenfalls müsse anstelle einer formalen Vorgehensweise eingehend geprüft werden, ob es schwer sei, sich von den Verträgen loszusagen.

66.      Da die Zusammenfassung der Antworten der Kommission auf „häufig gestellte Fragen“ an die mit der Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung betrauten nationalen Stellen gerichtet sei, hätten diese Stellen die genannte eingehende Prüfung der Frage vornehmen müssen, ob die Arbeiten schon begonnen hätten, wobei sich diese Prüfung im Übrigen von der Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt unterscheide. Die griechische Regierung teilt diese Auffassung.

67.      Daher nehme die Kommission, wenn sie im vorliegenden Fall behaupte, diese Zusammenfassung könne nicht als Maßstab dienen, einen Standpunkt ein, der im Widerspruch zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Vertrauensschutzes, der Klarheit sowie der Rechtssicherheit stehe und das in Art. 41 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgte Recht von Eesti Pagar auf eine ordnungsgemäße Verwaltung verletze.

68.      Eesti Pagar fragt sich schließlich, ob das mit Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung verfolgte Ziel erreicht werden könnte, wenn die Befugnis der nationalen Stelle auf die Feststellung der bloßen Tatsache beschränkt wäre, dass vor Einreichung des Beihilfeantrags ein bzw. kein Vertrag abgeschlossen worden sei.

69.      Nach Ansicht der estnischen Regierung kann die zuständige Stelle des Mitgliedstaats bei der Prüfung des Anreizeffekts nur auf das in Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung vorgesehene chronologische Kriterium des Anreizeffekts abstellen, wonach mit dem Vorhaben oder der Tätigkeit erst begonnen werden dürfe, nachdem der Beihilfeantrag gestellt worden sei. Diese Stelle könne keine anderen Umstände berücksichtigen, vor allem nicht die Frage der mit einem Rücktritt vom Vertrag verbundenen Kosten. Nur auf diese Weise sei es möglich, die einheitliche Anwendung der Gruppenfreistellungsvoraussetzungen zu garantieren und die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission für eine inhaltliche Beurteilung des Anreizeffekts zu wahren, was durch Rn. 16 der Bekanntmachung der Kommission über die Durchsetzung des Beihilferechts durch die einzelstaatlichen Gerichte bestätigt werde.

70.      Was den Begriff „Beginn des Vorhabens“ anbelange, so genüge es für eine Missachtung des Kriteriums des Anreizeffekts, wenn der Beihilfeempfänger die erste verbindliche Verpflichtung zur Bestellung von Anlagen eingehe, bevor er den Beihilfeantrag stelle. Diese Konsequenz sei aus Fn. 40 der Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007–2013 herzuleiten und werde durch Art. 2 Nr. 23 der Verordnung Nr. 651/2014 bestätigt.

71.      Die Kommission erklärt, im 28. Erwägungsgrund der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung werde der Begriff „Beginn des Vorhabens oder der Tätigkeit“ dergestalt definiert, dass das betreffende KMU einen Beihilfeantrag stelle, „bevor es mit der Durchführung des geförderten Vorhabens oder der geförderten Tätigkeiten beginnt“, und ist der Ansicht, durch den Abschluss der Verträge vom 28. August, 29. September und 13. Oktober 2008 sei mit der Durchführung des geförderten Vorhabens begonnen worden. Daher sei es offensichtlich, dass die im Ausgangsverfahren streitige Beihilfe nicht im Einklang mit Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung und somit rechtswidrig sei, da sie unter Missachtung der in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Anmeldepflicht gewährt worden sei.

72.      Diese Schlussfolgerung werde weder durch die Ausführungen in den Rn. 106 bis 109 des Urteils vom 13. Juni 2013, HGA u. a./Kommission (C‑630/11 P, EU:C:2013:387), noch durch das Argument von Eesti Pagar, wonach Letztere ohne Schwierigkeiten und zu marginalen Kosten von den Verträgen hätte zurücktreten können, noch durch die Zusammenfassung der Antworten der Kommission auf „häufig gestellte Fragen“ entkräftet.

73.      Erstens habe der Gerichtshof in diesen Randnummern zwar anerkannt, dass die Notwendigkeit der geplanten Beihilfe anhand anderer Kriterien als der vorherigen Einreichung des Beihilfeantrags nachgewiesen werden könne. Diese Feststellung sei jedoch im Kontext der von der Kommission gemäß Art. 107 Abs. 3 AEUV vorgenommenen Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe erfolgt und sei daher für den vorliegenden Fall nicht relevant, in dem es um die Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung durch eine nationale Stelle gehe. Dies hänge damit zusammen, dass die Vorschriften über die Gruppenfreistellung klar, ermessensfrei und von den mitgliedstaatlichen Stellen einfach anzuwenden sein müssten.

74.      Sodann stehe der Wortlaut von Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung und von deren 28. Erwägungsgrund jeder Auslegung entgegen, die von der Möglichkeit einer Beendigung der Verträge oder von der Höhe der Kosten eines Vertragsrücktritts abhänge, denn in diesen Bestimmungen sei vom „Beginn des Vorhabens oder der Tätigkeit“ sowie davon die Rede, dass das betreffende KMU einen Beihilfeantrag stellen müsse, „bevor es mit der Durchführung des geförderten Vorhabens oder der geförderten Tätigkeiten beginnt“. Zwar könne die Kommission bei der Prüfung des Kriteriums des Anreizeffekts im Rahmen des Art. 107 Abs. 3 AEUV die Schwierigkeit einer Beendigung der Verträge oder die Höhe der Kosten eines Vertragsrücktritts berücksichtigen; dies gelte aber nicht für die mitgliedstaatlichen Stellen bei der Anwendung von Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung.

75.      Schließlich weist die Kommission darauf hin, dass die von ihren Dienststellen formulierten Antworten auf „häufig gestellte Fragen“ den Inhalt einer Verordnung nicht ändern könnten, dass die vorerwähnte Zusammenfassung weder rechtsverbindlich noch für die nationalen Behörden und Gerichte relevant sei und dass sie, da sie keinen offiziellen Standpunkt der Kommission artikuliere, auch für diese keine Bindungswirkung habe. Jedenfalls betreffe diese Zusammenfassung nur den Abschluss von Vorverträgen wie etwa Durchführbarkeitsstudien, nicht aber den Abschluss von Verträgen über den durch eine Beihilfe geförderten Erwerb von Anlagen.

2.      Würdigung

76.      Mit seiner ersten Vorlagefrage bittet das vorlegende Gericht den Gerichtshof, den Begriff „Beginn des Vorhabens“ in Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung auszulegen und klarzustellen, über welche Befugnisse die nationalen Stellen bei der Anwendung dieser Bestimmung verfügen. Wie das vorlegende Gericht in Rn. 29 des Vorabentscheidungsersuchens selbst einräumt, lautet die zentrale Frage des vorliegenden Falles nämlich, ob die Eesti Pagar gewährte Regionalbeihilfe dem in dieser Bestimmung vorgesehenen Kriterium des Anreizeffekts entsprach(16).

77.      Zunächst bin ich der Meinung, dass eine Befugnis der nationalen Behörden zur Beurteilung des tatsächlichen Anreizeffekts einer von ihnen gewährten Beihilfe die ausschließliche Zuständigkeit der Kommission für die Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt nicht beeinträchtigt.

78.      Da im System der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung keinerlei Eingreifen der Kommission vorgesehen ist, gehört eine solche Beurteilung folgerichtig zu den Befugnissen der mit der Anwendung dieser Verordnung betrauten nationalen Behörden.

79.      Sodann stimme ich mit der estnischen Regierung und der Kommission darin überein, dass wegen Sinn und Zweck der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung die anwendbaren Kriterien klar und einfach sein müssen, damit eine einheitliche Anwendung in der gesamten Union gewährleistet ist.

80.      Zu dem Begriff „Beginn des Vorhabens“ hat die Kommission in ihren Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007–2013 klargestellt, dass „die erste verbindliche Verpflichtung zur Bestellung von Anlagen“ einen solchen Beginn darstellt, „wobei Durchführbarkeitsstudien ausgeschlossen sind“.

81.      Obwohl derartige Leitlinien für den Gerichtshof nicht bindend sind, sollte er meines Erachtens diese Definition als Ausgangspunkt nehmen, zumal die Kommission sie, wie die griechische Regierung zu Recht bemerkt, in Art. 2 Nr. 23 ihrer neuen allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung Nr. 651/2014 übernommen hat, wonach der „Beginn der Arbeiten“ u. a. in der „erste[n] rechtsverbindliche[n] Verpflichtung zur Bestellung von Ausrüstung oder eine[r] andere[n] Verpflichtung, die die Investition unumkehrbar macht“ (Hervorhebung nur hier), bestehen kann.

82.      Wenn aber nur eine verbindliche Vertragspflicht einen solchen Beginn darstellen kann, ist nach meinem Dafürhalten in jedem Einzelfall die Art der Verpflichtungen zu prüfen, die ein potenzieller Beihilfeempfänger gegebenenfalls eingegangen ist, bevor er einen Beihilfeantrag gestellt hat.

83.      Diese Sichtweise wird im Übrigen durch die Zusammenfassung der Antworten der Kommission auf „häufig gestellte Fragen“ bestätigt. In der Tat bin ich voll und ganz mit dem einverstanden, was aus diesem von den Dienststellen der Kommission für die Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung verfassten Dokument hervorgeht, dass nämlich das Kriterium „Beginn der Arbeiten“ u. a. im Sinne der vorerwähnten Fußnote der Leitlinien dahin auszulegen ist, dass auch dann, wenn vor Einreichung eines Beihilfeantrags Vereinbarungen abgeschlossen und Zahlungen getätigt wurden, eine formale Vorgehensweise nicht ausreichend sein kann, sondern im Einzelnen zu prüfen ist, ob und zu welchem Preis ein Rücktritt von den unterzeichneten Verträgen aus wirtschaftlicher Sicht möglich ist, ja sogar ob der Beihilfeempfänger viel Geld verlieren würde, wenn er die Verträge im Fall einer Versagung der Beihilfe kündigen müsste(17).

84.      Wie Eesti Pagar darlegt, könnte das mit Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung verfolgte Ziel nicht erreicht werden, wenn die Befugnis der nationalen Stelle auf die Feststellung der bloßen Tatsache beschränkt wäre, dass vor Einreichung des Beihilfeantrags ein bzw. kein Vertrag abgeschlossen wurde. Insbesondere könnte es in einer Situation völlig an einem Anreizeffekt fehlen, in der ein Antragsteller am Tag nach der Einreichung seines Beihilfeantrags einen verbindlichen Vertrag mit der Absicht schlösse, diesen unabhängig davon, ob die Beihilfe gewährt würde, zu erfüllen.

85.      An dieser Stelle muss, wie es zu Recht schon das Riigikohus (Oberstes Gericht) (in Rn. 21 seines Urteils vom 9. Juni 2016) getan hat, auf das „HGA“-Urteil(18) eingegangen werden, das die vorstehende Analyse stützt und dessen Vorgeschichte bemerkenswert ist.

86.      Zunächst hatte in dieser Rechtssache das Gericht(19) den Klagegrund geprüft, mit dem ein offensichtlicher Beurteilungsfehler bezüglich des Vorliegens einer Anreizwirkung gerügt worden war. Nachdem es in Rn. 215 seines Urteils hervorgehoben hatte, dass die Einreichung des Beihilfeantrags vor Beginn der Durchführung des Investitionsprojekts ein einfaches, sachgerechtes und angemessenes Kriterium sei, das es der Kommission erlaube, zu vermuten, dass eine Beihilferegelung eine Anreizwirkung habe, hat das Gericht in Rn. 226 dieses Urteils ausgeführt, es sei zu prüfen, ob die Klägerinnen im ersten Rechtszug belegt hätten, dass die Regelung trotz fehlender Einreichung des Antrags vor Beginn der Durchführung des Investitionsprojekts die Anreizwirkung sicherstellen könne.

87.      Generalanwalt Bot war der Ansicht(20), das Gericht habe „einen Rechtsfehler begangen, da es nicht, wie in den Rn. 215 und 226 des angefochtenen Urteils geschehen, hätte entscheiden dürfen, dass das Kriterium der vorherigen Antragstellung ein einfaches, sachgerechtes und angemessenes Kriterium sei, das der Kommission erlaube, das Vorliegen einer Anreizwirkung zu vermuten, sondern hätte entscheiden müssen, dass die Stellung des Beihilfeantrags vor Beginn der Projektausführung nach dessen Genehmigung durch die Kommission für die Erforderlichkeit der Beihilfe unabdingbar ist. Diese Unabdingbarkeit kann nur in Frage gestellt werden und die Prüfung anderer Umstände zulassen, wenn im Rahmen der Prüfung der Vereinbarkeit einer besonderen Beihilferegelung Umstände (Schriftwechsel, Erklärungen, Beschlüsse, Mitteilungen usw.), die allein der Kommission zuzurechnen sind, eine irrige Vorstellung über die Anwendbarkeit oder die Voraussetzungen der Anwendbarkeit von Ziff. 4.2 letzter Absatz der Leitlinien von 1998 auf die betreffende Regelung wecken. Diese Beurteilung wird meines Erachtens durch die zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen bestätigt, die die Kommission in den Leitlinien für staatliche Beihilfen mit regionaler Zielsetzung 2007–2013 getroffen hat“.

88.      Dieser Argumentation ist der Gerichtshof nicht gefolgt.

89.      Der Gerichtshof hat im Kern entschieden (vgl. Rn. 106 ff. seines Urteils vom 13. Juni 2013, HGA u. a./Kommission, C‑630/11 P, EU:C:2013:387), dass das Kriterium der Einreichung des Beihilfeantrags vor Beginn der Durchführung des Investitionsprojekts nur eine widerlegliche Vermutung ist –, so dass die Beihilfeempfänger alternative Beweise vorlegen dürfen, aus denen sich ergibt, dass die fragliche Maßnahme durchaus eine Anreizwirkung hatte.

90.      Außerdem wird im Schrifttum darauf hingewiesen(21), dass „[i]n the light of the [HGA] case law it may … be concluded that where soft law guidelines purport to introduce a legal obligation to submit a specific application form in order to be considered as eligible for an aid scheme it is highly questionable that if an applicant has failed to do so, the Commission could conclude that the aid would be incompatible without more. It is submitted that, in the light of [that case law], the failure to comply with such formalities should not establish a non-rebuttable presumption that the aid has no incentive effect and is incompatible – the Commission should look at the circumstances of the case to assess whether the (potential) beneficiary has an incentive to change its behavior. It will of course be for the Member States [or the beneficiaries] to provide sufficient evidence to support this claim“.

91.      Daraus folgt, dass die Behörde, die die Beihilfe gewährt, sich nicht hinter Formalismus verschanzen darf, sondern inhaltlich prüfen muss, ob der Beginn der Arbeiten in dem von mir dargelegten Sinne, wie dies nach der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung zu verstehen ist, stattgefunden hat.

92.      Obwohl die Kommission sowohl vor dem vorlegenden Gericht als auch vor dem Gerichtshof argumentiert hat, den nationalen Stellen stehe keinerlei Beurteilungsspielraum zu(22), bin ich der Ansicht – da die Zusammenfassung, auf die ich in Nr. 83 dieser Schlussanträge verwiesen habe, u. a. an die mit der Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung betrauten nationalen Stellen gerichtet ist –, dass kein vernünftiger Zweifel daran bestehen darf, dass diese Stellen im Einzelnen zu prüfen haben, ob die Arbeiten begonnen haben. Diese Prüfung unterscheidet sich im Übrigen von der Prüfung der Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Binnenmarkt, wobei ein Unternehmen, das beabsichtigt, eine Beihilfe zu beantragen, diese Zusammenfassung natürlich in Betracht ziehen darf.

93.      Das nur der Kommission zustehende Recht, die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Binnenmarkt zu beurteilen, schließt nämlich nicht aus, dass die nationale Stelle die Vereinbarkeit der Beihilfe mit der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung inhaltlich prüfen kann und muss, ohne hierbei rein formal vorzugehen.

94.      Was somit die in Rn. 29 des Vorlagebeschlusses geäußerten ungerechtfertigten Zweifel an der Befugnis der mitgliedstaatlichen Stelle zur inhaltlichen Prüfung des Vorliegens eines Anreizeffekts betrifft, ist meines Erachtens mit hinreichender Klarheit dargelegt worden, dass die mitgliedstaatliche Stelle befugt ist, das Vorliegen eines Anreizeffekts der Beihilfe in der Sache zu prüfen. Andernfalls wären die Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung und die hierauf gestützte Gewährung von Beihilfen gefährdet, weil die mitgliedstaatliche Stelle nicht prüfen könnte, ob das Kriterium des Anreizeffekts erfüllt ist.

95.      Außerdem muss die nationale Stelle das Vorliegen eines Anreizeffekts deshalb prüfen, weil sie sich bei der Entscheidung über die Gewährung oder Versagung der Beihilfe an die Vorgaben dieser Verordnung zu halten hat.

96.      Allerdings können sich die nationale Stelle und der Begünstigte, die gemeinsam für die Einhaltung dieser Verordnung verantwortlich sind, bei ernsthaften Zweifeln bezüglich des Vorliegens eines Anreizeffekts an die Kommission wenden, da diese es gewohnt ist, komplexe Prüfungen in diesem Bereich durchzuführen.

97.      Abschließend ist zu diesem Punkt festzuhalten, dass zwar die Beurteilung der Frage, ob die von Eesti Pagar vor Einreichung des Beihilfeantrags eingegangenen Verpflichtungen – tatsächlich – eine „verbindliche Verpflichtung“ im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (unter Ausschluss „vorvertraglicher“ oder anderweitig „umkehrbarer“ Verpflichtungen) darstellen, natürlich in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt, dass der Gerichtshof diesem Gericht jedoch die Hinweise zur Auslegung dieser Bestimmung geben muss, die ihm von Nutzen sein können.

98.      In diesem Zusammenhang muss eine Situation, die wie im Ausgangsrechtsstreit ein Bündel von Verträgen zwischen drei Parteien zum Gegenstand hat, grundsätzlich mittels einer Gesamtbetrachtung der Vertragsbeziehungen beurteilt werden, anstatt dass jeder einzelne Vertrag getrennt geprüft wird. Dies hängt jedoch selbstverständlich von der sachlichen Prüfung dieser Verträge ab, die allein vom vorlegenden Gericht vorgenommen werden kann(23).

99.      Bei der Beurteilung der Bindungswirkung der Verträge im Hinblick auf den Anreizeffekt sind auch die Möglichkeit eines Vertragsrücktritts und die Eesti Pagar daraus entstehenden Zusatzkosten angesichts der Gesamtkosten des Vorhabens zu berücksichtigen.

100. Wie die griechische Regierung darlegt, spielt es für die Frage, ob der betreffende Vertrag und die im Rahmen seiner Durchführung getätigten einschlägigen Zahlungen eine „erste verbindliche Verpflichtung“ zur Bestellung von Anlagen und somit einen „Beginn der Arbeiten“ darstellen, keine Rolle, dass der Vertrag ausdrücklich als endgültig bezeichnet wird. Sind freilich die Bedingungen eines Vertragsrücktritts vor allem wegen des bei einer Vertragsauflösung verlangten Betrags im Verhältnis zu der gesamten wirtschaftlichen Transaktion äußerst schwerwiegend, wird man einen Beginn des Vorhabens im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung feststellen müssen. Haben die Vertragsparteien hingegen u. a. vereinbart, dass ihr Vertrag nur in Kraft treten soll, wenn ein Darlehen erlangt und wenn dem Beihilfeantrag stattgegeben wird oder wenn die Kosten einer Vertragsauflösung gering sind, wird davon ausgegangen werden können, dass kein Beginn des Vorhabens im Sinne der genannten Bestimmung vorliegt. Der nachweisliche Umstand, dass die nationale Stelle Eesti Pagar geraten haben soll, die Verpflichtungen schon vor dem Beihilfeantrag einzugehen, ist zu berücksichtigen.

101. Bei der Prüfung des etwaigen Anreizeffekts einer aufgrund der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung gewährten Beihilfe sind folglich die Vertragsbestimmungen und die tatsächlichen Umstände, unter denen die fraglichen Verträge abgeschlossen wurden, einer eingehenden Analyse zu unterziehen.

D.      Zur zweiten Vorlagefrage: Pflicht eines Mitgliedstaats zur Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe auch ohne einen entsprechenden Kommissionsbeschluss

1.      Resümee der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

102. Eesti Pagar macht geltend, es gebe keine Rechtsvorschrift, nach der die mitgliedstaatlichen Stellen eindeutig verpflichtet wären, eine von ihnen aufgrund der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung gewährte Beihilfe aus eigener Initiative zurückzufordern, wenn die Kommission dies nicht durch Beschluss angeordnet habe, und beruft sich auf den Beurteilungsspielraum, den das estnische Recht nach ihrer Meinung den nationalen Stellen insoweit einräume.

103. Die griechische Regierung trägt vor, dass die Kommission nach Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 befugt sei, rechtswidrige Beihilfen zurückzufordern, und dass sich aus Art. 107 und Art. 108 Abs. 2 AEUV ergebe, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten eine solche Rückforderung anordnen könnten. Wenn also weder die Kommission noch ein mitgliedstaatliches Gericht eine Rückforderungsentscheidung erlassen habe, bestehe tatsächlich keine allgemeine unmittelbare Verpflichtung der Verwaltungsbehörden der Mitgliedstaaten, die Rückzahlung einer Beihilfe zu verlangen. Allerdings seien die zuständigen nationalen Verwaltungsbehörden speziell bei aus Mitteln der Strukturfonds gewährten Beihilfen nach Art. 125 Abs. 4 und 5 sowie Art. 143 der Verordnung Nr. 1303/2013 verpflichtet, sich um die Wiedereinziehung von Beträgen zu bemühen, die unter Verstoß gegen geltendes Recht gezahlt worden seien.

104. Nach Ansicht der estnischen Regierung muss der Mitgliedstaat eine unter Verstoß gegen Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung und Art. 108 Abs. 3 AEUV gewährte rechtswidrige Beihilfe, wie sie Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei, zurückfordern, und zwar unabhängig von einem etwaigen Beschluss der Kommission. Der Mitgliedstaat sei nämlich nach Art. 107 Abs. 1 AEUV und dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gehalten, alle Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet seien, die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.

105. Die Kommission macht im Kern geltend, eine rechtswidrige Beihilfe müsse von allen nationalen Stellen, sowohl Gerichten als auch Verwaltungsbehörden, zurückgefordert werden.

2.      Würdigung

106. Wenngleich es so aussieht, als sei eine entsprechende Verpflichtung in der Rechtsprechung des Gerichtshofs noch nicht festgestellt worden, da dessen Entscheidungen nur im Zusammenhang mit Kommissionsbeschlüssen oder nationalen Gerichtsverfahren ergangen sind, stimme ich mit der estnischen Regierung darin überein, dass Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 Abs. 3 sowie dem in Art. 4 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit die Verpflichtung der nationalen Stellen zu entnehmen ist, rechtswidrige Beihilfen aus eigener Initiative zurückzufordern(24).

107. Ich bin (wie die Kommission) der Auffassung, dass es sich bei einer Beihilfe, die nicht im Einklang mit den Bestimmungen der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung steht, um eine rechtswidrige Beihilfe handelt, die gegen das Durchführungsverbot nach Art. 108 Abs. 3 AEUV, dem unmittelbare Wirkung zukommt, verstößt. Die daraus resultierende Verpflichtung zur Rückforderung besteht auch für die Verwaltungsbehörden. Die nationalen Behörden (und Gerichte) sind daher verpflichtet, entsprechend ihrem nationalen Recht aus dem Verstoß gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV sämtliche Folgerungen sowohl bezüglich der Gültigkeit der Rechtsakte zur Durchführung von Beihilfemaßnahmen als auch bezüglich der Rückforderung finanzieller Unterstützungen, die entgegen dieser Bestimmung gewährt wurden, zu ziehen.

108. Wenn im vorliegenden Fall das in Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung vorgesehene Kriterium des Anreizeffekts bei Gewährung der Beihilfe nicht erfüllt ist, entspricht die Beihilfe nicht den Erfordernissen dieser Verordnung. Die Beihilfe ist auch nicht von der Kommission nach dem Verfahren des Art. 108 Abs. 3 oder des Art. 108 Abs. 2 AEUV genehmigt worden. In dieser Situation hätte man es folglich mit einer gemäß Art. 107 Abs. 1 AEUV mit dem Binnenmarkt unvereinbaren Beihilfe zu tun.

109. Der Mitgliedstaat muss deshalb eine solche mit dem Binnenmarkt unvereinbare Beihilfe von Amts wegen und unverzüglich zurückfordern; dabei hat er die Rechtswidrigkeit zu beheben und den Zustand wiederherzustellen, der bei Beachtung des Unionsrechts bestanden hätte. Diese Verpflichtung des Mitgliedstaats folgt aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 EUV), dem zufolge der Mitgliedstaat alle Maßnahmen zu treffen hat, die geeignet sind, die Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten.

110. Setzt dieser „neue Weg“ einer Rückforderung von für rechtswidrig erachteten Beihilfen aber eine offensichtliche Rechtswidrigkeit der Beihilfe voraus? Dann würde es für die Entstehung der Rückforderungsverpflichtung nicht ausreichen, wenn die zuständigen nationalen Stellen insoweit nur einige Zweifel hätten.

111. Ich bin der Meinung, dass die Rückforderung auf einem Nachweis der Rechtswidrigkeit (den ein Konkurrent des Begünstigten oder die nationale Stelle selbst führt(25)) beruhen muss, während ein bloßer Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Beihilfe für die nationale Stelle kein hinreichender Grund ist, um diese zurückzufordern, da wir es mit der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung und daher mit einer Beihilfe zu tun haben, deren Freistellung vermutet wird; der Verstoß gegen diese Verordnung muss aber nicht offensichtlich sein.

112. Die zweite Frage sollte deshalb meines Erachtens dahin gehend beantwortet werden, dass eine mitgliedstaatliche Stelle nach Art. 108 Abs. 3 AEUV verpflichtet ist, eine von ihr unter Verstoß gegen die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung gewährte Beihilfe zurückzufordern, wenn sie feststellt, dass diese Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde, und zwar unabhängig davon, ob die Kommission einen entsprechenden Rückforderungsbeschluss erlassen hat und ob der Verstoß gegen diese Verordnung offensichtlich ist. Allerdings kann ein bloßer Zweifel hierfür nicht genügen.

E.      Zur dritten Vorlagefrage: Grundsatz des Vertrauensschutzes

1.      Resümee der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

113. Eesti Pagar macht geltend, der allgemeine Grundsatz des Vertrauensschutzes sei als integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung von der Kommission und den nationalen Stellen bei der Ausübung ihrer jeweiligen Befugnisse, und zwar auch bei der Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung, zu beachten. Da bei dieser Anwendung die zuständige nationale Stelle über einen Beihilfeantrag ohne Beteiligung der Kommission entscheide, könne nur diese Stelle beim Antragsteller ein berechtigtes Vertrauen begründet haben.

114. Im Übrigen könne im vorliegenden Fall der Grundsatz des sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmers die Anerkennung des berechtigten Vertrauens von Eesti Pagar nicht ausschließen, da bei der Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung ein Eingreifen der Kommission nicht vorgesehen sei. Es könne nämlich in Anwendung dieses Grundsatzes von ihr kein größerer Sachverstand als von der EAS hinsichtlich der Anforderungen dieser Verordnung erwartet und erst recht nicht verlangt werden, die EAS zu kontrollieren, die übrigens nach der Beihilfegewährung ihre Auslegung der Verordnung geändert habe.

115. Die griechische Regierung äußert sich in ihrer schriftlichen Stellungnahme zu dieser Frage nicht.

116. Die estnische Regierung und die Kommission tragen vor, ein berechtigtes Vertrauen entstehe nur, wenn eine zuständige Behörde dem Wirtschaftsteilnehmer präzise Zusicherungen gemacht habe, die nicht im Widerspruch zum geltenden Unionsrecht stehen dürften und die bei einem sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmer begründete Erwartungen geweckt hätten. Außerdem müssten bei der Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Belangen die Letzteren überwiegen. Im vorliegenden Fall sei keine dieser Voraussetzungen erfüllt.

117. Erstens sei die EAS, soweit der geltend gemachte Vertrauensschutz auf die Auslegung von Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung gestützt werde, keine für die Auslegung dieser Bestimmung zuständige Behörde. Nach dieser Bestimmung müsse sich der Beihilfebegünstigte vergewissern, dass die darin aufgestellten Voraussetzungen erfüllt seien. Die nationalen Behörden seien somit nicht befugt, dem Begünstigten gegenüber eine Stellungnahme zur Vereinbarkeit einer finanziellen Unterstützung mit den sich aus dieser Bestimmung ergebenden Anforderungen abzugeben. Daher könnten die nationalen Behörden bei den Beihilfebegünstigten kein berechtigtes Vertrauen begründen.

118. Zweitens sei das Schweigen einer Verwaltungsbehörde unabhängig davon, ob sie Kenntnis von bestimmten Umständen gehabt habe, nicht gleichbedeutend mit präzisen, nicht an Bedingungen geknüpften und übereinstimmenden Zusicherungen. Folglich könne ein solches Schweigen kein berechtigtes Vertrauen begründen.

119. Drittens macht die Kommission geltend, es spiele bei der Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Belangen keine Rolle, ob sie die fragliche Beihilfe durch eine Entscheidung für mit dem Binnenmarkt unvereinbar erklärt habe. Da staatliche Beihilfen grundsätzlich untersagt seien, sei es nach dem Unionsrecht unzulässig, eine rechtswidrige staatliche Beihilfe dem Begünstigten zu belassen, denn eine solche Wettbewerbsverzerrung liefe dem Allgemeinwohl zuwider.

2.      Würdigung

120. Die den Vertrauensschutz betreffende dritte Vorlagefrage steht in einem engen Zusammenhang mit dem zweiten Teil der ersten Frage (d. h. der Befugnis der nationalen Stellen bei der Anwendung der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung).

121. Zunächst ist die Auffassung der Kommission zur ersten Vorlagefrage, die auf ein Kriterium abstellt, das eine gewisse Beurteilung (nämlich des Anreizeffekts) erfordert, und zugleich den nationalen Stellen im vorliegenden Verfahren jede Befugnis abspricht, diese Beurteilung vorzunehmen, schwer verständlich.

122. Da nämlich die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung die nationalen Stellen gerade von der Pflicht zur Anmeldung der Beihilfe entbindet, wenn die Voraussetzungen dieser Verordnung erfüllt sind, dürfte es meines Erachtens schwierig sein, eine Verletzung des Verfahrens nach Art. 108 Abs. 3 AEUV geltend zu machen, wenn der Begünstigte und die zuständige nationale Stelle diese Voraussetzungen für erfüllt halten.

123. Sodann entsteht ein berechtigtes Vertrauen grundsätzlich nur dann, wenn eine zuständige Behörde dem Begünstigten präzise Zusicherungen gemacht hat, die nicht im Widerspruch zum geltenden Unionsrecht stehen dürfen und die bei einem sorgfältigen Wirtschaftsteilnehmer begründete Erwartungen geweckt haben. Außerdem müssen bei der Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Belangen die Letzteren überwiegen.

124. Auf der Grundlage der dem Gerichtshof übermittelten Akten bin ich (wie die estnische Regierung und die Kommission) der Meinung, dass im vorliegenden Fall keine dieser Voraussetzungen erfüllt sein dürfte, zumal nach der Rechtsprechung selbst ein nationales Gericht kein begründetes Vertrauen in das Nichtvorliegen einer staatlichen Beihilfe begründen kann(26).

125. Stellt das vorlegende Gericht aufgrund der Antwort auf die erste Frage fest, dass die Beihilfe unter Verstoß gegen Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung gewährt worden ist, wird die EAS deshalb gegen Art. 108 Abs. 3 AEUV verstoßen haben, was jedes berechtigte Vertrauen, auf das sich der Begünstigte berufen könnte, ausschließt.

126. Überdies musste ein vorausschauender und verständiger Wirtschaftsteilnehmer in der Situation von Eesti Pagar auch nachprüfen, dass die Voraussetzungen von Art. 8 Abs. 2 der allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung erfüllt waren(27). Im Übrigen hängt die Verpflichtung des Beihilfeempfängers, sich zu vergewissern, dass das Verfahren des Art. 108 Abs. 3 AEUV eingehalten wurde, nicht vom Verhalten der nationalen Behörde ab, „auch wenn diese für die Rechtswidrigkeit des Bescheids in einem solchen Masse verantwortlich war, dass [dessen] Rücknahme als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint“(28).

127. Dies könnte die Situation im vorliegenden Fall sein, in dem Eesti Pagar sich ungerecht und unfair behandelt fühlt, weil die nationale Stelle sie anlässlich des Subventionsantrags zum Abschluss des Vertrags/der Verträge ermuntert habe oder sich zumindest der Existenz dieses Vertrags/dieser Verträge bewusst gewesen sei.

128. Zwar bedeutet der Umstand, dass die Bediensteten der EAS nur von den Verträgen wussten, die dieses Unternehmen zuvor geschlossen hatte, für sich allein nicht, dass präzise Zusicherungen gemacht worden wären; es lässt sich freilich nicht von vornherein ausschließen, dass dies anders sein könnte, wenn die EAS den Abschluss dieser Verträge Eesti Pagar empfohlen hätte. Sollte dies so gewesen sein, würde sich jedoch nur eine Frage nach der Haftung des Staates stellen, nicht aber nach berechtigtem Vertrauen, aufgrund dessen die Rückforderung der Beihilfe verhindert werden könnte.

129. Die dritte Vorlagefrage ist folglich dahin gehend zu beantworten, dass eine mitgliedstaatliche Stelle, die entscheidet, eine Beihilfe zu gewähren, und zu Unrecht annimmt, diese entspreche den Gruppenfreistellungsvoraussetzungen, deshalb eine rechtswidrige Beihilfe gewährt und beim Empfänger der Beihilfe kein berechtigtes Vertrauen begründen kann. Der Umstand, dass ihr die Nichterfüllung einer dieser Voraussetzungen zuvor bekannt war oder dass sie den Empfänger gar schlecht beraten hat, ist dabei irrelevant.

F.      Zur vierten Vorlagefrage (anwendbare Verjährungsfrist) und zur fünften Vorlagefrage (Verpflichtung, Zinsen zu verlangen)

130. Diese beiden Fragen sind gemeinsam zu behandeln, denn sie werfen ein und dieselbe Schlüsselfrage auf (nämlich die Frage, welche Rechtsvorschrift in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens anzuwenden ist)(29).

1.      Resümee der Stellungnahmen der Verfahrensbeteiligten

a)      Zur vierten Vorlagefrage

131. Eesti Pagar macht im Wesentlichen geltend, dass die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehene Verjährungsfrist von zehn Jahren nur für das Handeln der Kommission gelte und eine nationale Stelle wie die EAS der Kommission nicht gleichgesetzt werden könne. Dagegen könne entweder die Frist von vier Jahren gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 oder das einschlägige nationale Recht auf die vorliegende Rückforderungsmaßnahme Anwendung finden.

132. Nach Ansicht der griechischen Regierung ist die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehene zehnjährige Verjährungsfrist anwendbar.

133. Die estnische Regierung und die Kommission sind der Meinung, wenn eine nationale Behörde oder Gerichtsinstanz durch eine Entscheidung über die Rückforderung einer Beihilfe das in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehene Durchführungsverbot unmittelbar umsetze, seien die nationalen Verfahrensvorschriften anzuwenden. Bei der Anwendung des nationalen Rechts müsse aber der Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang müsse das nationale Recht – zur Wahrung der ausschließlichen Befugnis der Kommission, Beihilfen vor ihrer Durchführung zu genehmigen oder zu untersagen – die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe während der in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen Frist von zehn Jahren zumindest ab Gewährung dieser Beihilfe an den Begünstigten zulassen.

134. Was die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 für Strukturbeihilfen vorgesehene vierjährige Verjährungsfrist ab Begehung der Unregelmäßigkeit anbelange, so sei diese Verordnung im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da die Vorschriften über staatliche Beihilfen eine sich unmittelbar aus Art. 108 Abs. 3 AEUV, d. h. einer gegenüber dieser Verordnung höherrangigen Bestimmung, ergebende Sonderregelung darstellten. Diese Auffassung werde im Übrigen durch Art. 101 der Verordnung Nr. 1083/2006 gestützt, wonach Art. 14 der Verordnung Nr. 659/1999 auf die Rückforderung staatlicher Beihilfen Anwendung finde.

b)      Zur fünften Vorlagefrage

135. Eesti Pagar trägt vor, das Riigikohus (Oberstes Gericht) habe in seinem rechtskräftigen Urteil vom 9. Juni 2016 für Recht erkannt, dass der vorliegende Rechtsstreit nicht in den Geltungsbereich der Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 falle, und aus diesem Grund die Rückforderungsentscheidung hinsichtlich der Zinsen aufgehoben.

136. Diese Bestimmungen könnten im vorliegenden Fall auch nicht entsprechend angewandt werden, da von ihrem Wortlaut nur Zinsen aus Rückforderungsbeschlüssen der Kommission erfasst würden und diese Verordnung zur Durchführung der Verordnung Nr. 659/1999 erlassen worden sei, die nur das Handeln der Kommission und nicht der mitgliedstaatlichen Stellen zum Gegenstand habe. Art. 108 Abs. 3 AEUV komme aber nicht als Rechtsgrundlage für die Befugnis oder die Verpflichtung einer mitgliedstaatlichen Stelle, bei der Rückforderung einer Beihilfe Zinsen zu verlangen, in Betracht.

137. Die griechische Regierung ist der Ansicht, die Rückzahlung einer rechtswidrigen Beihilfe infolge der Entscheidung eines nationalen Gerichts bestimme sich nach nationalem Recht, insbesondere was die Vorschriften über Zinssatz für Forderungen des Staates anbelange. Damit das mit den Vorschriften über staatliche Beihilfen verfolgte Ziel erreicht werde, dürfe die Methode zur Berechnung der Zinsen aber nicht weniger streng sein als die in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 oder in den Art. 9 bis 11 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehene Methode. Denn das nationale Recht müsse die Erreichung des mit den Vorschriften des AEU-Vertrags über staatliche Beihilfen verfolgten Ziels gewährleisten: die vollständige Beseitigung des dem Begünstigten verschafften wirtschaftlichen Vorteils durch dessen vollständige Rückforderung, was die gesetzlichen Zinsen einbeziehe.

138. Nach Ansicht der estnischen Regierung und der Kommission müssen die nationalen Gerichte und Behörden vor allem die nationalen Verfahrensvorschriften über den anwendbaren Zinssatz, die einschlägige Berechnungsmethode und die Bestimmung des Zeitpunkts, ab dem Zinsen anfallen, anwenden.

139. Die nationalen Gerichte und Behörden müssten jedoch, wenn sie Zinsen verlangten, dem Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts Rechnung tragen. Folglich hätten sie nicht die in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 oder in den Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehene Methode entsprechend anzuwenden, sondern anhand dieser Methode sicherzustellen, dass bei der Berechnung der Zinsen das geltende nationale Recht diesem Effektivitätsgrundsatz entspreche.

2.      Würdigung

a)      Verjährungsfrist für die Rückforderung durch eine nationale Stelle

140. In Rn. 41 ihrer Bekanntmachung über die Durchsetzung des Beihilferechts durch die einzelstaatlichen Gerichte verweist die Kommission hinsichtlich der zu verlangenden Zinsen auf die Verordnung Nr. 659/1999 und spricht sich im Wesentlichen für eine entsprechende Anwendung dieser Verordnung durch die nationalen Gerichte aus. Auch im vorliegenden Verfahren setzt sie sich unter Berufung auf den Effektivitätsgrundsatz für eine Anwendung der Bestimmungen dieser Verordnung sowohl auf die Verjährungsfrist für die Rückforderung einer Beihilfe durch eine nationale Stelle als auch auf die Zinsen ein, die in diesem Fall zu verlangen sind.

141. Diese Auffassung beruht auf der Befürchtung der Kommission, dass Verjährungsfristen des nationalen Rechts, die kürzer sind als die in Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehene Frist, ihre Befugnisse aus dieser Verordnung beeinträchtigen und dass nationale Bestimmungen über die zu verlangenden Zinsen, die weniger streng sind als die Bestimmungen dieser Verordnung, die in Art. 107 Abs. 1 und Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgeschriebene vollständige Rückforderung der rechtswidrig gewährten Beihilfe gefährden.

142. Diese Argumentation lässt das Spannungsverhältnis erkennen, das zwischen dem nur auf Verfahren vor der Kommission beschränkten Gegenstand der Verordnung Nr. 659/1999 und ihrer extensiven analogen Anwendung auf nationale Verfahren, wodurch die mit den vorerwähnten primärrechtlichen Bestimmungen verfolgten Ziele erreicht werden sollen, besteht.

143. Was die Verjährung anbelangt, stellt sich außerdem die Frage der Kohärenz zwischen den Verordnungen, da die Eesti Pagar gewährte Beihilfe unter die Verordnungen Nrn. 1083/2006 und 2988/95 fällt, wobei Letztere eine Verjährungsfrist von vier Jahren vorsieht.

144. In ihrer schriftlichen Stellungnahme hat die Kommission den Vorrang der Verordnung Nr. 659/1999 damit begründet, dass diese auf der Grundlage des Primärrechts erlassen worden sei. Auf die Bemerkung des Gerichtshofs in der mündlichen Verhandlung, dass dies auch bei den beiden anderen Verordnungen der Fall sei, hat die Kommission erklärt, sie müsse ihre schriftliche Stellungnahme insoweit „präzisieren und anpassen“, als sie anerkenne, dass es sich bei den drei Verordnungen um in der Normenhierarchie gleichrangige sekundärrechtliche Rechtsakte handle und dass die Finanzierungsmethode oder ‑quelle für die Verjährungsvorschriften keine Rolle spiele.

145. Wenngleich die drei Verordnungen im vorliegenden Fall a priori anwendbar seien, verfolgten sie doch – so die Kommission – unterschiedliche Ziele, wobei es sowohl wegen der unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 108 Abs. 3 AEUV als auch wegen der Notwendigkeit, die Vorrechte der Kommission zu wahren, geboten sei, die Verordnung Nr. 659/1999 (selbst „mittelbar“) anzuwenden, so dass der Effektivitätsgrundsatz eine kürzere Verjährungsfrist als zehn Jahre ausschließe.

146. Ich teile diese Auffassung nicht.

147. In der Tat vermag ich nicht einzusehen, wieso bei der Rückforderung einer Beihilfe, die eine nationale Stelle aus eigener Initiative vornimmt, die Anwendung einer in einer anderen Verordnung oder im nationalen Recht vorgesehenen kürzeren Verjährungsfrist als zehn Jahre die Kommission daran hindern sollte, die Rückforderung dieser Beihilfe durch Beschluss anzuordnen. Die Kommission kann zehn Jahre lang die Prüfung einer auffälligen Beihilfe „jederzeit“ aufgreifen, und zwar auch nach Ablauf der im nationalen Verfahren geltenden Verjährungsfrist, was die Kommission in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat.

148. Daher ist im vorliegenden Fall, wie das Riigikohus (Oberstes Gericht) hervorgehoben hat, die Verordnung Nr. 659/1999 nicht „mittelbar“ oder entsprechend anzuwenden. Diese Verordnung gilt nach ihrem Wortlaut nur für das Handeln der Kommission, wobei Letzterem das Handeln einer nationalen Stelle nicht gleichzustellen ist.

149. In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof in den Rn. 34 und 35 seines Urteils vom 5. Oktober 2006, Transalpine Ölleitung in Österreich (C‑368/04, EU:C:2006:644), ausgeführt, dass die Verordnung Nr. 659/1999 zwar Vorschriften verfahrensrechtlicher Art enthält, die auf alle bei der Kommission anhängigen Verwaltungsverfahren im Bereich der staatlichen Beihilfen anwendbar sind, dass diese Verordnung indessen, wie sich aus ihrer zweiten Begründungserwägung und aus ihren Vorschriften insgesamt ergibt, keine Vorschrift über die Befugnisse und Verpflichtungen der nationalen Gerichte enthält, für die weiter die Bestimmungen des Vertrags in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof gelten.

150. Die estnische Regierung und die Kommission plädieren dennoch unter Berufung auf den Effektivitätsgrundsatz für eine Berücksichtigung des Art. 14 der Verordnung Nr. 659/1999 sowie der Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004.

151. Da die Verordnungen Nrn. 1083/2006 und 2988/95 jedoch unmittelbar anwendbar sind, ist meines Erachtens kein Raum mehr für eine Berücksichtigung der Verordnungen Nrn. 659/1999 und 794/2004.

152. Im Übrigen meine ich (wie Eesti Pagar), dass eine entsprechende Anwendung der in der Verordnung Nr. 659/1999 vorgesehenen zehnjährigen Verjährungsfrist auf die von einer nationalen Stelle betriebene Rückforderung einer Beihilfe – ohne einen entsprechenden Rückforderungsbeschluss der Kommission – im Widerspruch zu den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Verwaltung, des Vertrauensschutzes (der Rechtsklarheit) und der Rechtssicherheit stünde. Denn die Verjährungsregeln müssen eindeutig bestimmt sein, und der mit einer Entscheidung einer nationalen Stelle konfrontierte Einzelne kann nicht einer Verjährungsfrist unterliegen, die in einer Bestimmung geregelt ist, welche nur auf einen Kommissionsbeschluss verweist.

153. Daher ist in einem Fall wie dem hier vorliegenden – in dem es um die Rückforderung von Strukturbeihilfen geht, die der Mitgliedstaat gezahlt hat –, die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen [Union] vorgesehene Verjährungsfrist anzuwenden.

154. Die fragliche Beihilfe wurde Eesti Pagar nämlich in Anwendung der Verordnung Nr. 44 gewährt, die auf der Grundlage des Gesetzes über die Strukturbeihilfe für den Zeitraum 2007–2013 (STS) erlassen worden war. Das STS gilt nach seinem § 1 Abs. 2 für die Gewährung und die Verwendung der Mittel, die für die Strukturbeihilfe aufgrund eines von der Kommission gemäß Art. 32 Abs. 5 der Verordnung Nr. 1083/2006 gebilligten operationellen Programms bereitgestellt werden. Folglich wurde die Eesti Pagar gewährte Beihilfe aus Strukturfonds der Union finanziert, deren nähere Einzelheiten in der Verordnung Nr. 2988/95 geregelt sind.

155. Nach Art. 1 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2988/95 ist „[d]er Tatbestand der Unregelmäßigkeit … bei jedem Verstoß gegen eine [Unions]bestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der [Union] oder die Haushalte, die von [der Union] verwaltet werden, bewirkt hat bzw. haben würde, sei es durch die Verminderung oder den Ausfall von Eigenmitteleinnahmen, die direkt für Rechnung der [Union] erhoben werden, sei es durch eine ungerechtfertigte Ausgabe“.

156. Demnach gilt für die Rückforderung der in Rede stehenden rechtswidrigen Beihilfe durch eine mitgliedstaatliche Stelle die Verjährungsfrist von vier Jahren gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95(30).

b)      Zinsen bei der Rückforderung durch eine nationale Stelle

157. Der Gerichtshof hat entschieden, „dass die Erhebung von Zinseszinsen ein besonders wirksames Mittel darstellt, um den Wettbewerbsvorteil zu neutralisieren, der den von der staatlichen Beihilfe begünstigten Unternehmen rechtswidrig gewährt wurde“(31). Das mit der Rückforderung der Zinsen verfolgte Ziel ist die Beseitigung des „[a]us der Sicht des Beihilfeempfängers … nicht gerechtfertigte[n] Vorteil[s, der] zum einen in der Nichtzahlung von Zinsen, die er auf den Betrag der fraglichen, mit dem [Binnenmarkt] vereinbaren Beihilfe gezahlt hätte, wenn er sich diesen Betrag bis zum Erlass der Kommissionsentscheidung auf dem Markt hätte leihen müssen, und zum anderen in der Verbesserung seiner Wettbewerbsposition gegenüber den anderen Marktteilnehmern während der Dauer der Rechtswidrigkeit“ besteht. Deshalb wäre, so der Gerichtshof, „eine nur in einer Verpflichtung zur Rückforderung ohne Zinsen bestehende Maßnahme grundsätzlich nicht geeignet …, die Auswirkungen der Rechtswidrigkeit zu beseitigen“(32).

158. Da ich vorschlage, für die Verjährung die Verordnung Nr. 2988/95 anzuwenden, stellt sich die Frage, ob auf der Grundlage dieser Verordnung auch Zinsen verlangt werden können.

159. Nach Art. 4 Abs. 1 und 2 dieser Verordnung bewirkt „[j]ede Unregelmäßigkeit … in der Regel den Entzug des rechtswidrig erlangten Vorteils … durch Verpflichtung zur … Rückerstattung des rechtswidrig erhaltenen Geldbetrags … Die Anwendung der Maßnahmen nach Absatz 1 beschränkt sich auf den Entzug des erlangten Vorteils, zuzüglich –falls dies vorgesehen ist – der Zinsen, die pauschal festgelegt werden können“ (Hervorhebung nur hier).

160. Art. 5 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung bestimmt: „Unregelmäßigkeiten, die vorsätzlich begangen oder durch Fahrlässigkeit verursacht werden, können zu folgenden verwaltungsrechtlichen Sanktionen führen: … b) Zahlung eines Betrags, der den rechtswidrig erhaltenen oder hinterzogenen Betrag, gegebenenfalls zuzüglich der Zinsen, übersteigt …“ (Hervorhebung nur hier).

161. Die Verordnung Nr. 2988/95 sieht also keine uneingeschränkte Zahlung von Zinsen vor.

162. Es ist selbstverständlich nicht die Aufgabe des Gerichtshofs, das nationale Recht auszulegen; jedoch dürfen dem Urteil des Riigikohus (Oberstes Gericht) zufolge nach estnischem Recht von der Klägerin keine Zinsen für die Zeit zwischen der Auszahlung der Beihilfe und deren Wiedereinziehung verlangt werden.

163. Ich meine allerdings, dass – wie die vorerwähnte Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den staatlichen Beihilfen es gebietet – Zinsen unmittelbar aufgrund von Art. 108 Abs. 3 AEUV verlangt werden müssen, damit der Wettbewerbsvorteil neutralisiert wird, der den durch die staatlichen Beihilfen begünstigten Unternehmen rechtswidrig gewährt wurde.

164. Wenn die nationalen Gerichte und Behörden bei der Berechnung der geschuldeten Zinsen insbesondere die nationalen Verfahrensvorschriften über den anwendbaren Zinssatz, über die Berechnungsmethode (einfache Zinsen oder Zinseszinsen) und über die Festsetzung des Beginns der Frist für die Zinszahlung anwenden, bin ich (wie die Kommission) der Meinung, dass sie, sofern sie Zinsen im Zusammenhang mit der Rückforderung der Beihilfe verlangen, dasselbe Ziel wie die Kommission verfolgen und dabei den Grundsatz der Effektivität des Unionsrechts beachten müssen. Die Beachtung dieses Grundsatzes bedeutet, von der Anwendung einer nationalen Regelung abzusehen, aufgrund deren die Effektivität der Vorschriften über staatliche Beihilfen nicht gewährleistet wäre(33).

165. Sollte die Kommission diese Entscheidung in einem von ihr behandelten Fall treffen, würde sie Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 sowie die Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 anwenden.

166. Das Ziel, das mit einer nationalen Entscheidung über die Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe verfolgt wird, stimmt aber mit dem mit eines Rückforderungsbeschlusses der Kommission verfolgten Ziel überein: dem Beihilfeempfänger den gesamten ungerechtfertigten Vorteil, einschließlich der Zinsen, zu entziehen(34).

167. Die in Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999 sowie in den Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 vorgesehene Methode ist daher nicht entsprechend anzuwenden, wie das Riigikohus (Oberstes Gericht) in Rn. 41 seines Urteils vom 9. Juni 2016 darlegt, sondern bei der Prüfung, ob das einschlägige nationale Recht hinsichtlich der Zinsberechnung dem Effektivitätsgrundsatz entspricht(35), heranzuziehen, indem gleichsam antizipiert wird, was die Kommission in einem solchen Fall tun würde.

168. Die mitgliedstaatlichen Stellen müssen somit dafür sorgen, dass Zinssatz, anzuwendende Methode und erfasster Zeitraum die Beseitigung eines rechtswidrigen Wettbewerbsvorteils gewährleisten.

169. Im Fall einer rechtswidrigen Beihilfe entsteht bereits bei deren Gewährung der rechtswidrige Wettbewerbsvorteil. Würden Zinsen erst ab der Rückforderungsentscheidung berechnet, bliebe der rechtswidrige Wettbewerbsvorteil für den Zeitraum zwischen Beihilfegewährung und Erlass der Rückforderungsentscheidung bestehen, in dessen Verlauf der Beihilfeempfänger unter Verstoß gegen das Durchführungsverbot von der Beihilfe profitieren konnte. In diesem Fall könnten die Anwendung des Unionsrechts und die Belange der anderen Rechtsbürger beeinträchtigt werden, wenn die mitgliedstaatlichen Stellen untätig blieben; auch wäre die Effektivität des Unionsrechts nicht sichergestellt.

170. Das Riigikohus (Oberstes Gericht) hat in Rn. 41 seines Urteils vom 9. Juni 2016 anerkannt, dass das Ziel, die festgestellte Wettbewerbsverzerrung zu beseitigen, es rechtfertigen würde, die Zinsen ab der Beihilfegewährung zu berechnen, und dass das einzige Problem darin liege, dass es hierfür an einer korrekten Rechtsgrundlage fehle. Ich meine, die Rechtsgrundlage für die Berechnung der Zinsen ist Art. 108 Abs. 3 AEUV in seiner Auslegung in Verbindung mit dem Effektivitätsgrundsatz.

171. Auf die fünfte Frage ist deshalb zu antworten, dass bei der Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe durch eine nationale Stelle, die von ihr zusätzlich verlangten Zinsen nach dem einschlägigen nationalen Recht vorbehaltlich des Grundsatzes der Effektivität des Unionsrechts zu berechnen sind. Das bedeutet, dass die Berechnung der Zinsen im Einklang mit Art. 14 Abs. 2 der Verordnung Nr. 659/1999, wonach die Zinsen ab dem Zeitpunkt der Beihilfegewährung zahlbar sind, und mit den Art. 9 und 11 der Verordnung Nr. 794/2004 der Kommission, wonach die Zinsen nach der Zinseszinsformel zu berechnen sind und der zugrunde gelegte Zinssatz nicht niedriger sein darf als der Referenzzinssatz, erfolgen muss, damit der vollständige Wegfall des durch die fragliche Beihilfe verschafften ungerechtfertigten Vorteils sichergestellt ist.

V.      Ergebnis

172. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Tallinna Ringkonnakohus (Bezirksgericht Tallinn, Estland) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 8 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6. August 2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem [Binnenmarkt] in Anwendung der Artikel [107] und [108] [AEU]-Vertrag (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung) ist dahin auszulegen, dass im Kontext dieser Bestimmung mit der „[Durchführung] des Vorhabens oder der Tätigkeit“ begonnen wurde, wenn die zu fördernde Tätigkeit beispielsweise im Erwerb einer Anlage besteht und Verträge über den Erwerb dieser Anlage geschlossen wurden, wobei der Abschluss solcher Verträge den Beginn der mit der Durchführung des Vorhabens verbundenen Tätigkeiten darstellt.

Bei der Prüfung des etwaigen Anreizeffekts einer aufgrund dieser Verordnung gewährten Beihilfe sind jedoch die Vertragsbestimmungen und die tatsächlichen Umstände, unter denen die fraglichen Verträge abgeschlossen wurden, einer eingehenden Analyse zu unterziehen.

Die mitgliedstaatlichen Stellen sind befugt, einen Verstoß gegen das in Art. 8 Abs. 2 dieser Verordnung aufgestellte Kriterium des Anreizeffekts u. a. anhand der Kosten eines Rücktritts von dem fraglichen Vertrag zu beurteilen.

2.      Eine mitgliedstaatliche Stelle ist nach Art. 108 Abs. 3 AEUV verpflichtet, eine von ihr unter Verstoß gegen die Verordnung Nr. 800/2008 gewährte rechtswidrige Beihilfe zurückzufordern, wenn sie feststellt, dass diese Beihilfe zu Unrecht gewährt wurde, und zwar unabhängig davon, ob die Kommission einen entsprechenden Rückforderungsbeschluss erlassen hat und ob der Verstoß gegen diese Verordnung offensichtlich ist. Allerdings kann ein bloßer Zweifel hierfür nicht genügen.

3.      Eine mitgliedstaatliche Stelle, die entscheidet, eine Beihilfe zu gewähren, und zu Unrecht annimmt, diese entspreche den Gruppenfreistellungsvoraussetzungen, gewährt deshalb eine rechtswidrige Beihilfe und kann beim Empfänger der Beihilfe kein berechtigtes Vertrauen begründen. Der Umstand, dass ihr die Nichterfüllung einer dieser Voraussetzungen zuvor bekannt war oder dass sie den Empfänger gar schlecht beraten hat, ist dabei irrelevant.

4.      Für die Rückforderung der in Rede stehenden rechtswidrigen Beihilfe durch eine mitgliedstaatliche Stelle gilt die Verjährungsfrist von vier Jahren gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen [Union].

5.      Fordert eine nationale Stelle eine rechtswidrige Beihilfe zurück, so sind die von ihr zusätzlich verlangten Zinsen nach dem einschlägigen nationalen Recht vorbehaltlich des Grundsatzes der Effektivität des Unionsrechts zu berechnen. Das bedeutet, dass die Berechnung der Zinsen im Einklang mit Art. 14 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108] des [AEU]-Vertrags, wonach die Zinsen ab dem Zeitpunkt der Beihilfegewährung zahlbar sind, und mit den Art. 9 und 11 der Verordnung (EG) Nr. 794/2004 der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108] des [AEU]-Vertrags, wonach die Zinsen nach der Zinseszinsformel zu berechnen sind und der zugrunde gelegte Zinssatz nicht niedriger sein darf als der Referenzzinssatz, erfolgen muss, damit der vollständige Wegfall des durch die fragliche Beihilfe verschafften ungerechtfertigten Vorteils sichergestellt ist.


1      Originalsprache: Französisch.


2      Verordnung der Kommission vom 6. August 2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem [Binnenmarkt] in Anwendung der Artikel [107] und [108] [AEU]-Vertrag (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung) (ABl. 2008, L 214, S. 3) (im Folgenden: allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung).


3      Verordnung des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen [Union] (ABl. 1995, L 312, S. 1).


4      Verordnung des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108] des [AEU]-Vertrags (ABl. 1999, L 83, S. 1).


5      Verordnung der Kommission vom 21. April 2004 zur Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108] des [AEU]-Vertrags (ABl. 2004, L 140, S. 1).


6      Verordnung des Rates vom 11. Juli 2006 mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds und den Kohäsionsfonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1260/1999 (ABl. 2006, L 210, S. 25).


7      Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Dezember 2013 mit gemeinsamen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds, den Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds sowie mit allgemeinen Bestimmungen über den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung, den Europäischen Sozialfonds, den Kohäsionsfonds und den Europäischen Meeres- und Fischereifonds und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006 des Rates (ABl. 2013, L 347, S. 320).


8      Verordnung der Kommission vom 17. Juni 2014 zur Feststellung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Binnenmarkt in Anwendung der Artikel 107 und 108 des [AEU‑]Vertrags (ABl. 2014, L 187, S. 1).


9      Verordnung des Rates vom 13. Juli 2015 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel 108 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ABl. 2015, L 248, S. 9).


10      Erlassen am 7. Dezember 2006, in Kraft getreten am 1. Januar 2007 (RT I 2006, 59, 440; RT I, 3.2.2011, 3) in der vom 1. Januar 2012 bis zum 30. Juni 2014 geltenden Fassung.


11      In Kraft getreten am 1. Januar 2007 (RT I 2006, 61, 463; RT I, 5.7.2011, 20) und erlassen u. a. aufgrund von § 26 Abs. 6 des STS in seiner vom 1. Januar 2012 bis zum 28. August 2014 geltenden Fassung.


12      Nach Rn. 20 des Urteils des Riigikohus (Oberstes Gericht) haben „[d]ie Gerichte … ihre Feststellung, wonach die Klägerin eine verbindliche Vereinbarung zum Erwerb von Anlagen geschlossen hatte, bevor sie am 24. Oktober 2008 einen Beihilfeantrag stellte, hinreichend begründet. Selbst wenn angenommen wird, dass der zweiseitige Kaufvertrag vom 28. August 2008 aufgrund des vorherigen Briefwechsels zwischen den Parteien an eine Bedingung geknüpft war [Verweis auf die Akten], findet sich im Fall des am 13. Oktober 2008 mit Beteiligung des Leasinggebers geschlossenen dreiseitigen Kaufvertrags kein Hinweis auf irgendeine Bedingung“.


13      Das vorlegende Gericht hat in der Sitzung vom 11. April 2017 Zeugen vernommen, zu diesen Fragen aber keine endgültige Schlussfolgerung gezogen (vgl. Sitzungsprotokoll vom 11. April 2017).


14      Vgl. Urteile vom 10. März 1981, Irish Creamery Milk Suppliers Association u. a. (36/80 und 71/80, EU:C:1981:62, Rn. 6), und vom 16. Juli 1992, Meilicke (C‑83/91, EU:C:1992:332, Rn. 26). Vgl. auch Urteil vom 30. März 2000, JämO (C‑236/98, EU:C:2000:173, Rn. 31).


15      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2010, Elchinov (C‑173/09, EU:C:2010:581, Rn. 25 bis 32).


16      In der mündlichen Verhandlung wurde bestätigt, dass die vorliegend in Rede stehenden Mittel aus dem Europäischen Fonds für regionale Entwicklung herrührten. Hierbei handelt es sich um einen der europäischen Strukturfonds, mit dessen Hilfe der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der Union durch die Korrektur regionaler Ungleichgewichte gestärkt werden soll.


17      Das englische Dokument „General Block Exemption Regulation (GBER) – Frequently Asked Questions“ ist auf der Website der Kommission abrufbar unter „http://ec.europa.eu/competition/state_aid/legislation/gber_practical_faq_en.pdf“ und enthält auf die Frage: „Is it contrary to the incentive effect requirement of Art. 8 to conclude agreements and make payments based on them, in particular preliminary contracts for purchase options and pre-contracts of sale, before the aid application is submitted?“ folgende Antwort: „Footnote 40 of the Regional Aid Guidelines defines ‚start of work‘ as either the start of construction work or the first firm commitment to order equipment, excluding preliminary feasibility studies. Whether the agreements and payments made on the basis of these agreements can be considered a ‚first firm commitment‘ to start the project does not necessarily depend on the formal classification of the agreements in question, but on the terms of those agreements. If contractual obligations make it difficult from an economic standpoint to abandon the project in a given case, particularly because a considerable sum of money would be lost, work will be deemed to have started within the meaning of Art. 8. A more detailed examination of the specific circumstances of the case would be needed to see if this is indeed the case.“


18      Urteil vom 13. Juni 2013, HGA u. a./Kommission (C‑630/11 P, EU:C:2013:387, Rn. 106 bis 109).


19      Urteil vom 20. September 2011, Regione autonoma della Sardegna u. a./Kommission (T‑394/08, T‑408/08, T‑453/08 und T‑454/08, EU:T:2011:493).


20      Schlussanträge in der Rechtssache HGA, C‑630/11 P (EU:C:2013:194, Nr. 66).


21      Vgl. Werner, P., und Verouden, V. (Hrsg.), EU State Aid Control:Law and Economics, Wolters Kluwer, 2017, S. 208.


22      Nach Auffassung der Kommission ist die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung unmittelbar anwendbar („self-executing“).


23      Die EAS hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, im vorliegenden Fall handle es sich eigentlich um drei separate Verträge, die nicht als einheitliches Ganzes, sondern jeder einzeln zu würdigen seien.


24      Die Verpflichtung zur Rückforderung besteht im Übrigen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. u. a. Urteil vom 22. Juni 1989, Fratelli Costanzo/Comune di Milano, 103/88, EU:C:1989:256, Rn. 30 und 31) für alle nationalen Stellen, sowohl die Gerichte als auch die Verwaltungsbehörden.


25      Mangels eines Beschlusses der Kommission, die Prüfung der Vereinbarkeit der Beihilfe zu eröffnen.


26      Urteil vom 1. März 2017, SNCM/Kommission (T‑454/13, EU:T:2017:134, Rn. 299); vgl. dazu auch Urteil vom 16. Juli 2014, Zweckverband Tierkörperbeseitigung/Kommission (T‑309/12, EU:T:2014:676, Rn. 237 bis 241), sowie Urteil vom 16. Mai 2000, Frankreich/Ladbroke Racing und Kommission (C‑83/98 P, EU:C:2000:248, Rn. 58 bis 61), und Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas vom 23. November 1999 (EU:C:1999:577, Nrn. 53 bis 98).


27      Vor allem bei einer Gruppenfreistellung muss der Begünstigte wissen, dass er ein Risiko eingeht, da die Beihilfe nicht der Kommission notifiziert wird.


28      Urteil vom 20. März 1997, Land Rheinland-Pfalz/Alcan Deutschland (C‑24/95, EU:C:1997:163, Rn. 41).


29      Eine möglicherweise ähnliche Frage scheint sich auch in der (ebenfalls beim Gerichtshof anhängigen) Rechtssache C‑387/17, Fallimento Traghetti del Mediterraneo, im Rahmen der Schadensersatzklage zu stellen, die ein Konkurrent des Empfängers einer Beihilfe gegen den italienischen Staat wegen des durch die vorzeitige Zahlung der Beihilfe angeblich verursachten Schadens erhoben hat.


30      Sieht das nationale Recht allerdings eine längere Frist vor, so gilt diese (siehe denselben Grundsatz unten, in Fn. 35 dieser Schlussanträge, für die Berechnung der Zinsen).


31      Urteil vom 3. September 2015,A2A SpA/Agenzia delle Entrate (C‑89/14, EU:C:2015:537, Rn. 42).


32      Urteil vom 22. Februar 2008, Centre d’exportation du livre français (CELF) und ministre de la Culture et de la Communication/Société internationale de diffusion et d’édition (SIDE) (C‑199/06, EU:C:2008:79, Rn. 50 bis 54).


33      Urteil vom 5. Oktober 2006, Kommission/Frankreich (C‑232/05, EU:C:2006:651, Rn. 53).


34      Der Grund liegt darin, dass die vorzeitige Durchführung der rechtswidrigen Beihilfe zur Folge hat, dass die Konkurrenten gegebenenfalls früher den Auswirkungen der Beihilfe ausgesetzt sind. Der Beihilfeempfänger hat dadurch einen ungerechtfertigten Vorteil erhalten (Urteil vom 22. Februar 2008, CELF und ministre de la Culture et de la Communication, C‑199/06, EU:C:2008:79, Rn. 50 bis 52 und 55). Der Gerichtshof hat entschieden, dass das nationale Gericht die Zahlung von Zinsen anordnen muss, auch nachdem die Kommission eine positive Entscheidung erlassen hat (Urteil CELF, Rn. 52 und 55). In diesem Fall sind die Zinsen nur für den Zeitraum zu zahlen, in dem der Wettbewerbsvorteil bestand und während dessen der Beihilfeempfänger vorzeitig (d. h. vor der positiven Entscheidung der Kommission) über die Beihilfe verfügen konnte.


35      Sieht das nationale Recht höhere Zinsen vor als das Unionsrecht, so sind die strengeren nationalen Bestimmungen anzuwenden (vgl. Urteil vom 11. November 2015, Klausner Holz Niedersachsen GmbH/Land Nordrhein-Westfalen, C‑505/14, EU:C:2015:742, Rn. 40).

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