Europäischer Gerichtshof Urteil, 26. Okt. 2016 - C-195/15

ECLI:ECLI:EU:C:2016:804
bei uns veröffentlicht am26.10.2016

Gericht

Europäischer Gerichtshof

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

26. Oktober 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen — Insolvenzverfahren — Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 — Art. 5 — Begriff ‚dingliche Rechte Dritter‘ — Auf dem Grundbesitz ruhende öffentliche Last, die die Erhebung der Grundsteuer sichert“

In der Rechtssache C‑195/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 12. März 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 29. April 2015, in dem Verfahren

SCI Senior Home im Sanierungsverfahren

gegen

Gemeinde Wedemark,

Hannoversche Volksbank eG

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça, der Richterin M. Berger (Berichterstatterin) sowie der Richter A. Borg Barthet, E. Levits und F. Biltgen,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. März 2016,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der spanischen Regierung, vertreten durch A. Gavela Llopis als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wilderspin als Bevollmächtigten,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Mai 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren (ABl. 2000, L 160, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SCI Senior Home im Sanierungsverfahren, vertreten durch Rechtsanwalt Pierre Mulhaupt als Insolvenzverwalter, gegen die Gemeinde Wedemark (Deutschland) und die Hannoversche Volksbank eG über die Zwangsversteigerung eines im Eigentum von Senior Home stehenden Grundstücks.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 24 und 25 der Verordnung Nr. 1346/2000 lauten:

„(24)

Die automatische Anerkennung eines Insolvenzverfahrens, auf das regelmäßig das Recht des Eröffnungsstaats Anwendung findet, kann mit den Vorschriften anderer Mitgliedstaaten für die Vornahme von Rechtshandlungen kollidieren. Um in den anderen Mitgliedstaaten als dem Staat der Verfahrenseröffnung Vertrauensschutz und Rechtssicherheit zu gewährleisten, sollten eine Reihe von Ausnahmen von der allgemeinen Vorschrift vorgesehen werden.

(25)

Ein besonderes Bedürfnis für eine vom Recht des Eröffnungsstaats abweichende Sonderanknüpfung besteht bei dinglichen Rechten, da diese für die Gewährung von Krediten von erheblicher Bedeutung sind. Die Begründung, Gültigkeit und Tragweite eines solchen dinglichen Rechts sollten sich deshalb regelmäßig nach dem Recht des Belegenheitsorts bestimmen und von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nicht berührt werden. Der Inhaber des dinglichen Rechts sollte somit sein Recht zur Aus- bzw. Absonderung an dem Sicherungsgegenstand weiter geltend machen können. Falls an Vermögensgegenständen in einem Mitgliedstaat dingliche Rechte nach dem Recht des Belegenheitsstaats bestehen, das Hauptinsolvenzverfahren aber in einem anderen Mitgliedstaat stattfindet, sollte der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens in dem Zuständigkeitsgebiet, in dem die dinglichen Rechte bestehen, beantragen können, sofern der Schuldner dort eine Niederlassung hat. Wird kein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet, so ist der überschießende Erlös aus der Veräußerung der Vermögensgegenstände, an denen dingliche Rechte bestanden, an den Verwalter des Hauptverfahrens abzuführen.“

4

Art. 4 („Anwendbares Recht“) der Verordnung Nr. 1346/2000 sieht vor:

„(1)   Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.

(2)   Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:

f)

wie sich die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens auf Rechtsverfolgungsmaßnahmen einzelner Gläubiger auswirkt; ausgenommen sind die Wirkungen auf anhängige Rechtsstreitigkeiten;

i)

die Verteilung des Erlöses aus der Verwertung des Vermögens, den Rang der Forderungen und die Rechte der Gläubiger, die nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgrund eines dinglichen Rechts oder infolge einer Aufrechnung teilweise befriedigt wurden;

…“

5

Art. 5 („Dingliche Rechte Dritter“) der Verordnung Nr. 1346/2000 bestimmt:

„(1)   Das dingliche Recht eines Gläubigers oder eines Dritten an körperlichen oder unkörperlichen, beweglichen oder unbeweglichen Gegenständen des Schuldners – sowohl an bestimmten Gegenständen als auch an einer Mehrheit von nicht bestimmten Gegenständen mit wechselnder Zusammensetzung –, die sich zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, wird von der Eröffnung des Verfahrens nicht berührt.

(2)   Rechte im Sinne von Absatz 1 sind insbesondere

a)

das Recht, den Gegenstand zu verwerten oder verwerten zu lassen und aus dem Erlös oder den Nutzungen dieses Gegenstands befriedigt zu werden, insbesondere aufgrund eines Pfandrechts oder einer Hypothek;

b)

das ausschließliche Recht, eine Forderung einzuziehen, insbesondere aufgrund eines Pfandrechts an einer Forderung oder aufgrund einer Sicherheitsabtretung dieser Forderung;

c)

das Recht, die Herausgabe des Gegenstands von jedermann zu verlangen, der diesen gegen den Willen des Berechtigten besitzt oder nutzt;

d)

das dingliche Recht, die Früchte eines Gegenstands zu ziehen.

(3)   Das in einem öffentlichen Register eingetragene und gegen jedermann wirksame Recht, ein dingliches Recht im Sinne von Absatz 1 zu erlangen, wird einem dinglichen Recht gleichgestellt.

…“

6

Art. 39 („Recht auf Anmeldung von Forderungen“) der Verordnung Nr. 1346/2000 lautet:

„Jeder Gläubiger, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt, Wohnsitz oder Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem Staat der Verfahrenseröffnung hat, einschließlich der Steuerbehörden und der Sozialversicherungsträger der Mitgliedstaaten, kann seine Forderungen in dem Insolvenzverfahren schriftlich anmelden.“

Deutsches Recht

7

§ 12 („Dingliche Haftung“) des Grundsteuergesetzes (GrStG) lautet:

„Die Grundsteuer ruht auf dem Steuergegenstand als öffentliche Last.“

8

§ 77 Abs. 2 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) sieht vor:

„Wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf Grundbesitz ruht, hat der Eigentümer die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden.“

9

§ 10 Abs. 1 des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung (ZVG) bestimmt:

„Ein Recht auf Befriedigung aus dem Grundstück gewähren nach folgender Rangordnung …:

3.

die Ansprüche auf Entrichtung der öffentlichen Lasten des Grundstücks wegen der aus den letzten vier Jahren rückständigen Beträge; wiederkehrende Leistungen, insbesondere Grundsteuern, Zinsen, Zuschläge oder Rentenleistungen … genießen dieses Vorrecht nur für die laufenden Beträge und für die Rückstände aus den letzten zwei Jahren. …

…“

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

10

Senior Home, eine nach französischem Recht errichtete Société civile immobilière, ist Eigentümerin eines in Wedemark (Deutschland) belegenen Grundstücks. Mit Entscheidung vom 6. Mai 2013 ordnete das Tribunal de grande instance de Mulhouse (Landgericht Mülhausen, Frankreich) für sie ein Betriebssanierungsverfahren an.

11

Am 15. Mai 2013 beantragte die Gemeinde Wedemark wegen rückständiger Grundsteuern für die Zeit vom 1. Oktober 2012 bis 30. Juni 2013 in Höhe von 7471,19 Euro die Zwangsversteigerung des Grundstücks, wobei sie sich auf die Vollstreckbarkeit der Steuerforderung berief.

12

Mit Beschluss vom 21. Mai 2013 ordnete das Amtsgericht Burgwedel (Deutschland) die Zwangsversteigerung des Grundstücks an. Der dagegen gerichteten Erinnerung von Senior Home half es nicht ab. Nachdem Senior Home, vertreten durch Rechtsanwalt Mulhaupt als Insolvenzverwalter, mit ihrer sofortigen Beschwerde vom Landgericht Hannover (Deutschland) abgewiesen worden war, wandte sie sich an den Bundesgerichtshof (Deutschland), um zum einen die Aufhebung des Beschlusses des Amtsgerichts Burgwedel und zum anderen die Löschung des Zwangsversteigerungsvermerks im Grundbuch zu erwirken.

13

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass das Insolvenzverfahren gegen Senior Home gemäß Art. 4 der Verordnung Nr. 1346/2000 dem französischen Recht unterliege. Nach französischem Recht stehe jedoch die Eröffnung des Betriebssanierungsverfahrens der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zwangsversteigerung grundsätzlich entgegen. Dagegen blieben gemäß Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung dingliche Rechte eines Gläubigers oder eines Dritten an Gegenständen, die sich im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befänden, von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens unberührt.

14

Das vorlegende Gericht führt aus, dass nach deutschem Recht Grundsteuerforderungen gemäß § 12 GrStG öffentliche Lasten seien, die, da der Eigentümer des belasteten Grundstücks gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AO die Zwangsvollstreckung aus dem Forderungstitel in dieses Grundstück dulden müsse, dingliche Rechte darstellten. Das Gericht hat jedoch Zweifel, ob die Frage nach dem Vorliegen oder Nichtvorliegen eines dinglichen Rechts im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung nach deutschem Recht zu beurteilen oder der Begriff „dingliches Recht“ vielmehr autonom auszulegen sei.

15

Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Erfasst der Begriff des dinglichen Rechts gemäß Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 eine nationale Regelung, wie sie in § 12 GrStG in Verbindung mit § 77 Abs. 2 Satz 1 AO enthalten ist, wonach Grundsteuerforderungen kraft Gesetzes als öffentliche Last auf dem Grundstück ruhen und der Eigentümer insoweit die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz dulden muss?

Zur Vorlagefrage

16

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 5 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen ist, dass eine Sicherheit, die gemäß einer Vorschrift des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bestellt wurde, nach der auf dem Grundstück des Grundsteuerschuldners kraft Gesetzes eine öffentliche Last ruht und dieser Eigentümer die Zwangsvollstreckung aus dem Steuertitel in den Grundbesitz dulden muss, ein „dingliches Recht“ im Sinne dieses Artikels darstellt.

17

Insoweit ist erstens darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 1346/2000, wie der Generalanwalt in den Nrn. 21 bis 23 seiner Schlussanträge festgestellt hat, auf einem Modell der sogenannten „abgeschwächten Universalität“ beruht, nach dem einerseits für das Hauptinsolvenzverfahren und seine Wirkungen das Recht des Mitgliedstaats gilt, in dem dieses Verfahren eröffnet wurde, andererseits jedoch die Verordnung mehrere Ausnahmen von dieser Regel vorsieht. Eine dieser Ausnahmen ist in Art. 5 Abs. 1 der Verordnung vorgesehen.

18

Was Art. 5 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1346/2000 betrifft, nach dem das dingliche Recht eines Gläubigers oder eines Dritten an Gegenständen des Schuldners, die sich zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats befinden, von der Eröffnung des Verfahrens nicht berührt wird, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass sich die Begründung, die Gültigkeit und die Tragweite eines solchen dinglichen Rechts regelmäßig nach dem Recht des Belegenheitsorts bestimmen sollten. Folglich erlaubt Art. 5 Abs. 1 dieser Verordnung abweichend von der Regel des Rechts des Eröffnungsstaats, auf das dingliche Recht eines Gläubigers oder eines Dritten an bestimmten dem Schuldner gehörenden Vermögensgegenständen das Recht des Mitgliedstaats anzuwenden, in dessen Gebiet sich der fragliche Vermögensgegenstand befindet (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. Juli 2012, ERSTE Bank Hungary, C‑527/10, EU:C:2012:417, Rn. 40 bis 42, und vom 16. April 2015, Lutz, C‑557/13, EU:C:2015:227, Rn. 27).

19

Dementsprechend ist in Bezug auf den Ausgangsfall die Frage der Einstufung des betreffenden Rechts als „dingliches“ Recht im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Verordnung nach nationalem Recht, vorliegend nach deutschem Recht, zu untersuchen.

20

Insoweit lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Grundsteuern dingliche Verwertungsrechte sind, denn der Eigentümer des belasteten Grundstücks muss die Zwangsvollstreckung des Steuertitels in diesen Grundbesitz dulden. Jedenfalls kommt dem vorlegenden Gericht die Feststellung und die Würdigung des Sachverhalts des ihm vorliegenden Rechtsstreits und die Auslegung und die Anwendung des nationalen Rechts zu (Urteil vom 8. Juni 2016, Hünnebeck, C‑479/14, EU:C:2016:412, Rn. 36), um festzustellen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Grundsteuerforderung nach deutschem Recht als dingliches Recht angesehen werden kann.

21

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 2 und 3 der Verordnung Nr. 1346/2000 den Begriff „dingliches Recht“ zwar nicht definiert, doch anhand einer Reihe von Beispielen für Rechte, die von dieser Verordnung als „dinglich“ eingestuft werden, die Tragweite und damit die Grenzen des Schutzes bestimmt, den diese Vorschrift den Vorrechten, Garantien oder anderen im nationalen Recht der Mitgliedstaaten vorgesehenen Rechten des Gläubigers eines insolventen Schuldners gewährt.

22

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 43 und 44 seiner Schlussanträge festgestellt hat, ist nämlich, um der Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 5 der Verordnung auf die „dinglichen“ Rechte nicht ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen, anzunehmen, dass die nach dem betreffenden nationalen Recht als „dinglich“ angesehenen Rechte bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um unter diesen Artikel zu fallen.

23

Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass ein Recht, wie es im Ausgangsverfahren in Rede steht, vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfung diese in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1346/2000 aufgezählten Kriterien erfüllt, da es einerseits das besteuerte Grundstück unmittelbar und sofort belastet und andererseits der Eigentümer gemäß § 77 Abs. 2 Satz 1 AO die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz dulden muss. Darüber hinaus kommt, wie der Generalanwalt in Nr. 49 seiner Schlussanträge festgestellt hat, der Steuerverwaltung während des Insolvenzverfahrens aufgrund der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden öffentlichen Last eine bevorrechtigte Gläubigerstellung zu.

24

Drittens kann diese Feststellung nicht durch den von der Kommission in ihren Erklärungen vorgebrachten Umstand in Frage gestellt werden, dass Art. 5 als Ausnahme von dem allgemeinen, in Art. 4 dieser Verordnung verankerten Grundsatz restriktiv auszulegen sei, so dass er nur die dinglichen Rechte erfasse, die im Rahmen eines Handelsgeschäfts gewährt würden.

25

Zum einen sind nämlich nach ständiger Rechtsprechung Ausnahmebestimmungen zwar eng auszulegen, doch ist darauf zu achten, dass ihnen nicht ihre praktische Wirksamkeit genommen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Dezember 2012, BLV Wohn- und Gewerbebau, C‑395/11, EU:C:2012:799, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26

Zum anderen lässt sich Art. 5 der Verordnung Nr. 1346/2000 weder anhand des Wortlauts der Bestimmungen dieser Verordnung noch der mit ihr verfolgten Ziele dahin auslegen, dass er nicht die dinglichen Rechte erfasst, die nicht im Rahmen eines Handelsgeschäfts gewährt werden.

27

Zum Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmungen ist festzustellen, dass Art. 5 der Verordnung keine Anhaltspunkte dafür enthält, dass der Anwendungsbereich dieses Artikels nach dem Ursprung des betreffenden dinglichen Rechts oder der – öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen – Art der durch dieses dingliche Recht gesicherten Forderung begrenzt werden kann.

28

Was die Ziele dieser Vorschrift betrifft, ergibt sich aus dem 24. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1346/2000, dass die Ausnahmen von der in Art. 4 der Verordnung verankerten allgemeinen Regel zur Bestimmung des anwendbaren Rechts darauf gerichtet sind, „in den anderen Mitgliedstaaten als dem Staat der Verfahrenseröffnung Vertrauensschutz und Rechtssicherheit zu gewährleisten“, wobei es insoweit ohne Bedeutung ist, ob die betroffenen Rechte oder Forderungen handelsrechtlicher Art sind.

29

Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, aus dem 25. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1346/2000, nach dem bei dinglichen Rechten aufgrund ihrer erheblichen Bedeutung für die Kreditgewährung ein „besonderes“ Bedürfnis für eine vom Recht des Eröffnungsstaats abweichende Sonderanknüpfung besteht, abzuleiten, dass diese Ausnahme nur die dinglichen Garantien erfasst, die lediglich im Rahmen von Handels- oder Kreditverträgen gewährt werden. Stattdessen liefe eine Beschränkung des Anwendungsbereichs von Art. 5 der Verordnung auf dingliche Rechte, die ihren Ursprung in einem Handelsvertrag haben, dem im 24. Erwägungsgrund dieser Verordnung ausdrücklich festgestellten Ziel zuwider, das berechtigte Vertrauen und die Sicherheit von Rechtshandlungen zu schützen.

30

In jedem Fall ist festzustellen, dass eine Auslegung von Art. 5 der Verordnung Nr. 1346/2000 in dem Sinne, dass die in dieser Vorschrift enthaltene Ausnahme nur solche dinglichen Rechte erfasst, die im Rahmen eines Handels- oder Kreditgeschäfts bestellt wurden, eine Benachteiligung der Inhaber dinglicher Rechte nach sich zöge, die im Rahmen anderer Geschäfte als Handelsgeschäfte gewährt wurden.

31

Wie jedoch der Generalanwalt in den Nrn. 64 bis 67 seiner Schlussanträge festgestellt hat, beruht die Verordnung Nr. 1346/2000 auf dem Grundsatz der Gleichbehandlung der Gläubiger und dem Grundsatz, dass ihre Bestimmungen unabhängig von der – handelsrechtlichen oder sonstigen – Art der durch die dinglichen Rechte gesicherten Forderungen anzuwenden sind. Hinsichtlich der Möglichkeit der Gläubiger, ihre Forderungen im Rahmen des Insolvenzverfahrens schriftlich geltend zu machen, schließt Art. 39 dieser Verordnung jede Diskriminierung der Steuerbehörden und der Sozialversicherungsträger anderer Mitgliedstaaten als dem Staat der Verfahrenseröffnung aus.

32

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin auszulegen ist, dass eine Sicherheit, die gemäß einer Vorschrift des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bestellt wurde, nach der auf dem Grundstück des Grundsteuerschuldners kraft Gesetzes eine öffentliche Last ruht und dieser Eigentümer die Zwangsvollstreckung aus dem Steuertitel in den Grundbesitz dulden muss, ein „dingliches Recht“ im Sinne dieses Artikels darstellt.

Kosten

33

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ist dahin auszulegen, dass eine Sicherheit, die gemäß einer Vorschrift des nationalen Rechts wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden bestellt wurde, nach der auf dem Grundstück des Grundsteuerschuldners kraft Gesetzes eine öffentliche Last ruht und dieser Eigentümer die Zwangsvollstreckung aus dem Steuertitel in den Grundbesitz dulden muss, ein „dingliches Recht“ im Sinne dieses Artikels darstellt.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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Referenzen - Gesetze

Europäischer Gerichtshof Urteil, 26. Okt. 2016 - C-195/15 zitiert 7 §§.

Gesetz über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung - ZVG | § 10


(1) Ein Recht auf Befriedigung aus dem Grundstück gewähren nach folgender Rangordnung, bei gleichem Rang nach dem Verhältnis ihrer Beträge: 1. der Anspruch eines die Zwangsverwaltung betreibenden Gläubigers auf Ersatz seiner Ausgaben zur Erhaltung od

Abgabenordnung - AO 1977 | § 77 Duldungspflicht


(1) Wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, eine Steuer aus Mitteln, die seiner Verwaltung unterliegen, zu entrichten, ist insoweit verpflichtet, die Vollstreckung in dieses Vermögen zu dulden. (2) Wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf Gr

Grundsteuergesetz - GrStG 1973 | § 12 Dingliche Haftung


Die Grundsteuer ruht auf dem Steuergegenstand als öffentliche Last.

Referenzen

(1) Wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, eine Steuer aus Mitteln, die seiner Verwaltung unterliegen, zu entrichten, ist insoweit verpflichtet, die Vollstreckung in dieses Vermögen zu dulden.

(2) Wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf Grundbesitz ruht, hat der Eigentümer die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden. Zugunsten der Finanzbehörde gilt als Eigentümer, wer als solcher im Grundbuch eingetragen ist. Das Recht des nicht eingetragenen Eigentümers, die ihm gegen die öffentliche Last zustehenden Einwendungen geltend zu machen, bleibt unberührt.

(1) Ein Recht auf Befriedigung aus dem Grundstück gewähren nach folgender Rangordnung, bei gleichem Rang nach dem Verhältnis ihrer Beträge:

1.
der Anspruch eines die Zwangsverwaltung betreibenden Gläubigers auf Ersatz seiner Ausgaben zur Erhaltung oder nötigen Verbesserung des Grundstücks, im Falle der Zwangsversteigerung jedoch nur, wenn die Verwaltung bis zum Zuschlag fortdauert und die Ausgaben nicht aus den Nutzungen des Grundstücks erstattet werden können;
1a.
im Falle einer Zwangsversteigerung, bei der das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet ist, die zur Insolvenzmasse gehörenden Ansprüche auf Ersatz der Kosten der Feststellung der beweglichen Gegenstände, auf die sich die Versteigerung erstreckt; diese Kosten sind nur zu erheben, wenn ein Insolvenzverwalter bestellt ist, und pauschal mit vier vom Hundert des Wertes anzusetzen, der nach § 74a Abs. 5 Satz 2 festgesetzt worden ist;
2.
bei Vollstreckung in ein Wohnungseigentum die daraus fälligen Ansprüche auf Zahlung der Beiträge zu den Lasten und Kosten des gemeinschaftlichen Eigentums oder des Sondereigentums, die nach § 16 Abs. 2, § 28 Absatz 1 und 2 des Wohnungseigentumsgesetzes geschuldet werden, einschließlich der Vorschüsse und Rückstellungen sowie der Rückgriffsansprüche einzelner Wohnungseigentümer. Das Vorrecht erfasst die laufenden und die rückständigen Beträge aus dem Jahr der Beschlagnahme und den letzten zwei Jahren. Das Vorrecht einschließlich aller Nebenleistungen ist begrenzt auf Beträge in Höhe von nicht mehr als 5 vom Hundert des nach § 74a Abs. 5 festgesetzten Wertes. Die Anmeldung erfolgt durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer. Rückgriffsansprüche einzelner Wohnungseigentümer werden von diesen angemeldet;
3.
die Ansprüche auf Entrichtung der öffentlichen Lasten des Grundstücks wegen der aus den letzten vier Jahren rückständigen Beträge; wiederkehrende Leistungen, insbesondere Grundsteuern, Zinsen, Zuschläge oder Rentenleistungen, sowie Beträge, die zur allmählichen Tilgung einer Schuld als Zuschlag zu den Zinsen zu entrichten sind, genießen dieses Vorrecht nur für die laufenden Beträge und für die Rückstände aus den letzten zwei Jahren. Untereinander stehen öffentliche Grundstückslasten, gleichviel ob sie auf Bundes- oder Landesrecht beruhen, im Range gleich. Die Vorschriften des § 112 Abs. 1 und der §§ 113 und 116 des Gesetzes über den Lastenausgleich vom 14. August 1952 (Bundesgesetzbl. I S. 446) bleiben unberührt;
4.
die Ansprüche aus Rechten an dem Grundstück, soweit sie nicht infolge der Beschlagnahme dem Gläubiger gegenüber unwirksam sind, einschließlich der Ansprüche auf Beträge, die zur allmählichen Tilgung einer Schuld als Zuschlag zu den Zinsen zu entrichten sind; Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen, insbesondere Zinsen, Zuschläge, Verwaltungskosten oder Rentenleistungen, genießen das Vorrecht dieser Klasse nur wegen der laufenden und der aus den letzten zwei Jahren rückständigen Beträge;
5.
der Anspruch des Gläubigers, soweit er nicht in einer der vorhergehenden Klassen zu befriedigen ist;
6.
die Ansprüche der vierten Klasse, soweit sie infolge der Beschlagnahme dem Gläubiger gegenüber unwirksam sind;
7.
die Ansprüche der dritten Klasse wegen der älteren Rückstände;
8.
die Ansprüche der vierten Klasse wegen der älteren Rückstände.

(2) Das Recht auf Befriedigung aus dem Grundstück besteht auch für die Kosten der Kündigung und der die Befriedigung aus dem Grundstück bezweckenden Rechtsverfolgung.

(3) Für die Vollstreckung mit dem Range nach Absatz 1 Nummer 2 genügt ein Titel, aus dem die Verpflichtung des Schuldners zur Zahlung, die Art und der Bezugszeitraum des Anspruchs sowie seine Fälligkeit zu erkennen sind. Soweit die Art und der Bezugszeitraum des Anspruchs sowie seine Fälligkeit nicht aus dem Titel zu erkennen sind, sind sie in sonst geeigneter Weise glaubhaft zu machen.

Die Grundsteuer ruht auf dem Steuergegenstand als öffentliche Last.

(1) Wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, eine Steuer aus Mitteln, die seiner Verwaltung unterliegen, zu entrichten, ist insoweit verpflichtet, die Vollstreckung in dieses Vermögen zu dulden.

(2) Wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf Grundbesitz ruht, hat der Eigentümer die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden. Zugunsten der Finanzbehörde gilt als Eigentümer, wer als solcher im Grundbuch eingetragen ist. Das Recht des nicht eingetragenen Eigentümers, die ihm gegen die öffentliche Last zustehenden Einwendungen geltend zu machen, bleibt unberührt.

Die Grundsteuer ruht auf dem Steuergegenstand als öffentliche Last.

(1) Wer kraft Gesetzes verpflichtet ist, eine Steuer aus Mitteln, die seiner Verwaltung unterliegen, zu entrichten, ist insoweit verpflichtet, die Vollstreckung in dieses Vermögen zu dulden.

(2) Wegen einer Steuer, die als öffentliche Last auf Grundbesitz ruht, hat der Eigentümer die Zwangsvollstreckung in den Grundbesitz zu dulden. Zugunsten der Finanzbehörde gilt als Eigentümer, wer als solcher im Grundbuch eingetragen ist. Das Recht des nicht eingetragenen Eigentümers, die ihm gegen die öffentliche Last zustehenden Einwendungen geltend zu machen, bleibt unberührt.