Europäischer Gerichtshof Urteil, 07. Sept. 2016 - C-121/15

ECLI:ECLI:EU:C:2016:637
bei uns veröffentlicht am07.09.2016

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

7. September 2016 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Rechtsangleichung — Richtlinie 2009/73/EG — Energie — Gassektor — Festsetzung der Lieferpreise für Erdgas an Endkunden — Regulierte Tarife — Hindernis — Vereinbarkeit — Beurteilungskriterien — Ziele der Versorgungssicherheit und des territorialen Zusammenhalts“

In der Rechtssache C‑121/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Conseil d'État (Staatsrat, Frankreich) mit Entscheidung vom 15. Dezember 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 10. März 2015, in dem Verfahren

Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (ANODE)

gegen

Premier ministre,

Ministre de l’Économie, de l’Industrie et du Numérique,

Commission de régulation de l’énergie,

ENGIE, vormals GDF Suez,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. L. da Cruz Vilaça sowie der Richter F. Biltgen, A. Borg Barthet (Berichterstatter), E. Levits und der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

unter Berücksichtigung der Erklärungen:

der Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (ANODE), vertreten durch O. Fréget und R. Lazerges, avocats,

von ENGIE, vertreten durch C. Barthélemy, avocat,

der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues, D. Colas und J. Bousin als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Fehér als Bevollmächtigten,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Giolito und O. Beynet als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. April 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG (ABl. 2009, L 211, S. 94).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Association nationale des opérateurs détaillants en énergie (Nationaler Verband der Energieeinzelhändler) (ANODE) auf der einen Seite und dem Premier ministre (Premierminister), dem Ministre de l’Économie, de l’Industrie et du Numérique (Minister für Wirtschaft, Industrie und Informationstechnologie), der Commission de régulation de l’énergie (Regulierungskommission für Energie, Frankreich) und ENGIE, vormals GDF Suez, auf der anderen Seite wegen der regulierten Tarife für die Abnahme von Erdgas.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 44 und 47 der Richtlinie 2009/73 heißt es:

„(44)

Die Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Verpflichtungen ist eine grundlegende Anforderung dieser Richtlinie, und es ist wichtig, dass in dieser Richtlinie von allen Mitgliedstaaten einzuhaltende gemeinsame Mindestnormen festgelegt werden, die den Zielen des Verbraucherschutzes, der Versorgungssicherheit, des Umweltschutzes und einer gleichwertigen Wettbewerbsintensität in allen Mitgliedstaaten Rechnung tragen. Gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen müssen unter Berücksichtigung der einzelstaatlichen Gegebenheiten aus nationaler Sicht ausgelegt werden können, wobei das Gemeinschaftsrecht einzuhalten ist.

(47)

Die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen und die sich daraus ergebenden gemeinsamen Mindeststandards müssen weiter gestärkt werden, damit sichergestellt werden kann, dass die Vorteile des Wettbewerbs und gerechter Preise allen Verbrauchern, und insbesondere schutzbedürftigen Verbrauchern, zugutekommen. Die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen sollten auf nationaler Ebene, unter Berücksichtigung der nationalen Bedingungen, festgelegt werden; das Gemeinschaftsrecht sollte jedoch von den Mitgliedstaaten beachtet werden …“

4

Art. 3 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten entsprechend ihrem institutionellen Aufbau und unter Beachtung des Subsidiaritätsprinzips, dass Erdgasunternehmen unbeschadet des Absatzes 2 nach den in dieser Richtlinie festgelegten Grundsätzen und im Hinblick auf die Errichtung eines wettbewerbsbestimmten, sicheren und unter ökologischen Aspekten nachhaltigen Erdgasmarkts betrieben werden und dass diese Unternehmen hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht diskriminiert werden.

(2)   Die Mitgliedstaaten können unter uneingeschränkter Beachtung der einschlägigen Bestimmungen des Vertrags, insbesondere des [Art. 106 AEUV], den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Verpflichtungen auferlegen, die sich auf Sicherheit, einschließlich Versorgungssicherheit, Regelmäßigkeit, Qualität und Preis der Versorgung sowie Umweltschutz, einschließlich Energieeffizienz, Energie aus erneuerbaren Quellen und Klimaschutz, beziehen können. Solche Verpflichtungen müssen klar festgelegt, transparent, nichtdiskriminierend und überprüfbar sein und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen der Gemeinschaft zu den nationalen Verbrauchern sicherstellen. In Bezug auf die Versorgungssicherheit, die Energieeffizienz/Nachfragesteuerung sowie zur Erreichung der Umweltziele und der Ziele für die Energie aus erneuerbaren Quellen im Sinne dieses Absatzes können die Mitgliedstaaten eine langfristige Planung vorsehen, wobei die Möglichkeit zu berücksichtigen ist, dass Dritte Zugang zum Netz erhalten wollen.“

5

Art. 2 Nr. 28 der Richtlinie 2009/73 definiert den „zugelassene[n] Kunde[n]“ als einen Kunden, dem es gemäß Art. 37 der Richtlinie freisteht, Gas von einem Lieferanten seiner Wahl zu kaufen.

6

Art. 37 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass folgende Kunden zugelassene Kunden sind:

a)

bis zum 1. Juli 2004 alle zugelassenen Kunden entsprechend Artikel 18 der Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt [(ABl. 1998, L 204, S. 1)]. Die Mitgliedstaaten veröffentlichen bis zum 31. Januar jedes Jahres die Kriterien für die Definition dieser zugelassenen Kunden;

b)

ab dem 1. Juli 2004 alle Nichthaushaltskunden;

c)

ab dem 1. Juli 2007 alle Kunden.“

Französisches Recht

7

In Art. L. 100-1 des Code de l’énergie (Energiegesetzbuch, im Folgenden: Code de l’énergie) heißt es:

„Die Energiepolitik gewährleistet die strategische Unabhängigkeit der Nation und fördert ihre wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Mit dieser Politik wird bezweckt:

die Versorgungssicherheit sicherzustellen;

einen konkurrenzfähigen Energiepreis beizubehalten; …

den sozialen und territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten, indem der Zugang aller zu Energie sichergestellt wird.“

8

Art. L. 121‑32 des Code de l’énergie sieht vor, dass den Lieferanten von Erdgas Gemeinwohlverpflichtungen übertragen werden, die u. a. die Versorgungssicherheit sowie die Qualität und den Preis der gelieferten Waren und erbrachten Dienstleistungen betreffen.

9

Art. L. 121‑46 des Code de l’énergie bestimmt:

„(1)

Die Ziele und die Modalitäten, die es ermöglichen, die Umsetzung der in den Abschnitten 1 und 2 dieses Kapitels definierten Gemeinwohlaufgaben sicherzustellen, sind Gegenstand von Verträgen zwischen dem Staat einerseits und … GDF‑Suez … andererseits über die ihr übertragenen Gemeinwohlaufgaben …

(2)

Die in Abs. 1 vorgesehenen Verträge betreffen u. a.:

1.

die Gemeinwohlerfordernisse im Bereich der Versorgungssicherheit, der Regelmäßigkeit und der Qualität der den Verbrauchern erbrachten Dienstleistung;

2.

die Mittel, die es ermöglichen, den Zugang zur Gemeinwohldienstleistung sicherzustellen;

4.

die mehrjährige Entwicklung der regulierten Abnahmetarife … für Gas;

…“

10

In Art. L. 410-2 des Code de commerce (Handelsgesetzbuch, im Folgenden: Code de commerce) heißt es:

„Mit Ausnahme der Fälle, in denen gesetzlich etwas anderes festgelegt ist, werden die Preise der Güter, Waren und Dienstleistungen … durch den Wettbewerb frei bestimmt.

Jedoch können in den Bereichen oder Gebieten, in denen der Wettbewerb durch die Preise, sei es aufgrund von Monopolen oder nachhaltigen Versorgungsschwierigkeiten oder sei es aufgrund von Rechts- und Verwaltungsvorschriften, begrenzt ist, durch ein Dekret des Conseil d’État [(Staatsrat)] die Preise nach Anhörung der Autorité de la concurrence [(Wettbewerbsbehörde)] reguliert werden.“

11

Die Art. L. 445‑1 bis L. 445‑4 („Regulierte Abnahmetarife“) des Code de l’énergie stellen klar:

„Art. L. 445‑1

Die Bestimmungen von Art. L. 410‑2 Abs. 2 des Code de commerce sind auf die in Art. L. 445‑3 genannten regulierten Abnahmetarife für Erdgas anwendbar.

Art. L. 445‑2

Die Entscheidungen über die in Art. L. 445-3 genannten Tarife werden von den Ministern für Wirtschaft und für Energie gemeinsam nach Stellungnahme der Commission de régulation de l’énergie [(Regulierungskommission für Energie)] getroffen.

Die Commission de régulation de l’énergie gibt ihre Vorschläge und Stellungnahmen, die zu begründen sind, ab, nachdem sie alle von ihr für notwendig erachteten Anhörungen der Akteure des Energiemarkts durchgeführt hat.

Art. L. 445-3

Die regulierten Abnahmetarife für Erdgas werden anhand der Merkmale festgelegt, die den Lieferungen und den mit diesen Lieferungen verbundenen Kosten immanent sind. Sie decken die Gesamtheit dieser Kosten; davon ausgeschlossen sind alle Subventionen zugunsten der Kunden, die von ihrem in Art. L. 441-1 vorgesehenen Recht Gebrauch gemacht haben. …

Art. L. 445‑4

Ein Endverbraucher von Erdgas kann die in Art. L. 445‑3 genannten regulierten Abnahmetarife für Erdgas nicht in Anspruch nehmen, es sei denn, dass eine Verbrauchsstätte noch Gegenstand dieser Tarife ist.

Ein Endverbraucher von Erdgas, der jährlich weniger als 30000 Kilowattstunden verbraucht, kann jedoch an jeder Verbrauchsstätte die in Art. L. 445-3 genannten regulierten Abnahmetarife für Erdgas in Anspruch nehmen.“

12

Art. L. 445‑1 des Code de l’énergie bestimmt:

„Jeder Kunde, der das von ihm gekaufte Gas verbraucht oder der Gas kauft, um es weiterzuverkaufen, hat das Recht, gegebenenfalls über seinen Vertreter, seinen Erdgaslieferanten zu wählen.“

13

Die Regeln, die festlegen, wie die regulierten Tarife berechnet werden, stellt das Dekret Nr. 2009-1603 vom 18. Dezember 2009 über regulierte Abnahmetarife für Erdgas (JORF vom 22. Dezember 2009, S. 22082) in der durch das Dekret Nr. 2013-400 vom 16. Mai 2013 (JORF vom 17. Mai 2013, S. 8189) geänderten Fassung (im Folgenden: Dekret Nr. 2009-1603) auf.

14

Das Dekret Nr. 2009-1603 sieht vor, dass die regulierten Abnahmetarife für Erdgas von den Ministern für Wirtschaft und für Energie nach Stellungnahme der Regulierungskommission für Energie festgesetzt werden. Als Erstes erlassen diese beiden Minister einen Beschluss, in dem für jeden Lieferanten eine Tarifformel festgesetzt wird, die die gesamten Kosten der Lieferung von Erdgas und die Methoden für die Bewertung anderer Kosten als der Lieferkosten wiedergibt. Als Zweites werden in einem von den beiden genannten Ministern erlassenen Dekret nach einer Untersuchung und Stellungnahme der Regulierungskommission für Energie die regulierten Abnahmepreise für Erdgas festgesetzt. Diese Preise werden mindestens einmal jährlich überprüft und im Bedarfsfall je nach Entwicklung der Tarifformel überarbeitet. Lieferanten, die niedrigere Preise vorschlagen als die regulierten Preise, können der Regulierungskommission für Energie eine Änderung des regulierten Preises vorschlagen; die Regulierungskommission für Energie muss sich vergewissern, dass die beantragte Änderung auf der Anwendung der Tarifformel beruht. Diese Bestimmungen wurden mit Wirkung zum 1. Januar 2016 geändert; die Rolle der Regulierungskommission für Energie, die den Ministern für Wirtschaft und für Energie Vorschläge unterbreitet, wurde aufgewertet. Ihre Vorschläge gelten als akzeptiert, wenn die Minister nicht innerhalb von drei Monaten Einwände erheben.

15

Was die von den regulierten Tarifen gedeckten Kosten angeht, ist nach dem Dekret Nr. 2009-1603 erforderlich, dass die Kosten des Lieferanten von den Abnahmetarifen vollständig gedeckt werden. Die Art. 3 und 4 dieses Dekrets bestimmen:

„Art. 3

Die regulierten Abnahmetarife für Erdgas decken die Kosten für die Versorgung mit Erdgas und die versorgungsfremden Kosten.

Sie beinhalten einen variablen Anteil, der sich am tatsächlichen Verbrauch orientiert, und einen pauschalen Anteil, der anhand der fixen Kosten für die Lieferung von Erdgas berechnet wird, wobei auch die vom Kunden verbrauchte, bestellte oder vorbestellte Menge und die Nutzungsbedingungen, insbesondere die Aufteilung der im Laufe des Jahres beanspruchten Mengen, berücksichtigt werden können.

Art. 4

Für jeden Lieferanten wird eine Tarifformel festgelegt, die die gesamten Kosten der Versorgung mit Erdgas wiedergibt. Die Tarifformel und die versorgungsfremden Kosten ermöglichen die Ermittlung der Durchschnittskosten der Lieferung von Erdgas, auf deren Grundlage die regulierten Abnahmetarife für Erdgas je nach den Modalitäten der Belieferung der betreffenden Kunden festgelegt werden.

Die versorgungsfremden Kosten umfassen u. a.:

die Kosten für die Nutzung der Erdgastransportnetze und gegebenenfalls der öffentlichen Erdgasverteilernetze, die sich aus der Anwendung der von der Regulierungskommission für Energie festgelegten Tarife für die Nutzung der Gasinfrastrukturen ergeben;

gegebenenfalls die Kosten für die Nutzung von Erdgaslagern;

die Kosten für die Vermarktung der erbrachten Dienstleistungen, einschließlich einer angemessenen Handelsspanne.

…“

16

Demnach decken die versorgungsfremden Kosten die Bestandteile, die auf Übertragung, Lagerung, Verteilung, Gebühren und Gewinn entfallen, und die Lieferkosten geben die Versorgungskosten wieder und beruhen in erster Linie auf langfristigen Verträgen zwischen dem Lieferanten und ausländischen Erzeugern, da fast der gesamte Verbrauch in Frankreich aus Importen stammt. Diese langfristigen Verträge sind im Allgemeinen an die Erdölpreise gekoppelt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17

Mit am 17. Juli 2013 eingereichter Klageschrift erhob ANODE vor dem Conseil d’État (Staatsrat, Frankreich, im Folgenden: Conseil d’État) Klage auf Nichtigerklärung des Dekrets Nr. 2013-400 wegen Befugnisüberschreitung.

18

Mit ihrer Klage macht ANODE u. a. geltend, dass die durch dieses Dekret umgesetzten Art. L. 445-1 bis L. 445-4 des Code de l’énergie gegen die Ziele der Richtlinie 2009/73 verstoßen würden.

19

ANODE macht insbesondere geltend, dass die fraglichen Bestimmungen des nationalen Rechts nicht mit dem im Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205), aufgestellten Anwendungsgrundsatz vereinbar seien.

20

Der Conseil d’État möchte erstens wissen, ob eine staatliche Intervention beim Preis, wie sie von der französischen Regelung vorgesehen sei, dahin beurteilt werden müsse, dass sie dazu führe, dass die Höhe des Preises für die Lieferung von Erdgas an den Endverbraucher unabhängig vom freien Spiel des Marktes bestimmt werde, und sie daher unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts darstelle.

21

Sollte das der Fall sein, will der Conseil d’État zweitens wissen, anhand welcher Kriterien die Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit der Richtlinie 2009/73 zu prüfen wäre, und insbesondere, ob Art. 106 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie es den Mitgliedstaaten erlaube, durch die Einführung regulierter Preise Ziele wie die der Versorgungssicherheit und des territorialen Zusammenhalts zu verfolgen. Der Conseil d’État wirft auch die Frage auf, ob eine staatliche Intervention bei einer Preisfestlegung möglich sei, die auf dem Prinzip der Deckung der gesamten Kosten des traditionellen Lieferanten beruhe, und welches die Bestandteile der Kosten seien, die bei der Festlegung der regulierten Tarife eventuell berücksichtigt werden könnten.

22

Unter diesen Umständen hat der Conseil d’État das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Zu den Vorlagefragen

23

Mit seinen Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine Regelung über regulierte Abnahmetarife für Erdgas wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit der Richtlinie 2009/73 und Art. 106 Abs. 2 AEUV vereinbar ist.

24

Zunächst ist festzustellen, dass der Gerichtshof in seinem Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205), bereits Gelegenheit gehabt hat, den Rahmen der Untersuchung abzustecken, der es dem nationalen Gericht erlaubt, zu prüfen, ob eine staatliche Intervention beim Preis, spezifisch im Erdgassektor, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. In diesem Urteil und der nachfolgenden Rechtsprechung hat der Gerichtshof auch mehrere Kriterien genannt, auf die sich eine solche Prüfung stützen muss, und in der Linie dieser Rechtsprechung sind die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen zu prüfen (vgl. Urteile vom 21. Dezember 2011, Enel Produzione, C‑242/10, EU:C:2011:861, und vom 10. September 2015, Kommission/Polen, C‑36/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:570).

Zur ersten Frage

25

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 dahin auszulegen ist, dass die Intervention eines Mitgliedstaats, die darin besteht, bestimmten Lieferanten, darunter dem traditionellen Lieferanten, vorzuschreiben, dem Endverbraucher die Lieferung von Erdgas zu regulierten Tarifen anzubieten, die es aber nicht ausschließt, dass von allen Lieferanten auf dem Markt konkurrierende Angebote zu Tarifen unterbreitet werden, die unter diesen Tarifen liegen, bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts im Sinne dieses Art. 3 Abs. 1 darstellt.

26

Obschon sich aus keiner Bestimmung der Richtlinie 2009/73 ableiten lässt, dass der Preis für die Lieferung von Erdgas allein durch das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage festzulegen wäre, ergibt sich dieses Erfordernis aus der Zielsetzung und dem allgemeinen Aufbau dieser Richtlinie, die bezweckt, die Verwirklichung eines vollständig und tatsächlich offenen und wettbewerbsbestimmten Erdgasbinnenmarkts zu verfolgen, in dem alle Kunden ihre Lieferanten frei wählen können und in dem alle Anbieter ihre Kunden frei beliefern können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2015, Kommission/Polen, C‑36/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:570, Rn. 45).

27

Insoweit ist daran zu erinnern, dass eine staatliche Intervention beim Preis für die Abnahme von Erdgas eine Maßnahme ist, die bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines funktionsfähigen Erdgasbinnenmarkts darstellt (vgl. Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 35).

28

Im vorliegenden Fall sieht die in Rede stehende französische Regelung eine staatliche Intervention vor, die darin besteht, bestimmten Unternehmen vorzuschreiben, auf dem Markt bestimmten Kategorien von Kunden Erdgas zu Preisen anzubieten, die das Ergebnis einer Berechnung nach Kriterien und unter Heranziehung von Tabellen sind, die von staatlichen Stellen festgelegt werden.

29

Die in Anwendung dieser Regelung festgesetzten Tarife sind indes regulierte Preise, die in keiner Weise das Ergebnis einer freien, sich aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage auf dem Markt ergebenden Festlegung sind. Ganz im Gegenteil beruhen diese Tarife auf einer Festlegung, die auf der Grundlage von Kriterien erfolgt, die von staatlichen Stellen vorgegeben werden, und die daher außerhalb der Dynamik der Kräfte des Marktes steht.

30

Wie der Generalanwalt in Nr. 31 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, beeinflusst eine Maßnahme, die dazu verpflichtet, ein Erzeugnis oder eine Dienstleistung auf dem Markt zu einem bestimmten Preis anzubieten, notwendigerweise die Freiheit der betroffenen Unternehmen, auf dem betreffenden Markt zu agieren, und damit das Wettbewerbsgeschehen, das auf diesem Markt stattfindet. Eine solche Maßnahme läuft bereits ihrer Natur nach dem Ziel der Verwirklichung eines offenen und wettbewerbsbestimmten Marktes zuwider.

31

Daraus folgt, dass eine Festlegung, die das Ergebnis einer Intervention staatlicher Stellen ist, notwendigerweise den Wettbewerb beeinträchtigt und dass daher eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende dem Ziel der Verwirklichung eines offenen und wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 entgegensteht.

32

Wie der Generalanwalt im Übrigen in Nr. 35 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, vermag im Übrigen der Umstand, dass die von den regulierten Tarifen betroffenen Unternehmen ebenfalls frei über ihre Angebote auf dem Markt bestimmen können, keineswegs die Feststellung in Frage zu stellen, dass die in Rede stehende staatliche Intervention den Wettbewerb beeinträchtigt. Denn die Bildung zweier Marktsegmente, nämlich eines Segments, in dem die Preise außerhalb des Wettbewerbsgeschehens festgelegt werden, und eines Segments, in dem ihre Festlegung den Kräften des Marktes überlassen bleibt, ist mit der Schaffung eines offenen und wettbewerbsbestimmten Erdgasbinnenmarkts unvereinbar. Dem ist hinzuzufügen, dass das Vorbringen der französischen Regierung, wonach die regulierten Tarife eine Referenzobergrenze für die Festsetzung der Preise der anderen – nicht von der fraglichen Regelung betroffenen – Lieferanten darstellen, den Eindruck verstärkt, dass diese Tarife die freie Festlegung der Preise auf dem gesamten französischen Erdgasmarkt konkret beeinträchtigen.

33

Nach alledem ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73 dahin auszulegen ist, dass die Intervention eines Mitgliedstaats, die darin besteht, bestimmten Lieferanten, darunter dem traditionellen Lieferanten, vorzuschreiben, dem Endverbraucher die Lieferung von Erdgas zu regulierten Tarifen anzubieten, bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts im Sinne dieses Art. 3 Abs. 1 darstellt, und dieses Hindernis besteht auch dann, wenn diese Intervention es nicht ausschließt, dass von allen Lieferanten auf dem Markt konkurrierende Angebote zu Preisen unterbreitet werden, die unter diesen Tarifen liegen.

Zur zweiten Frage

34

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht die Kriterien klären lassen, denen bei der Prüfung, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften mit Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 vereinbar sind, Rechnung zu tragen ist.

35

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Ausführungen zur Zulässigkeit einer in einer Preisregulierung bestehenden staatlichen Intervention, die im Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205), in Bezug auf Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2003/55/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2003 betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 98/30/EG (ABl. 2003, L 176, S. 57) aufgestellt worden sind, auch für Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 gelten, da diese letztgenannte Bestimmung, soweit sie auf das Ausgangsverfahren anwendbar ist, nicht geändert wurde (vgl. Urteil vom 10. September 2015, Kommission/Polen, C‑36/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:570, Rn. 53).

36

Obwohl eine staatliche Intervention beim Preis für die Lieferung von Erdgas an den Endverbraucher ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasbinnenmarkts darstellt, kann diese Intervention daher im Rahmen der Richtlinie 2009/73 gleichwohl zulässig sein, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind. Erstens muss diese Intervention ein Ziel von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse verfolgen, zweitens muss sie den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten, und drittens muss sie Gemeinwohlverpflichtungen vorsehen, die klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen in der Union zu den Verbrauchern sicherstellen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 20 bis 22 und 47, und vom 10. September 2015, Kommission/Polen, C‑36/14, nicht veröffentlicht, EU:C:2015:570, Rn. 51 bis 53).

37

Hinsichtlich der ersten Voraussetzung, des Bestehens eines allgemeinen wirtschaftlichen Interesses, möchte das vorlegende Gericht wissen, inwieweit und unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat andere Ziele des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses verfolgen kann als die vom Gerichtshof im Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a. (C‑265/08, EU:C:2010:205), anerkannte Aufrechterhaltung des Lieferpreises auf einem angemessenen Niveau.

38

Zwar enthält die Richtlinie 2009/73 keine Definition des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses, doch bedeutet die Bezugnahme in Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie sowohl auf diese Voraussetzung als auch auf Art. 106 AEUV, der mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraute Unternehmen betrifft, dass diese Voraussetzung am Maßstab dieser Vertragsbestimmung auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 26).

39

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darauf hingewiesen, dass nach Art. 106 Abs. 2 AEUV zum einen für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, die Wettbewerbsregeln gelten, soweit die Anwendung dieser Vorschriften nicht die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich behindert, und zum anderen die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden darf, das dem Interesse der Union zuwiderläuft (Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 27).

40

Wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ist die Auslegung der Voraussetzung des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses in den neuen Kontext zu stellen, der sich aufgrund des Inkrafttretens des Vertrags von Lissabon ergibt, ein Kontext, welcher neben Art. 106 AEUV auch Art. 14 AEUV, das dem EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon und dem AEU-Vertrag angefügte Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse (im Folgenden: Protokoll Nr. 26) und die in den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge erhobene Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere Art. 36 der Charta, umfasst, der den Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse betrifft.

41

Insbesondere das Protokoll Nr. 26 erkennt den Behörden der Mitgliedstaaten bei der Lieferung, der Ausführung und der Organisation der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse explizit eine wichtige Rolle und einen weiten Ermessensspielraum zu.

42

Was speziell den Erdgassektor anbelangt, folgt aus dem zweiten Satz des 47. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2009/73, dass die Gemeinwohlverpflichtungen auf nationaler Ebene, unter Berücksichtigung der nationalen Bedingungen, festgelegt werden sollten, das Unionsrecht dabei jedoch von den Mitgliedstaaten beachtet werden sollte.

43

Unter diesem Blickwinkel soll Art. 106 Abs. 2 AEUV das Interesse der Mitgliedstaaten am Einsatz bestimmter Unternehmen als Instrument der Wirtschafts- oder Sozialpolitik mit dem Interesse der Union an der Einhaltung der Wettbewerbsregeln und der Wahrung der Einheit des Binnenmarkts in Einklang bringen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 1999, Albany, C‑67/96, EU:C:1999:430, Rn. 103, und vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 28).

44

Der Gerichtshof hat klargestellt, dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, unter Beachtung des Rechts der Union den Umfang und die Organisation ihrer Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu bestimmen. Sie können insbesondere Ziele berücksichtigen, die ihrer nationalen Politik eigen sind (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. September 1999, Albany, C‑67/96, EU:C:1999:430, Rn. 104, und vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 29).

45

Hierzu hat der Gerichtshof ausgeführt, dass es Aufgabe der Mitgliedstaaten ist, im Rahmen der von ihnen gemäß der Richtlinie 2009/73 vorzunehmenden Beurteilung, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Gemeinwohlverpflichtungen aufzuerlegen sind, einen Ausgleich zwischen dem Ziel der Liberalisierung und den anderen von dieser Richtlinie verfolgten Zielen herzustellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 32).

46

Im vorliegenden Fall bezieht sich das vorlegende Gericht spezifisch auf die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt, die die französische Regierung als Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, die von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung verfolgt würden, anführt.

47

Was die Versorgungssicherheit angeht, so wird dieses Ziel auf der Ebene des Primärrechts der Union und durch die Richtlinie 2009/73 ausdrücklich angestrebt.

48

Wie der Generalanwalt in Nr. 56 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, bezeichnet Art. 194 Abs. 1 Buchst. b AEUV nämlich die Energieversorgungssicherheit in der Union als eines der grundlegenden Ziele der Unionspolitik im Energiebereich. Spezifisch für den Erdgasbereich geht aus mehreren Erwägungsgründen und Artikeln der Richtlinie 2009/73 hervor, dass diese die Energieversorgungssicherheit ausdrücklich als eines ihrer grundlegenden Ziele vorsieht.

49

Dagegen wird der territoriale Zusammenhalt von der Richtlinie 2009/73 nicht ausdrücklich als ein Ziel von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse angestrebt, das die Auferlegung von Gemeinwohlverpflichtungen im Erdgasbereich rechtfertigen könnte.

50

Jedoch ist zum einen, wie der Generalanwalt in den Nrn. 52 bis 54 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 die Handlungsformen, die Gegenstand von Gemeinwohlverpflichtungen sein können, in nicht abschließender Weise aufzählt und dass es den Mitgliedstaaten unter Beachtung des Unionsrechts weiterhin frei steht, zu bestimmen, welches die Ziele des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses sind, die sie mit der Auferlegung von Gemeinwohlverpflichtungen verfolgen wollen. Diese Verpflichtungen müssen jedoch stets auf die Verwirklichung eines oder mehrerer der Ziele des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses ausgerichtet sein.

51

Zum anderen erkennt Art. 14 AEUV, wie der Generalanwalt in Nr. 57 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, ausdrücklich die Rolle an, die Dienste des allgemeinen wirtschaftlichen Interesses bei der Förderung des territorialen Zusammenhalts in der Union spielen. Darüber hinaus nennt Art. 36 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausdrücklich den territorialen Zusammenhalt im Rahmen des Rechts auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse.

52

Nach alledem erlaubt das Unionsrecht, insbesondere Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73, ausgelegt im Licht der Art. 14 und 106 AEUV, den Mitgliedstaaten, zu beurteilen, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Gemeinwohlverpflichtungen hinsichtlich des Lieferpreises für Erdgas aufzuerlegen sind, um u. a. die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten, sofern alle weiteren von der Richtlinie vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind.

53

Hinsichtlich der zweiten der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils aufgezählten Voraussetzungen, der Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, geht aus dem Wortlaut von Art. 106 AEUV unmittelbar hervor, dass Gemeinwohlverpflichtungen, die nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 Unternehmen auferlegt werden können, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten müssen und dass diese Verpflichtungen daher die freie Festlegung des Lieferpreises für Erdgas nach dem 1. Juli 2007 nur insoweit, als es zur Erreichung des mit ihnen verfolgten, im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse liegenden Ziels erforderlich ist, und damit zwangsläufig nur für einen begrenzten Zeitraum, beeinträchtigen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 33).

54

Es ist zwar Sache des vorlegenden Gerichts, im Rahmen des Ausgangsrechtsstreits zu beurteilen, ob dieses Erfordernis der Verhältnismäßigkeit erfüllt ist, der Gerichtshof hat ihm jedoch alle hierfür erforderlichen Hinweise hinsichtlich des Unionsrechts zu geben (Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 34).

55

Die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit impliziert erstens, dass die fragliche Maßnahme geeignet ist, die Verwirklichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten (Urteil vom 21. Dezember 2011, Enel Produzione, C‑242/10, EU:C:2011:861, Rn. 55).

56

Insoweit macht das vorlegende Gericht sehr wenige Angaben für eine Beurteilung, warum es zur Verwirklichung sehr allgemeiner Ziele wie der von der französischen Regierung angeführten erforderlich sein soll, die Gaspreise vorzuschreiben.

57

Insbesondere hinsichtlich des Ziels der Versorgungssicherheit bezieht sich das vorlegende Gericht im Wesentlichen auf das Vorbringen dieser Regierung, wonach die langfristigen, an den Preis für Erdölerzeugnisse gekoppelten Versorgungsverträge des traditionellen Lieferanten eine größere Versorgungssicherheit gewährleisteten als Verträge alternativer Lieferanten, auf die sich die Instabilität des Gaspreises auf dem Großhandelsmarkt auswirke.

58

Es ist zwar nicht ausgeschlossen, dass eine Regelung, die die Verpflichtung umfasst, Erdgas zu einem bestimmten Preis anzubieten und zu liefern, für geeignet befunden werden kann, die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Da dem Gerichtshof jedoch keine genauen Angaben für eine Analyse zur Verfügung gestellt worden sind, wird es Sache des vorlegenden Gerichts sein, festzustellen, ob dies bei der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung der Fall ist.

59

Hinsichtlich des Ziels des territorialen Zusammenhalts ist darauf hinzuweisen, dass es, obschon es nicht ausgeschlossen erscheint, dass mit der Auferlegung von regulierten Tarifen im gesamten Staatsgebiet ein solches Ziel verfolgt wird, dem vorlegenden Gericht obliegen wird, im Rahmen der Analyse zur Feststellung, ob die fragliche Maßnahme dieses Ziel gewährleisten kann, zu bewerten, ob es nicht Maßnahmen gibt, die dieses Ziel ebenfalls gewährleisten können, die aber die Verwirklichung eines offenen Erdgasbinnenmarkts weniger behindern, wie beispielsweise die Auferlegung von Preisen, die nur auf bestimmte Kategorien von Kunden in abgelegenen und nach objektiven geografischen Kriterien identifizierten Gebieten anwendbar ist.

60

Zweitens hat der Gerichtshof entschieden, dass die Dauer der staatlichen Preisintervention auf das zur Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels strikt Notwendige begrenzt werden muss (Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 33 und 35).

61

Hierzu ergibt sich aus den Informationen, über die der Gerichtshof verfügt, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung keine Begrenzung der Dauer der Verpflichtung vorsieht, den Endkunden die Lieferung von Erdgas zu regulierten Preisen anzubieten, was dieser Verpflichtung einen dauerhaften Charakter verleiht.

62

Die Festlegung einer Höchstdauer für die erlassenen Tarife kann keine derartige Begrenzung darstellen, da dieser Mechanismus nur eine regelmäßige Überprüfung der Höhe dieser Tarife bezweckt und nicht die Notwendigkeit und die Modalitäten der staatlichen Intervention bei den Preisen je nach der Entwicklung des Erdgasmarkts betrifft.

63

Es obliegt jedenfalls dem vorlegenden Gericht, anhand der ihm zur Verfügung stehenden genauen Angaben zu prüfen, ob die Auferlegung einer Verpflichtung wie der in Art. L. 410-2 des Code de commerce aufgestellten, die im Wesentlichen dauerhaften Charakter hat, das in Rn. 55 des vorliegenden Urteils genannte Erfordernis beachtet.

64

Drittens darf die angewandte Interventionsmethode nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse erforderlich ist (Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 36).

65

Hierzu ist der Vorlageentscheidung zu entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Intervention auf dem Prinzip der Deckung der gesamten Kosten des traditionellen Lieferanten beruht, wofür eine dessen Versorgungskosten darstellende Formel und eine Methode zur Bewertung der versorgungsfremden Kosten angewandt werden, die jedes Jahr nach einer Analyse von der Regulierungskommission für Energie erarbeitet werden.

66

In diesem Zusammenhang ist für das Erfordernis der Notwendigkeit grundsätzlich der Bestandteil des Gaspreises auszumachen, bei dem eine Intervention erforderlich ist, um das von der staatlichen Intervention verfolgte Ziel zu erreichen (vgl. entsprechend Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 36 und 38). Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob die angewandte Methode der Intervention bei den Preisen nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die verfolgten Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu erreichen, und ob es nicht geeignete Maßnahmen gibt, die weniger einschneidend sind.

67

Viertens muss das Erfordernis der Notwendigkeit auch im Hinblick auf den persönlichen Anwendungsbereich der fraglichen Maßnahme und insbesondere im Hinblick auf die von ihr Begünstigten beurteilt werden (Urteil vom 20. April 2010, Federutility u. a., C‑265/08, EU:C:2010:205, Rn. 39).

68

Hierzu ist zu prüfen, in welchem Umfang die in Rede stehende staatliche Intervention jeweils Privaten und Unternehmen als Endverbrauchern von Gas zugutekommt.

69

Im vorliegenden Fall sieht die fragliche Regelung vor, dass ab dem 1. Januar 2016 die Haushalte und die Unternehmen, die jährlich weniger als 30000 kWh verbrauchen, Anspruch auf Lieferung zu regulierten Preisen haben. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, nachzuprüfen, ob ein solches System, das Privatkunden und kleinen und mittleren Unternehmen offenbar in gleicher Weise zugutekommt, das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit in Bezug auf den persönlichen Anwendungsbereich der Maßnahme in Anbetracht der Ziele der Versorgungssicherheit und des territorialen Zusammenhalts beachtet.

70

Hinsichtlich der dritten der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils aufgezählten Voraussetzungen, wonach die staatliche Intervention Gemeinwohlverpflichtungen vorsehen muss, die klar festgelegt, transparent, nicht diskriminierend und überprüfbar sind und den gleichberechtigten Zugang von Erdgasunternehmen in der Union zu den Verbrauchern sicherstellen, ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht keine Angaben für eine diesbezügliche Analyse gemacht hat.

71

Was insbesondere den nicht diskriminierenden Charakter der in Rede stehenden Regelung angeht, ist es nach Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 möglich, allgemein „den im Gassektor tätigen Unternehmen“ und nicht bestimmten Unternehmen im Besonderen Gemeinwohlverpflichtungen aufzuerlegen. Hierauf hat der Generalanwalt in Nr. 82 seiner Schlussanträge hingewiesen. Außerdem sieht Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die Erdgasunternehmen „hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht diskriminiert werden“. In diesem Rahmen darf das System der Benennung von Unternehmen, denen Gemeinwohlverpflichtungen auferlegt werden, keines der im Gasverteilungssektor tätigen Unternehmen von vornherein ausschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. Juni 2008, Kommission/Frankreich, C‑220/07, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:354, Rn. 31).

72

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob dieses Erfordernis sowie die übrigen in Rn. 66 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen durch die Anwendung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Tarifsystems erfüllt werden.

73

Auf die zweite Frage ist daher zu antworten:

Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73, ausgelegt im Licht der Art. 14 und 106 AEUV sowie des Protokolls Nr. 26, ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten erlaubt, zu beurteilen, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Gemeinwohlverpflichtungen hinsichtlich des Lieferpreises von Erdgas vorzuschreiben sind, um u. a. die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten, sofern dabei zum einen alle Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie erfüllt sind, insbesondere der nicht diskriminierende Charakter dieser Verpflichtungen gewahrt ist, und zum anderen die Auferlegung dieser Verpflichtungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.

Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 ist dahin auszulegen, dass er einer auf der Berücksichtigung der Kosten beruhenden Methode der Preisfestlegung nicht entgegensteht, vorausgesetzt, die Anwendung einer solchen Methode hat nicht zur Folge, dass die staatliche Intervention über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die mit ihr verfolgten Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu erreichen.

Kosten

74

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2009/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 2003/55/EG ist dahin auszulegen, dass die Intervention eines Mitgliedstaats, die darin besteht, bestimmten Lieferanten, darunter dem traditionellen Lieferanten, vorzuschreiben, dem Endverbraucher die Lieferung von Erdgas zu regulierten Tarifen anzubieten, bereits ihrer Natur nach ein Hindernis für die Verwirklichung eines wettbewerbsbestimmten Erdgasmarkts im Sinne dieses Art. 3 Abs. 1 darstellt, und dieses Hindernis besteht auch dann, wenn diese Intervention es nicht ausschließt, dass von allen Lieferanten auf dem Markt konkurrierende Angebote zu Preisen unterbreitet werden, die unter diesen Tarifen liegen.

 

2.

Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73, ausgelegt im Licht der Art. 14 und 106 AEUV sowie des – dem EU-Vertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon und dem AEU-Vertrag angefügten – Protokolls Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, ist dahin auszulegen, dass er den Mitgliedstaaten erlaubt, zu beurteilen, ob den im Gassektor tätigen Unternehmen im allgemeinen wirtschaftlichen Interesse Gemeinwohlverpflichtungen hinsichtlich des Lieferpreises von Erdgas vorzuschreiben sind, um u. a. die Versorgungssicherheit und den territorialen Zusammenhalt zu gewährleisten, sofern dabei zum einen alle Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 dieser Richtlinie erfüllt sind, insbesondere der nicht diskriminierende Charakter dieser Verpflichtungen gewahrt ist, und zum anderen die Auferlegung dieser Verpflichtungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet.

Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2009/73 ist dahin auszulegen, dass er einer auf der Berücksichtigung der Kosten beruhenden Methode der Preisfestlegung nicht entgegensteht, vorausgesetzt, die Anwendung einer solchen Methode hat nicht zur Folge, dass die staatliche Intervention über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die mit ihr verfolgten Ziele von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse zu erreichen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Französisch.

ra.de-Urteilsbesprechung zu Europäischer Gerichtshof Urteil, 07. Sept. 2016 - C-121/15

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