Bundesgerichtshof Beschluss, 30. Okt. 2013 - V ZB 186/12
vorgehend
Bundesgerichtshof
Richter
BUNDESGERICHTSHOF
beschlossen:
Gründe:
I.
- 1
- Der Betroffene, ein albanischer Staatangehöriger, reiste am 4. Juni 2011 in das Bundesgebiet ein und beantragte am 6. Juni und am 12. Juli 2011 Asyl. Diese Anträge lehnte das zuständige Bundesamt mit seit dem 9. August 2011 bestandskräftigem Bescheid ab und forderte den Betroffenen unter Androhung der Abschiebung zur Ausreise aus dem Bundesgebiet auf. Der Betroffene leistete dieser Aufforderung zunächst nicht Folge und tauchte unter. Im Oktober 2011 meldete er sich bei der Ausländerbehörde in Braunschweig und erklärte sich bereit, freiwillig auszureisen. Er wurde daraufhin der beteiligten Behörde zugewiesen. Diese bemühte sich um eine Rücknahmezusicherung Albaniens und erhielt diese am 28. Dezember 2011 unter dem Vorbehalt einer Identitätsprüfung in Albanien. In der Zeit vom 2. Dezember 2011 bis zum 11. April 2012 befand sich der Betroffene in Untersuchungshaft wegen des Verdachts des gemeinschaftlichen Raubes. Mit Urteil vom 11. April 2012 wurde er freigesprochen. Er tauchte unter und wurde am 4. Mai 2012 wegen des Verdachts eines Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz in Halle/Saale festgenommen.
- 2
- Das Amtsgericht am Ort der Festnahme ordnete gegen den Betroffenen im Wege der einstweiligen Anordnung Sicherungshaft bis zum 1. Juni 2012 an. Das Amtsgericht, in dessen Bezirk die Sicherungshaft vollzogen wurde, hat mit Beschluss vom 31. Mai 2012 in der Hauptsache Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 15. Juni 2012 angeordnet. Die Beschwerde des Betroffenen ist ohne Erfolg geblieben. Mit der Rechtsbeschwerde beantragt er nach erfolgter Abschiebung die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung in der Hauptsache und ihrer Aufrechterhaltung durch das Beschwerdegericht.
II.
- 3
- Das Beschwerdegericht meint, die sachlichen Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungshaft hätten vorgelegen, ein Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot sei nicht ersichtlich.
III.
- 4
- Die mit dem Antrag nach § 62 FamFG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen hat Erfolg.
- 5
- 1. Die Anordnung der Haft durch das Amtsgericht war rechtswidrig, weil es an einem zulässigen Haftantrag fehlte.
- 6
- a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung (Senat, Beschluss vom 29. April 2010 - V ZB 218/09, FGPrax 2010, 210, 211, Rn. 12; Beschluss vom 22. Juli 2010 - V ZB 28/10, NVwZ 2010, 1511, 1512, Rn. 7). Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforderungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Diese Darlegungen müssen auf den konkreten Fall zugeschnitten sein; Leerformeln und Textbausteine genügen nicht. Sie dürfen knapp gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falls ansprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (Senat, Beschlüsse vom 15. September 2011 - V ZB 123/11, FGPrax 2011, 317 Rn. 8, vom 27. Oktober 2011 - V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn. 12 f., vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, FGPrax 2012, 225, 226 Rn. 9 f. und vom 15. November 2012 - V ZB 119/12, juris Rn. 6).
- 7
- b) Diesen Anforderungen genügt der Haftantrag der beteiligten Behörde nicht. Es fehlen jedenfalls ausreichende Darlegungen zu der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der Haft. Nach dem Haftantrag hat sich der Betroffene vom 2. Dezember 2011 bis zum 11. April 2012 in Untersuchungshaft befunden. Weshalb dieser Zeitraum von mehr als vier Monaten nicht, wie geboten (Senat, Beschluss vom 21. Januar 2010 - V ZB 14/10, FGPrax 2010, 97, 98 Rn. 11), zur Vorbereitung der Abschiebung genutzt worden ist, hat die beteiligte Behörde nicht dargelegt, was aber notwendig gewesen wäre (Senat, Beschluss vom 14. Juni 2012 - V ZB 284/11, FGPrax 2012, 227 Rn. 7). Sie hat nach dem dafür maßgeblichen Inhalt des Protokolls diese Darlegung auch nicht, was möglich gewesen wäre (Senat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 136/11, FGPrax 2011, 318, 319 Rn. 8), bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen nachgeholt.
- 8
- 2. Die Aufrechterhaltung der Haftanordnung durch das Beschwerdegericht ist ebenfalls rechtswidrig.
- 9
- Es fehlte an einem zulässigen Haftantrag. Diesen Mangel hat die beteiligte Behörde nicht behoben. Dazu hätte sie spätestens im Beschwerdeverfahren ergänzend zu der Frage einer Ausnutzung der Untersuchungshaft für die Vorbereitung der Abschiebung Stellung nehmen müssen. Außerdem hätte das Beschwerdegericht den Betroffenen selbst persönlich anhören müssen (Senat, Beschlüsse vom 29. September 2011 - V ZB 61/11 juris Rn. 8, vom 6. Oktober 2011 - V ZB 188/11 juris Rn. 12 und vom 31. Januar 2013 - V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rn. 11). Beides ist nicht geschehen.
IV.
- 10
- Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83 Abs. 2 FamFG, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog; die Festsetzung des Gegenstandswerts folgt aus § 128 c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO. Stresemann Lemke Schmidt-Räntsch Roth Brückner
AG Hannover, Entscheidung vom 31.05.2012 - 43 XIV 104/12 B -
LG Hannover, Entscheidung vom 05.10.2012 - 8 T 30/12 -
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(1) Hat sich die angefochtene Entscheidung in der Hauptsache erledigt, spricht das Beschwerdegericht auf Antrag aus, dass die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszugs den Beschwerdeführer in seinen Rechten verletzt hat, wenn der Beschwerdeführer ein berechtigtes Interesse an der Feststellung hat.
(2) Ein berechtigtes Interesse liegt in der Regel vor, wenn
(3) Hat der Verfahrensbeistand oder der Verfahrenspfleger die Beschwerde eingelegt, gelten die Absätze 1 und 2 entsprechend.
(1) Die Freiheitsentziehung darf das Gericht nur auf Antrag der zuständigen Verwaltungsbehörde anordnen.
(2) Der Antrag ist zu begründen. Die Begründung hat folgende Tatsachen zu enthalten:
- 1.
die Identität des Betroffenen, - 2.
den gewöhnlichen Aufenthaltsort des Betroffenen, - 3.
die Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung, - 4.
die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung sowie - 5.
in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft die Verlassenspflicht des Betroffenen sowie die Voraussetzungen und die Durchführbarkeit der Abschiebung, Zurückschiebung und Zurückweisung.
(3) Tatsachen nach Absatz 2 Satz 2 können bis zum Ende der letzten Tatsacheninstanz ergänzt werden.
(1) Das Gericht kann die Kosten des Verfahrens nach billigem Ermessen den Beteiligten ganz oder zum Teil auferlegen. Es kann auch anordnen, dass von der Erhebung der Kosten abzusehen ist. In Familiensachen ist stets über die Kosten zu entscheiden.
(2) Das Gericht soll die Kosten des Verfahrens ganz oder teilweise einem Beteiligten auferlegen, wenn
- 1.
der Beteiligte durch grobes Verschulden Anlass für das Verfahren gegeben hat; - 2.
der Antrag des Beteiligten von vornherein keine Aussicht auf Erfolg hatte und der Beteiligte dies erkennen musste; - 3.
der Beteiligte zu einer wesentlichen Tatsache schuldhaft unwahre Angaben gemacht hat; - 4.
der Beteiligte durch schuldhaftes Verletzen seiner Mitwirkungspflichten das Verfahren erheblich verzögert hat; - 5.
der Beteiligte einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einem kostenfreien Informationsgespräch über Mediation oder über eine sonstige Möglichkeit der außergerichtlichen Konfliktbeilegung nach § 156 Absatz 1 Satz 3 oder einer richterlichen Anordnung zur Teilnahme an einer Beratung nach § 156 Absatz 1 Satz 4 nicht nachgekommen ist, sofern der Beteiligte dies nicht genügend entschuldigt hat.
(3) Einem minderjährigen Beteiligten können Kosten in Kindschaftssachen, die seine Person betreffen, nicht auferlegt werden.
(4) Einem Dritten können Kosten des Verfahrens nur auferlegt werden, soweit die Tätigkeit des Gerichts durch ihn veranlasst wurde und ihn ein grobes Verschulden trifft.
(5) Bundesrechtliche Vorschriften, die die Kostenpflicht abweichend regeln, bleiben unberührt.
(1) Wird das Verfahren durch Vergleich erledigt und haben die Beteiligten keine Bestimmung über die Kosten getroffen, fallen die Gerichtskosten jedem Teil zu gleichen Teilen zur Last. Die außergerichtlichen Kosten trägt jeder Beteiligte selbst.
(2) Ist das Verfahren auf sonstige Weise erledigt oder wird der Antrag zurückgenommen, gilt § 81 entsprechend.
Wird ein Antrag der Verwaltungsbehörde auf Freiheitsentziehung abgelehnt oder zurückgenommen und hat das Verfahren ergeben, dass ein begründeter Anlass zur Stellung des Antrags nicht vorlag, hat das Gericht die Auslagen des Betroffenen, soweit sie zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendig waren, der Körperschaft aufzuerlegen, der die Verwaltungsbehörde angehört.