Bundesgerichtshof Beschluss, 04. Aug. 2011 - 3 StR 99/11

04.08.2011

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
3 StR 99/11
vom
4. August 2011
in der Strafsache
gegen
wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a.
Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Beschwerdeführers
und des Generalbundesanwalts - zu 3. auf dessen Antrag - am
4. August 2011 gemäß §§ 44, 349 Abs. 2 und 4 StPO - zu 2. und 3. einstimmig
- beschlossen:
1. Dem Angeklagten wird nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 14. Juli 2010 auf seinen Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben
a) im Fall II. 2. der Urteilsgründe,
b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe:

1
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen sowie wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt, im Übrigen hat es ihn freigesprochen. Die gegen die Verurteilung gerichtete und auf Verfahrensrügen sowie sachlichrechtliche Beanstandungen gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg.
2
1. Die Verurteilung im Fall II. 2. der Urteilsgründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Insoweit hat die Revision mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
3
In der Anklage war dem Beschwerdeführer insoweit vorgeworfen worden , er sei im Sommer 2007 mit der Nebenklägerin, seiner Tochter C. , sowie deren Halbschwester J. in das Haus eines Bekannten gefahren. Dort habe er sich abends zu der im Bett liegenden Nebenklägerin begeben und sie an der Scheide gestreichelt sowie an dieser geleckt; als er seine andere Tochter herankommen hörte, habe er sofort aufgehört (Vergehen nach § 176 Abs. 1 StGB).
4
Nach den Feststellungen stellte sich der Angeklagte im Sommer 2007 im Haus des Bekannten abends vor das Bett, zog die Decke weg und C. s Schlafanzughose herunter, leckte an ihrer Scheide, ließ sodann seine eigene Hose herunter und veranlasste C. , seinen Penis in den Mund zu nehmen , so lange, bis er J. die Treppe heraufkommen hörte (Verbrechen nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB).
5
Von dem vom Anklagevorwurf abweichenden Geschehen hat sich das Landgericht überzeugt, nachdem die Nebenklägerin diese Handlung des Angeklagten , von der sie schon von Anfang an berichtet hatte, sowohl bei der Sachverständigen als auch in der Hauptverhandlung mit dem Aufenthalt in dem Haus des Bekannten verbunden hatte.
6
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers konnte das Landgericht den Sachverhalt ohne eine Nachtragsanklage aburteilen. Es handelt sich wegen der Individualisierung durch Tatort, Tatzeit und die das Geschehen begleitenden Umstände um die nämliche Tat, die auch Gegenstand der Anklage war.
7
Zutreffend rügt die Revision hingegen, dass das Landgericht den Angeklagten nicht ausreichend auf straferhöhende Umstände (§ 265 Abs. 2 StPO) hingewiesen hat. Die Strafkammer hat insoweit folgenden Hinweis erteilt: "Es ergeht noch der Hinweis, dass im Fall Ziffer 2. der Anklage auch der schwere sexuelle Missbrauch gem. § 176a Abs. II Nr. 1 StGB in Betracht kommt. Der Oralverkehr der Nebenklägerin beim Autofahren, Ziffer 4 + 5 der Anklage, evtl. Vorfälle des Oralverkehrs sind nicht Gegenstand der Anklage."
8
Die hiergegen vom Beschwerdeführer erhobene - entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts zulässige - verfahrensrechtliche Beanstandung hat Erfolg. Der erteilte Hinweis ermöglichte es dem Angeklagten nicht, seine Verteidigung hinreichend auf den verschärften Tatvorwurf einzustellen; denn er stellte nicht dar, aufgrund welcher Tatsachen das Landgericht den Qualifikationstatbestand des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB als möglicherweise verwirklicht ansah (siehe dazu Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 265 Rn. 31 mwN).
9
Auf diesem Verfahrensfehler beruht der Schuldspruch im Fall II. 2. der Urteilsgründe. Denn selbst wenn sich durch die vorangegangene Beweisaufnahme und den sonstigen Verlauf der Hauptverhandlung für den Angeklagten und seinen Verteidiger hinreichende Anhaltspunkte dafür ergeben haben sollten , dass im Fall 2. der Anklage auch die Verurteilung wegen des Vollzugs eines Oralverkehrs in Betracht kommen könnte, musste sich ihnen nach dem Inhalt des Hinweises gerade der gegenteilige Eindruck aufdrängen. Da das Landgericht hinsichtlich der Fälle 4 und 5 der Anklage (rechtsfehlerhaft) eine Verurteilung des Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern als unzulässig darstellte, weil der insoweit jeweils festgestellte Oralverkehr nicht "Gegenstand der Anklage" gewesen sei, mussten der Angeklagte und sein Verteidiger nicht damit rechnen, dass das Landgericht im Gegensatz hierzu im Fall 2 der Anklage den in der Anklageschrift ebenfalls nicht erwähnten , erst in der Hauptverhandlung zutage getretenen Oralverkehr zur Grundlage einer Verurteilung nah § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB machen werde. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sie sich im Falle eines korrekt erteilten Hinweises anders und erfolgreicher gegen den verschärften Tatvorwurf hätten verteidigen können.
10
2. Mit der Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. 2. der Urteilsgründe entfällt die entsprechende Einzel- und damit die Einsatzstrafe. Dies zieht die Aufhebung der Gesamtfreiheitsstrafe nach sich. Die anderen Einzelstrafen können bestehen bleiben. Der Senat schließt aus, dass deren jeweilige Höhe von der Einsatzstrafe beeinflusst war.
11
3. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Becker Pfister RiBGH von Lienen befindet sich im Urlaub und ist daher gehindert zu unterschreiben. Becker Schäfer Menges

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Referenzen - Gesetze

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Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 265 Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage


(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gel

Strafgesetzbuch - StGB | § 176 Sexueller Missbrauch von Kindern


(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer d

Strafprozeßordnung - StPO | § 44 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Fristversäumung


War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist als unverschuldet anzusehen, wenn die Belehrung nach den § 35a Satz 1

Strafgesetzbuch - StGB | § 176a Sexueller Missbrauch von Kindern ohne Körperkontakt mit dem Kind


(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer 1. sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,2. ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen

Referenzen

War jemand ohne Verschulden verhindert, eine Frist einzuhalten, so ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist als unverschuldet anzusehen, wenn die Belehrung nach den § 35a Satz 1 und 2, § 319 Abs. 2 Satz 3 oder nach § 346 Abs. 2 Satz 3 unterblieben ist.

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen an einer Person unter vierzehn Jahren (Kind) vornimmt oder an sich von dem Kind vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen an einer dritten Person vornimmt oder von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
3.
ein Kind für eine Tat nach Nummer 1 oder Nummer 2 anbietet oder nachzuweisen verspricht.

(2) In den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 kann das Gericht von Strafe nach dieser Vorschrift absehen, wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.

(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder
3.
auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.

(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.

(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.

(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.

(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn

1.
sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßnahme oder die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen,
2.
das Gericht von einer in der Verhandlung mitgeteilten vorläufigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage abweichen will oder
3.
der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist.

(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den in Absatz 2 Nummer 1 bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.

(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.

(1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer

1.
sexuelle Handlungen vor einem Kind vornimmt oder vor einem Kind von einer dritten Person an sich vornehmen lässt,
2.
ein Kind dazu bestimmt, dass es sexuelle Handlungen vornimmt, soweit die Tat nicht nach § 176 Absatz 1 Nummer 1 oder Nummer 2 mit Strafe bedroht ist, oder
3.
auf ein Kind durch einen pornographischen Inhalt (§ 11 Absatz 3) oder durch entsprechende Reden einwirkt.

(2) Ebenso wird bestraft, wer ein Kind für eine Tat nach Absatz 1 anbietet oder nachzuweisen verspricht oder wer sich mit einem anderen zu einer solchen Tat verabredet.

(3) Der Versuch ist in den Fällen des Absatzes 1 Nummer 1 und 2 strafbar. Bei Taten nach Absatz 1 Nummer 3 ist der Versuch in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, sein Einwirken beziehe sich auf ein Kind.