Bundesgerichtshof Beschluss, 30. März 2004 - 1 StR 1/04

bei uns veröffentlicht am30.03.2004

Gericht

Bundesgerichtshof


Der Bundesgerichtshof (BGH) ist das höchste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland.  Der BGH besteht aus 16 Senaten, die jeweils von einem Vorsitzenden und mehreren anderen Richtern geleitet werden. Die Zusammensetzung der Senate

Richter

BUNDESGERICHTSHOF

BESCHLUSS
1 StR 1/04
vom
30. März 2004
in der Strafsache
gegen
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 30. März 2004 beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Coburg vom 17. September 2003 wird als unzulässig verworfen. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe:


Der Angeklagte wurde unter Einbeziehung früherer Geldstrafen wegen Betäubungsmitteldelikten zu fünf Jahren und sechs Monaten Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Nach Urteilsverkündung hat er nach mehrfacher Belehrung auf Rechtsmittel verzichtet. Mit der danach (innerhalb Wochenfrist; der hierauf bezogene Wiedereinsetzungsantrag geht ins Leere) eingelegten Revision wird geltend gemacht, der Rechtsmittelverzicht sei sowohl deshalb unwirksam, weil der Angeklagte der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sei, als auch deshalb, weil er Teil einer verfahrensbeendenden Absprache gewesen und der Angeklagte unter Druck gesetzt worden sei. Die Revision ist unzulässig (§ 349 Abs. 1 StPO), weil ein wirksamer Rechtsmittelverzicht vorliegt. 1. Allerdings können je nach den Umständen des Falles fehlende Sprachkenntnisse eines Angeklagten die Wirksamkeit eines von ihm abgege-
benen Rechtsmittelverzichts in Frage stellen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. Februar 1999 - 1 StR 45/99 und 25. Mai 1993 - 1 StR 124/93; Wickern in Löwe/Rosenberg StPO 25. Aufl. § 185 GVG Rdn. 25). Hierfür bestehen hier jedoch keine Anhaltspunkte.
a) Der 1966 geborene Angeklagte lebt seit 1979 ununterbrochen in Deutschland, hat in mehreren Firmen gearbeitet und war seit 1992 mit Unterbrechungen etwa zehn Jahre lang selbständiger Gastronom. Der Vorsitzende der Strafkammer hat in einer dienstlichen Erklärung (zu deren Bedeutung in diesem Zusammenhang BGH NStZ 2002, 275, 276) dargelegt, daß ihm bei der Vorbereitung der Hauptverhandlung die Polizei auf Anfrage mitgeteilt habe, im Ermittlungsverfahren seien "keinerlei Sprachprobleme aufgetaucht". So sei es auch in der Hauptverhandlung gewesen, an der sich der Angeklagte intensiv durch Erklärungen, Fragen und Vorhalte beteiligt habe. Allerdings habe ein Verteidiger angeregt, der Bruder des Angeklagten solle neben ihm Platz nehmen , um bei etwaigen Sprachproblemen helfen zu können. Auf Nachfrage habe der Angeklagte jedoch (ebenso wie die Verteidigung) erklärt, bisher habe es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben. Der genannten Anregung sei nicht Folge gegeben, der Angeklagte aber aufgefordert worden, sofort darauf hinzuweisen, sobald er irgend etwas nicht verstehe. Dies habe er in der gesamten weiteren Hauptverhandlung nicht getan und sich an ihr im übrigen so intensiv wie zuvor beteiligt. Bestätigt wird all dies durch die Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft, die noch ergänzend darauf hinweist, daß auch der Haftrichter einen Dolmetscher nicht für erforderlich gehalten hatte.
b) Ob der Angeklagte genügend Kenntnisse der deutschen Sprache hat, entscheidet der Tatrichter nach pflichtgemäßem Ermessen. Wird gerügt, daß kein Dolmetscher zugezogen wurde, prüft das Revisionsgericht, ob die Gren-
zen des Ermessens eingehalten wurden (vgl. BGH bei Pfeiffer NStZ 1981, 295; G. Schäfer, Praxis des Strafverfahrens 6. Aufl. Rdn. 1782 m.w.N.). Dies gilt auch, wenn es um die Wirksamkeit eines vom Tatrichter zu Protokoll genommenen mündlichen Rechtsmittelverzichts geht. Anhaltspunkte für eine ermessensfehlerhafte Beurteilung der Sprachkenntnisse des Angeklagten sind auch unter Berücksichtigung des Revisionsvorbringens nicht erkennbar. Den von der Revision genannten Erfahrungssatz, bei türkischen Angeklagten sei in Verfahren mit nicht unerheblicher Straferwartung stets ein Dolmetscher erforderlich, gibt es nicht. 2. Auch im übrigen bestehen keine Bedenken gegen die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts.
a) Soweit in diesem Zusammenhang von Interesse, ergibt das Hauptverhandlungsprotokoll zum Ablauf des Verfahrens folgendes: Am zweiten Verhandlungstag wurde der Verhandlungsbeginn zunächst um eine Stunde verschoben, um der "Verteidigung Gelegenheit" zu geben, "die Frage einer Vereinbarung mit dem Angeklagten zu besprechen". Vorausgegangen war - dies ergibt sich nicht aus dem Protokoll, sondern der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden - eine Mitteilung des Verteidigers Rechtsanwalt B. (neben ihm verteidigte noch Rechtsanwalt R. aus N. ) an den Vorsitzenden, die Staatsanwältin fordere eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren "als Grundlage einer Verständigung". Rechtsanwalt B. erklärte, er kenne "die Linie der Kammer" nicht, da er "selten am Landgericht Coburg auftrete" und stellte die "konkrete Frage, wenn der Angeklagte geständig sei, welche Strafe er üblicherweise bei Nachweis des Schuldvorwurfs zu erwarten habe". Zugleich erklärte er, er strebe die Einstellung eines weiteren gegen den
Angeklagten geführten Ermittlungsverfahrens gemäß § 154 StPO an. Der Vorsitzende erklärte, im Falle eines Schuldnachweises sei bei einem Geständnis mit einer Strafe "so um die fünf Jahre und sechs Monate" zu rechnen. Über das weiter gegen den Angeklagten anhängige Verfahren wisse er nichts. Bei Verhandlungsbeginn erklärte der Vorsitzende, das Gericht sei über "Gespräche" zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung informiert worden. Die Staatsanwältin erklärte, bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten werde sie das andere Ermittlungsverfahren gemäß § 154 StPO einstellen und bei einem noch zu vollstreckenden Strafrest von zwei Jahren eine Zurückstellung gemäß §§ 35, 36 BtMG vornehmen. Die Verteidigung erklärte, "unter diesen Bedingungen ein Urteil unter Rechtsmittelverzicht zu akzeptieren", das Gericht solle jedoch "überdenken , ob auch eine Gesamtfreiheitsstrafe von nur fünf Jahren in Betracht kommt". Nach umfangreichem weiterem Verfahrensgeschehen - z.B. wurden noch drei Zeugen und ein Sachverständiger gehört, das Gericht gab einen in 15 Punkte gegliederten Hinweis gemäß § 265 StPO, der Angeklagte gab eine Begründung zu einer Beschwerde gegen eine Disziplinarmaßnahme zu Protokoll - beantragte die Staatsanwältin eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren , die Verteidigung schloß sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft zum Schuldspruch ausdrücklich an, Rechtsanwalt B. stellte keinen Antrag zum Strafmaß, Rechtsanwalt R. beantragte eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren. Nach der Urteilsverkündung wurde Rechtsmittelbelehrung erteilt. Beide Verteidiger erklärten: "Wir werden auf Rechtsmittel verzichten und das Urteil annehmen". Daraufhin belehrte der Vorsitzende den Angeklagten, daß er "ungeachtet eines Rechtsmittelverzichts seiner beiden Verteidiger ... sich diesbezüglich frei entscheiden könne". Auf Wunsch des Angeklagten und seiner Verteidiger konnten sie dann in einem gesonderten Raum einen Rechtsmittel-
verzicht des Angeklagten "in Ruhe miteinander besprechen". Als sie nach fast einer halben Stunde in den Sitzungssaal zurückkamen, erklärte Rechtsanwalt B. , er fühle sich "an die Vereinbarung gebunden". Beide Verteidiger erklärten sodann Rechtsmittelverzicht. Auf die Frage des Vorsitzenden an den Angeklagten , "ob er eine Erklärung abgeben wolle", überlegte dieser nochmals und erklärte dann ("nach Zögern") ebenfalls Rechtsmittelverzicht. Zuletzt verzichtete auch die Staatsanwältin auf Rechtsmittel.
b) Es ist schon fraglich, ob die letztlich ohne Einbeziehung des Gerichts erzielte Übereinkunft von Staatsanwaltschaft und Verteidigung, bei einer bestimmten Strafhöhe auf Rechtsmittel zu verzichten, überhaupt eine "verfahrensbeendende Absprache" ist oder dadurch wird, daß das Gericht von der Absicht entsprechender Gespräche und später von deren Ergebnis unterrichtet wird. Die Auffassung der Revision, der dargelegte Protokollinhalt sei für eine Absprache mit dem Gericht ein unumstößlicher Beweis, vermag dies nicht zu verdeutlichen. Gegen die Annahme einer solchen Absprache könnte immerhin sprechen, daß die Staatsanwältin eine höhere und Rechtsanwalt R. eine niedrigere Strafe als fünf Jahre und sechs Monate beantragt hat. Auch der Umstand , daß etwa die Behandlung des dem Gericht unbekannten Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 154 StPO als "Bedingung" bezeichnet wurde, spricht eher gegen eine Vereinbarung mit dem Gericht.
c) Daß aus der Sicht der Staatsanwaltschaft die Rechtskraft des Urteils Voraussetzung für die von Rechtsanwalt B. für zentral erachtete Verfahrenseinstellung gemäß § 154 StPO war, und daß er sich an die entsprechende Vereinbarung mit der Staatsanwaltschaft "gebunden fühlte", mag nahe liegen. Die Annahme, daß er - oder gar Rechtsanwalt R. im Hinblick auf eine Vereinbarung zwischen der Staatsanwaltschaft und Rechtsanwalt B. - ge-
glaubt habe, rechtlich an der Einlegung einer Revision gehindert zu sein und - sei es deshalb, sei es auch aus einem anderen Grund - den Angeklagten an- ders als pflichtgemäß beraten und so eine "Willensbeeinträchtigung" herbeigeführt hätte, liegt nicht nahe und wird von der Revision auch nicht konkretisiert.
d) Der Senat braucht hier jedoch weder den genannten Gesichtspunkten noch der Frage einer Unwirksamkeit eines im Rahmen einer verfahrensbeendenden Absprache vereinbarten Rechtsmittelverzichts in irgend einer Richtung nachzugehen. Der Angeklagte wurde - mehrfach - über die Möglichkeit eines Rechtsmittels belehrt und er wurde sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, daß ein Rechtsmittelverzicht der Verteidiger ihn selbst nicht binden würde. Jedenfalls deshalb ist für die Annahme eines im Hinblick auf vorangegangenes Verfahrensgeschehen rechtserheblichen Willensmangels des Angeklagten bei der Abgabe des Rechtsmittelverzichts kein Raum.
e) Schließlich sind auch von alledem unabhängige sonstige Gründe, die gegen die Wirksamkeit des Rechtsmittelverzichts sprechen könnten, nicht ersichtlich. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang lediglich, daß für die Behauptung , das Gericht habe (ebenso wie die Verteidiger) den Angeklagten in diesem Zusammenhang "massiv unter Druck gesetzt", noch dazu "in Kenntnis seiner mangelnden Sprachkenntnisse" (vgl. demgegenüber oben 1), jeder Anhaltspunkt fehlt. Nack Wahl Schluckebier Kolz Elf

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Bundesgerichtshof Beschluss, 30. März 2004 - 1 StR 1/04 zitiert 7 §§.

Strafprozeßordnung - StPO | § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss


(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen. (2) Das Revisionsgeric

Strafprozeßordnung - StPO | § 154 Teileinstellung bei mehreren Taten


(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen, 1. wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Bes

Strafprozeßordnung - StPO | § 265 Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage


(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gel

Betäubungsmittelgesetz - BtMG 1981 | § 35 Zurückstellung der Strafvollstreckung


(1) Ist jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden und ergibt sich aus den Urteilsgründen oder steht sonst fest, daß er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so k

Betäubungsmittelgesetz - BtMG 1981 | § 36 Anrechnung und Strafaussetzung zur Bewährung


(1) Ist die Vollstreckung zurückgestellt worden und hat sich der Verurteilte in einer staatlich anerkannten Einrichtung behandeln lassen, so wird die vom Verurteilten nachgewiesene Zeit seines Aufenthaltes in dieser Einrichtung auf die Strafe angerec

Referenzen

(1) Erachtet das Revisionsgericht die Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die über die Anbringung der Revisionsanträge nicht für beobachtet, so kann es das Rechtsmittel durch Beschluß als unzulässig verwerfen.

(2) Das Revisionsgericht kann auf einen Antrag der Staatsanwaltschaft, der zu begründen ist, auch dann durch Beschluß entscheiden, wenn es die Revision einstimmig für offensichtlich unbegründet erachtet.

(3) Die Staatsanwaltschaft teilt den Antrag nach Absatz 2 mit den Gründen dem Beschwerdeführer mit. Der Beschwerdeführer kann binnen zwei Wochen eine schriftliche Gegenerklärung beim Revisionsgericht einreichen.

(4) Erachtet das Revisionsgericht die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig für begründet, so kann es das angefochtene Urteil durch Beschluß aufheben.

(5) Wendet das Revisionsgericht Absatz 1, 2 oder 4 nicht an, so entscheidet es über das Rechtsmittel durch Urteil.

(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,

1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder
2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.

(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.

(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.

(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.

(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.

(1) Ist jemand wegen einer Straftat zu einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren verurteilt worden und ergibt sich aus den Urteilsgründen oder steht sonst fest, daß er die Tat auf Grund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat, so kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des Gerichts des ersten Rechtszuges die Vollstreckung der Strafe, eines Strafrestes oder der Maßregel der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt für längstens zwei Jahre zurückstellen, wenn der Verurteilte sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen, und deren Beginn gewährleistet ist. Als Behandlung gilt auch der Aufenthalt in einer staatlich anerkannten Einrichtung, die dazu dient, die Abhängigkeit zu beheben oder einer erneuten Abhängigkeit entgegenzuwirken.

(2) Gegen die Verweigerung der Zustimmung durch das Gericht des ersten Rechtszuges steht der Vollstreckungsbehörde die Beschwerde nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Buches der Strafprozeßordnung zu. Der Verurteilte kann die Verweigerung dieser Zustimmung nur zusammen mit der Ablehnung der Zurückstellung durch die Vollstreckungsbehörde nach den §§ 23 bis 30 des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz anfechten. Das Oberlandesgericht entscheidet in diesem Falle auch über die Verweigerung der Zustimmung; es kann die Zustimmung selbst erteilen.

(3) Absatz 1 gilt entsprechend, wenn

1.
auf eine Gesamtfreiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren erkannt worden ist oder
2.
auf eine Freiheitsstrafe oder Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren erkannt worden ist und ein zu vollstreckender Rest der Freiheitsstrafe oder der Gesamtfreiheitsstrafe zwei Jahre nicht übersteigt
und im übrigen die Voraussetzungen des Absatzes 1 für den ihrer Bedeutung nach überwiegenden Teil der abgeurteilten Straftaten erfüllt sind.

(4) Der Verurteilte ist verpflichtet, zu Zeitpunkten, die die Vollstreckungsbehörde festsetzt, den Nachweis über die Aufnahme und über die Fortführung der Behandlung zu erbringen; die behandelnden Personen oder Einrichtungen teilen der Vollstreckungsbehörde einen Abbruch der Behandlung mit.

(5) Die Vollstreckungsbehörde widerruft die Zurückstellung der Vollstreckung, wenn die Behandlung nicht begonnen oder nicht fortgeführt wird und nicht zu erwarten ist, daß der Verurteilte eine Behandlung derselben Art alsbald beginnt oder wieder aufnimmt, oder wenn der Verurteilte den nach Absatz 4 geforderten Nachweis nicht erbringt. Von dem Widerruf kann abgesehen werden, wenn der Verurteilte nachträglich nachweist, daß er sich in Behandlung befindet. Ein Widerruf nach Satz 1 steht einer erneuten Zurückstellung der Vollstreckung nicht entgegen.

(6) Die Zurückstellung der Vollstreckung wird auch widerrufen, wenn

1.
bei nachträglicher Bildung einer Gesamtstrafe nicht auch deren Vollstreckung nach Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 3 zurückgestellt wird oder
2.
eine weitere gegen den Verurteilten erkannte Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßregel der Besserung und Sicherung zu vollstrecken ist.

(7) Hat die Vollstreckungsbehörde die Zurückstellung widerrufen, so ist sie befugt, zur Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt einen Haftbefehl zu erlassen. Gegen den Widerruf kann die Entscheidung des Gerichts des ersten Rechtszuges herbeigeführt werden. Der Fortgang der Vollstreckung wird durch die Anrufung des Gerichts nicht gehemmt. § 462 der Strafprozeßordnung gilt entsprechend.

(1) Ist die Vollstreckung zurückgestellt worden und hat sich der Verurteilte in einer staatlich anerkannten Einrichtung behandeln lassen, so wird die vom Verurteilten nachgewiesene Zeit seines Aufenthaltes in dieser Einrichtung auf die Strafe angerechnet, bis infolge der Anrechnung zwei Drittel der Strafe erledigt sind. Die Entscheidung über die Anrechnungsfähigkeit trifft das Gericht zugleich mit der Zustimmung nach § 35 Abs. 1. Sind durch die Anrechnung zwei Drittel der Strafe erledigt oder ist eine Behandlung in der Einrichtung zu einem früheren Zeitpunkt nicht mehr erforderlich, so setzt das Gericht die Vollstreckung des Restes der Strafe zur Bewährung aus, sobald dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.

(2) Ist die Vollstreckung zurückgestellt worden und hat sich der Verurteilte einer anderen als der in Absatz 1 bezeichneten Behandlung seiner Abhängigkeit unterzogen, so setzt das Gericht die Vollstreckung der Freiheitsstrafe oder des Strafrestes zur Bewährung aus, sobald dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann.

(3) Hat sich der Verurteilte nach der Tat einer Behandlung seiner Abhängigkeit unterzogen, so kann das Gericht, wenn die Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 1 nicht vorliegen, anordnen, daß die Zeit der Behandlung ganz oder zum Teil auf die Strafe angerechnet wird, wenn dies unter Berücksichtigung der Anforderungen, welche die Behandlung an den Verurteilten gestellt hat, angezeigt ist.

(4) Die §§ 56a bis 56g und 57 Abs. 5 Satz 2 des Strafgesetzbuches gelten entsprechend.

(5) Die Entscheidungen nach den Absätzen 1 bis 3 trifft das Gericht des ersten Rechtszuges ohne mündliche Verhandlung durch Beschluß. Die Vollstreckungsbehörde, der Verurteilte und die behandelnden Personen oder Einrichtungen sind zu hören. Gegen die Entscheidungen ist sofortige Beschwerde möglich. Für die Entscheidungen nach Absatz 1 Satz 3 und nach Absatz 2 gilt § 454 Abs. 4 der Strafprozeßordnung entsprechend; die Belehrung über die Aussetzung des Strafrestes erteilt das Gericht.

(1) Der Angeklagte darf nicht auf Grund eines anderen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten Strafgesetzes verurteilt werden, ohne daß er zuvor auf die Veränderung des rechtlichen Gesichtspunktes besonders hingewiesen und ihm Gelegenheit zur Verteidigung gegeben worden ist.

(2) Ebenso ist zu verfahren, wenn

1.
sich erst in der Verhandlung vom Strafgesetz besonders vorgesehene Umstände ergeben, welche die Strafbarkeit erhöhen oder die Anordnung einer Maßnahme oder die Verhängung einer Nebenstrafe oder Nebenfolge rechtfertigen,
2.
das Gericht von einer in der Verhandlung mitgeteilten vorläufigen Bewertung der Sach- oder Rechtslage abweichen will oder
3.
der Hinweis auf eine veränderte Sachlage zur genügenden Verteidigung des Angeklagten erforderlich ist.

(3) Bestreitet der Angeklagte unter der Behauptung, auf die Verteidigung nicht genügend vorbereitet zu sein, neu hervorgetretene Umstände, welche die Anwendung eines schwereren Strafgesetzes gegen den Angeklagten zulassen als des in der gerichtlich zugelassenen Anklage angeführten oder die zu den in Absatz 2 Nummer 1 bezeichneten gehören, so ist auf seinen Antrag die Hauptverhandlung auszusetzen.

(4) Auch sonst hat das Gericht auf Antrag oder von Amts wegen die Hauptverhandlung auszusetzen, falls dies infolge der veränderten Sachlage zur genügenden Vorbereitung der Anklage oder der Verteidigung angemessen erscheint.

(1) Die Staatsanwaltschaft kann von der Verfolgung einer Tat absehen,

1.
wenn die Strafe oder die Maßregel der Besserung und Sicherung, zu der die Verfolgung führen kann, neben einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten wegen einer anderen Tat rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, nicht beträchtlich ins Gewicht fällt oder
2.
darüber hinaus, wenn ein Urteil wegen dieser Tat in angemessener Frist nicht zu erwarten ist und wenn eine Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen den Beschuldigten rechtskräftig verhängt worden ist oder die er wegen einer anderen Tat zu erwarten hat, zur Einwirkung auf den Täter und zur Verteidigung der Rechtsordnung ausreichend erscheint.

(2) Ist die öffentliche Klage bereits erhoben, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren in jeder Lage vorläufig einstellen.

(3) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat bereits rechtskräftig erkannten Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, wieder aufgenommen werden, wenn die rechtskräftig erkannte Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung nachträglich wegfällt.

(4) Ist das Verfahren mit Rücksicht auf eine wegen einer anderen Tat zu erwartende Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung vorläufig eingestellt worden, so kann es, falls nicht inzwischen Verjährung eingetreten ist, binnen drei Monaten nach Rechtskraft des wegen der anderen Tat ergehenden Urteils wieder aufgenommen werden.

(5) Hat das Gericht das Verfahren vorläufig eingestellt, so bedarf es zur Wiederaufnahme eines Gerichtsbeschlusses.