Amtsgericht Kehl Beschluss, 23. Okt. 2015 - 3 Cs 206 Js 1716/15

bei uns veröffentlicht am23.10.2015

Tenor

1. Der Erlass des beantragten Strafbefehls wird abgelehnt.

2. Die Kosten des Verfahrens sowie die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten trägt die Staatskasse.

Gründe

 
I.
Mit dem Antrag auf Erlass eines Strafbefehls wirft die Staatsanwaltschaft dem Angeschuldigten vor, er habe am 09.01.2015 gegen 13:45 Uhr in alkoholisiertem Zustand im Restaurant R in Kehl, L. Straße …, die Geschädigte G mutwillig und ohne rechtfertigenden Grund mit der Hand ins Gesicht geschlagen, als diese ihn aufgefordert habe, die Gaststätte zu verlassen. Nachdem der Angeschuldigte die Gaststätte verlassen habe, sei er auf die Postangestellte P getroffen, die er aufgrund neugefassten Willensentschlusses und wiederum mutwillig und ohne rechtfertigenden Grund mit der Faust ins Gesicht geschlagen und gegen den Oberarm getreten habe. Dies sei strafbar als vorsätzliche Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen gemäß den §§ 223, 230, 53 StGB.
II.
Der Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gegen den Angeschuldigten ist aus Rechtsgründen abzulehnen. Der Erlass des beantragten Strafbefehls ist bereits aus formellen Gründen unzulässig, weil er dem Angeschuldigten nicht zugestellt werden kann (vgl. Beschluss des Landgerichts Offenburg vom 17.10.2014, Az. 8 Qs 5/14). Der Angeschuldigte ist ohne festen Wohnsitz; sein Aufenthalt ist nicht bekannt. Die vom Angeschuldigten aufgrund einer richterlichen Anordnung nach § 132 StPO erteilte Zustellungsvollmacht ist unwirksam.
1.
Die richterliche Anordnung zur Erteilung einer Zustellungsvollmacht nach § 132 StPO war rechtswidrig ergangen, weil der Angeschuldigte zuvor nicht gemäß § 33 StPO angehört wurde (zur grundsätzlichen Erforderlichkeit der Anhörung siehe Beschluss des Amtsgerichts Kehl vom 03.03.2015, Aktenzeichen 3 Cs 206 Js 13333/14, veröffentlicht bei juris.de; Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 58. Aufl. 2015, § 132, Rn. 12; Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2007, § 132, Rn. 11).
a.
Die Anhörung des Angeschuldigten vor der richterlichen Entscheidung über die Anordnung der Erteilung der Zustellungsvollmacht hätte nach Aktenlage ohne Weiteres, gegebenenfalls telefonisch, durchgeführt werden können.
(1.)
Der Angeschuldigte wurde gegen 14:00 Uhr von der Polizei festgenommen. Um 15:15 Uhr bestätigte der Bereitschaftsrichter des Amtsgerichts Offenburg den Polizeigewahrsam bis vorerst 20:00 Uhr. Anschließend blieb der Angeschuldigte freiwillig noch bis 22:30 Uhr im Polizeigewahrsam. Die Zustellungsvollmacht wurde vom Angeschuldigten gegen 22.20 Uhr erteilt.
(2.)
Es liegen keine durchgreifenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Angeschuldigte aufgrund körperlicher oder geistiger Einschränkungen in dieser Zeit nicht anhörungsfähig gewesen wäre. Zwar wies der Angeschuldigte um 14:28 Uhr eine Atemalkoholkonzentration von 1,10 mg/l Atemluft auf. Bis auf einen schwankenden Gang sind aber keine Ausfallerscheinungen von der Polizei festgestellt worden. Zudem war der Angeschuldigte offenbar gewahrsamsfähig.
b.
Von der Anhörung konnte nicht nach § 33 Abs. 4 StPO abgesehen werden. Es ist nicht ersichtlich, wie die vorherige Anhörung des Angeschuldigten den Zweck der Anordnung hätte gefährden können.
2.
Die rechtswidrig unterbliebene Anhörung muss im Ergebnis zur Unwirksamkeit der Zustellungsvollmacht führen, was bei der Prüfung der Zustellungsmöglichkeiten durch das Gericht von Amts wegen zu berücksichtigen ist.
Es ist nicht zu fordern, dass der Angeschuldigte zunächst erfolgreich Beschwerde gegen die richterliche Anordnung einlegt, bevor die Zustellungsvollmacht als unwirksam angesehen werden kann. Denn regelmäßig wird der Angeschuldigte von der Anordnung erst dann Kenntnis erlangen, wenn bereits strafprozessuale Entscheidungen gegen ihn ergangen sind, deren Wirksamkeit von der förmlichen Zustellung an den Zustellungsbevollmächtigten abhängen. Nicht selten wird der Angeschuldigte sogar erstmals vom gerichtlichen Erfahren, wenn freiheitsentziehende Zwangsmaßnahmen vollzogen werden, beispielsweise - wie hier - im Strafbefehlsverfahren die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe nach § 459e StPO oder die Festnahme aufgrund eines Haftbefehls nach § 230 Abs. 2 StPO wegen unentschuldigtem Fernbleiben bei der Hauptverhandlung. Dies kann nicht hingenommen werden.
III.
10 
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO.

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Referenzen - Gesetze

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Strafprozeßordnung - StPO | § 467 Kosten und notwendige Auslagen bei Freispruch, Nichteröffnung und Einstellung


(1) Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zu

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Strafprozeßordnung - StPO | § 33 Gewährung rechtlichen Gehörs vor einer Entscheidung


(1) Eine Entscheidung des Gerichts, die im Laufe einer Hauptverhandlung ergeht, wird nach Anhörung der Beteiligten erlassen. (2) Eine Entscheidung des Gerichts, die außerhalb einer Hauptverhandlung ergeht, wird nach schriftlicher oder mündlicher Erk

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(1) Die vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 und die fahrlässige Körperverletzung nach § 229 werden nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Eins

Strafprozeßordnung - StPO | § 230 Ausbleiben des Angeklagten


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Strafprozeßordnung - StPO | § 132 Sicherheitsleistung, Zustellungsbevollmächtigter


(1) Hat der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt, liegen aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, so kann, um die Durchführung des Strafverfah

Strafprozeßordnung - StPO | § 459e Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe


(1) Die Ersatzfreiheitsstrafe wird auf Anordnung der Vollstreckungsbehörde vollstreckt. (2) Die Anordnung setzt voraus, daß die Geldstrafe nicht eingebracht werden kann oder die Vollstreckung nach § 459c Abs. 2 unterbleibt. (3) Wegen eines Te

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(1) Wer eine andere Person körperlich mißhandelt oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Der Versuch ist strafbar.

(1) Die vorsätzliche Körperverletzung nach § 223 und die fahrlässige Körperverletzung nach § 229 werden nur auf Antrag verfolgt, es sei denn, daß die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung ein Einschreiten von Amts wegen für geboten hält. Stirbt die verletzte Person, so geht bei vorsätzlicher Körperverletzung das Antragsrecht nach § 77 Abs. 2 auf die Angehörigen über.

(2) Ist die Tat gegen einen Amtsträger, einen für den öffentlichen Dienst besonders Verpflichteten oder einen Soldaten der Bundeswehr während der Ausübung seines Dienstes oder in Beziehung auf seinen Dienst begangen, so wird sie auch auf Antrag des Dienstvorgesetzten verfolgt. Dasselbe gilt für Träger von Ämtern der Kirchen und anderen Religionsgesellschaften des öffentlichen Rechts.

(1) Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.

(2) Trifft Freiheitsstrafe mit Geldstrafe zusammen, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt. Jedoch kann das Gericht auf Geldstrafe auch gesondert erkennen; soll in diesen Fällen wegen mehrerer Straftaten Geldstrafe verhängt werden, so wird insoweit auf eine Gesamtgeldstrafe erkannt.

(3) § 52 Abs. 3 und 4 gilt sinngemäß.

(1) Hat der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt, liegen aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vor, so kann, um die Durchführung des Strafverfahrens sicherzustellen, angeordnet werden, daß der Beschuldigte

1.
eine angemessene Sicherheit für die zu erwartende Geldstrafe und die Kosten des Verfahrens leistet und
2.
eine im Bezirk des zuständigen Gerichts wohnende Person zum Empfang von Zustellungen bevollmächtigt.
§ 116a Abs. 1 gilt entsprechend.

(2) Die Anordnung dürfen nur der Richter, bei Gefahr im Verzuge auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) treffen.

(3) Befolgt der Beschuldigte die Anordnung nicht, so können Beförderungsmittel und andere Sachen, die der Beschuldigte mit sich führt und die ihm gehören, beschlagnahmt werden. Die §§ 94 und 98 gelten entsprechend.

(1) Eine Entscheidung des Gerichts, die im Laufe einer Hauptverhandlung ergeht, wird nach Anhörung der Beteiligten erlassen.

(2) Eine Entscheidung des Gerichts, die außerhalb einer Hauptverhandlung ergeht, wird nach schriftlicher oder mündlicher Erklärung der Staatsanwaltschaft erlassen.

(3) Bei einer in Absatz 2 bezeichneten Entscheidung ist ein anderer Beteiligter zu hören, bevor zu seinem Nachteil Tatsachen oder Beweisergebnisse, zu denen er noch nicht gehört worden ist, verwertet werden.

(4) Bei Anordnung der Untersuchungshaft, der Beschlagnahme oder anderer Maßnahmen ist Absatz 3 nicht anzuwenden, wenn die vorherige Anhörung den Zweck der Anordnung gefährden würde. Vorschriften, welche die Anhörung der Beteiligten besonders regeln, werden durch Absatz 3 nicht berührt.

(1) Die Ersatzfreiheitsstrafe wird auf Anordnung der Vollstreckungsbehörde vollstreckt.

(2) Die Anordnung setzt voraus, daß die Geldstrafe nicht eingebracht werden kann oder die Vollstreckung nach § 459c Abs. 2 unterbleibt.

(3) Wegen eines Teilbetrages, der keinem vollen Tag Freiheitsstrafe entspricht, darf die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nicht angeordnet werden.

(4) Die Ersatzfreiheitsstrafe wird nicht vollstreckt, soweit die Geldstrafe entrichtet oder beigetrieben wird oder die Vollstreckung nach § 459d unterbleibt. Absatz 3 gilt entsprechend.

(1) Gegen einen ausgebliebenen Angeklagten findet eine Hauptverhandlung nicht statt.

(2) Ist das Ausbleiben des Angeklagten nicht genügend entschuldigt, so ist die Vorführung anzuordnen oder ein Haftbefehl zu erlassen, soweit dies zur Durchführung der Hauptverhandlung geboten ist.

(1) Soweit der Angeschuldigte freigesprochen, die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen ihn abgelehnt oder das Verfahren gegen ihn eingestellt wird, fallen die Auslagen der Staatskasse und die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse zur Last.

(2) Die Kosten des Verfahrens, die der Angeschuldigte durch eine schuldhafte Säumnis verursacht hat, werden ihm auferlegt. Die ihm insoweit entstandenen Auslagen werden der Staatskasse nicht auferlegt.

(3) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn der Angeschuldigte die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er in einer Selbstanzeige vorgetäuscht hat, die ihm zur Last gelegte Tat begangen zu haben. Das Gericht kann davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn er

1.
die Erhebung der öffentlichen Klage dadurch veranlaßt hat, daß er sich selbst in wesentlichen Punkten wahrheitswidrig oder im Widerspruch zu seinen späteren Erklärungen belastet oder wesentliche entlastende Umstände verschwiegen hat, obwohl er sich zur Beschuldigung geäußert hat, oder
2.
wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht.

(4) Stellt das Gericht das Verfahren nach einer Vorschrift ein, die dies nach seinem Ermessen zuläßt, so kann es davon absehen, die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten der Staatskasse aufzuerlegen.

(5) Die notwendigen Auslagen des Angeschuldigten werden der Staatskasse nicht auferlegt, wenn das Verfahren nach vorangegangener vorläufiger Einstellung (§ 153a) endgültig eingestellt wird.