Versicherungsrecht: Kündigung des Versicherungsverhältnisses & Widerrufsrechte

bei uns veröffentlicht am16.12.2013

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Autoren

Rechtsanwalt

für Familien- und Erbrecht

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Zusammenfassung des Autors
Das Erlöschen des Rechts auf Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag trotz Belehrungsmangel ist gemeinschaftsrechtswidrig.
Das ist das Ergebnis eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Die Richter entschieden, dass eine nationale Regelung, nach der ein Recht auf Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie unabhängig davon erlischt, ob der Versicherungsnehmer über dieses Recht ordnungsgemäß und rechtzeitig belehrt worden ist, gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.

Begründung: Anderenfalls hätte der Versicherer keinen Anreiz zur Beachtung der Mitteilungspflicht mehr. Zudem würde dem potenziellen Versicherungsnehmer eines Lebensversicherungsvertrags auch der Schutz entzogen. Schließlich käme ein unerwünschtes Ergebnis hinzu: Habe der Versicherungsnehmer (durch Zahlung der fälligen Prämie) seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt, sei bei einer solchen Regelung die Rücktrittsfrist abgelaufen, obwohl der Versicherer seine gesetzliche Verpflichtung zur Belehrung des Versicherungsnehmers nicht erfüllt habe (EuGH, C-209/12).


Die Entscheidung im Einzelnen lautet:

EuGH Schlussanträge vom 11.07.2013 (Az: C-209/12)

Gemäß dem Unionsrecht muss dem Versicherungsnehmer eines Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem er vom Vertragsschluss in Kenntnis gesetzt wird, eine Frist zur Verfügung stehen, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten (im Folgenden: Rücktrittsfrist)(2), und vor dem Vertragsschluss müssen ihm die Modalitäten der Ausübung dieses Rücktrittsrechts mitgeteilt werden. Wie ist die Rechtslage, wenn er nicht entsprechend belehrt wird? Kann er vom Vertrag zurücktreten? Falls ja, steht das Unionsrecht einer nationalen Maßnahme entgegen, wonach das Rücktrittsrecht ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie und unabhängig davon erlischt, ob dem Versicherungsnehmer die obligatorischen Angaben zum Rücktrittsrecht zur Verfügung gestellt worden sind?

Dies ist die Problematik, um die es bei der Beantwortung der Vorlagefrage der vorliegenden Rechtssache in erster Linie geht.

Unionsrecht

Zweite Richtlinie Lebensversicherung


Durch die Richtlinie 90/619/EWG des Rates(3) (im Folgenden: Zweite Richtlinie Lebensversicherung) wurde die Richtlinie 79/267/EWG(4) (im Folgenden: Erste Richtlinie Lebensversicherung) geändert und ergänzt, die für die „Lebensversicherung“ galt und in der dieser Begriff definiert war als „die Versicherung auf den Erlebensfall, die Versicherung auf den Todesfall, die gemischte Versicherung, die Lebensversicherung mit Prämienrückgewähr sowie die Heirats- und Geburtenversicherung“(5).

Die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung bezweckten in erster Linie die Verwirklichung eines Binnenmarkts im Bereich der Lebensversicherung, einschließlich des freien Dienstleistungsverkehrs in diesem Sektor(6).

Nach Art. 4 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung war das anwendbare Recht grundsätzlich das Recht des Mitgliedstaats der Verpflichtung, jedoch konnten die Parteien, sofern dies nach dem Recht dieses Mitgliedstaats zulässig war, das Recht eines anderen Staats wählen. In Art. 2 Buchst. e der genannten Richtlinie war „Mitgliedstaat der Verpflichtung“ definiert als „der Mitgliedstaat, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder, wenn der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, der Mitgliedstaat, in dem sich die Niederlassung dieser juristischen Person befindet, auf die sich der Vertrag bezieht“.

Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung in der durch Art. 30 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung geänderten Fassung hatte folgenden Wortlaut:

„(1) Jeder Mitgliedstaat schreibt vor, dass der Versicherungsnehmer eines individuellen Lebensversicherungsvertrags von dem Zeitpunkt an, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, über eine Frist verfügt, die zwischen 14 und 30 Tagen betragen kann, um von dem Vertrag zurückzutreten.

Die Mitteilung des Versicherungsnehmers, dass er vom Vertrag zurücktritt, befreit ihn für die Zukunft von allen aus diesem Vertrag resultierenden Verpflichtungen.

Die übrigen rechtlichen Wirkungen des Rücktritts und die dafür erforderlichen Voraussetzungen werden gemäß dem auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 4 anwendbaren Recht geregelt, insbesondere was die Modalitäten betrifft, nach denen der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist.

(2) Bei Verträgen mit einer Laufzeit von höchstens sechs Monaten oder wenn der Versicherungsnehmer aufgrund seines Status oder wegen der Umstände, unter denen der Vertrag geschlossen wird, dieses besonderen Schutzes nicht bedarf, können die Mitgliedstaaten von der Anwendung von Absatz 1 absehen. Die Mitgliedstaaten legen in ihren Rechtsvorschriften die Fälle fest, in denen Absatz 1 nicht zur Anwendung gelangt.“

Dritte Richtlinie Lebensversicherung

Der 23. Erwägungsgrund der Dritten Richtlinie Lebensversicherung lautete:

„Im Rahmen eines einheitlichen Versicherungsmarkts wird dem Verbraucher eine größere und weiter gefächerte Auswahl von Verträgen zur Verfügung stehen. Um diese Vielfalt und den verstärkten Wettbewerb voll zu nutzen, muss er im Besitz der notwendigen Informationen sein, um den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen. Da die Dauer der Verpflichtungen sehr lang sein kann, ist diese Information für den Verbraucher noch wichtiger. Folglich sind die Mindestvorschriften zu koordinieren, damit er klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte und über die Stellen erhält, an die etwaige Beschwerden der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten des Vertrages zu richten sind.“

In Art. 31 war die Verpflichtung geregelt, dem Versicherungsnehmer vor Abschluss des Vertrags bestimmte Angaben mitzuteilen:

„(1) Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang II Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.

(2) Der Versicherungsnehmer muss während der gesamten Vertragsdauer über alle Änderungen der in Anhang II Buchstabe B aufgeführten Angaben auf dem Laufenden gehalten werden.

(3) Der Mitgliedstaat der Verpflichtung kann von den Versicherungsunternehmen nur dann die Vorlage von Angaben zusätzlich zu den in Anhang II genannten Auskünften verlangen, wenn diese für das tatsächliche Verständnis der wesentlichen Bestandteile der Versicherungspolice durch den Versicherungsnehmer notwendig sind.

(4) Die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang II werden von dem Mitgliedstaat der Verpflichtung erlassen.“

In Anhang II war eine Aufzählung der Informationen aufgeführt, die „[d]em Versicherungsnehmer … entweder (A) vor Abschluss des Vertrages oder (B) während der Laufzeit des Vertrages mitzuteilen“ waren. Die Informationen waren „eindeutig und detailliert schriftlich in einer Amtssprache des Mitgliedstaats der Verpflichtung abzufassen“. Buchst. A enthielt eine Tabelle: In der linken Spalte waren die Informationen über das Versicherungsunternehmen und in der rechten Spalte die Informationen über die Versicherungspolicen selbst genannt. In dieser rechten Spalte war als Nr. a.13 in der französischen Sprachfassung „Modalités d’exercice du droit de renonciation“ und in der englischen Sprachfassung „Arrangements for application of the cooling-off period“ aufgelistet, d. h. Modalitäten der Anwendung der Frist, innerhalb deren das Rücktrittsrecht ausgeübt werden konnte(7). Die deutsche Sprachfassung „Modalitäten der Ausübung des Widerrufs[-] und Rücktritt[s]rechts“ schien auf andere Aspekte des Rücktrittsrechts abzustellen.

Nationales Recht

§ 5a des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: § 5a VVG a. F.) sah vor:

„(1) Hat der Versicherer dem Versicherungsnehmer bei Antragstellung die Versicherungsbedingungen nicht übergeben oder eine Verbraucherinformation nach § 10a des Versicherungsaufsichtsgesetzes[(8)] unterlassen, so gilt der Vertrag auf der Grundlage des Versicherungsscheins, der Versicherungsbedingungen und der weiteren für den Vertragsinhalt maßgeblichen Verbraucherinformation als abgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer nicht innerhalb von vierzehn Tagen nach Überlassung der Unterlagen schriftlich widerspricht. …

(2) Der Lauf der Frist beginnt erst, wenn dem Versicherungsnehmer der Versicherungsschein und die Unterlagen nach Absatz 1 vollständig vorliegen und der Versicherungsnehmer bei Aushändigung des Versicherungsscheins schriftlich, in drucktechnisch deutlicher Form über das Widerspruchsrecht, den Fristbeginn und die Dauer belehrt worden ist. Der Nachweis über den Zugang der Unterlagen obliegt dem Versicherer. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerspruchs. Abweichend von Satz 1 erlischt das Recht zum Widerspruch jedoch ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie.“

§ 5a VVG a. F. wurde zwar mit Wirkung vom 31. Dezember 2007 geändert, die Vorschrift findet aber offenbar weiterhin auf eine beträchtliche Anzahl von Lebensversicherungsverträgen Anwendung, die vor diesem Zeitpunkt geschlossen wurden.

Die in § 5a VVG a. F. verwendeten Begriffe „widerspricht“, „Widerspruchsrecht“ und „Widerspruch“ weichen von den Begriffen in der deutschen Sprachfassung von Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung (dort heißt es „zurückzutreten“, „zurücktritt“ und „Rücktritts“) und in der Wendung „Ausübung des Widerrufs[-] und Rücktritt[s]rechts“ in Anhang II der Dritten Richtlinie Lebensversicherung ab.

Für die Zwecke der vorliegenden Schlussanträge werde ich mich jedoch nicht auf etwaige Bedeutungsnuancen der Begriffe „widerspricht“, „Widerspruchsrecht“ und „Widerspruch“ im deutschen Recht konzentrieren, sondern die im Verfahren gegebenen Erläuterungen zur Funktionsweise von § 5a VVG a. F. zugrunde legen(9).

Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefrage

Herr Endress beantragte bei der Allianz Lebensversicherungs-AG (im Folgenden: Allianz) den Abschluss eines Lebensversicherungsvertrags mit Vertragsbeginn zum 1. Dezember 1998.

Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation erhielt er erst mit dem Versicherungsschein. Nach den für den Bundesgerichtshof (im Folgenden: vorlegendes Gericht) bindenden Feststellungen des Berufungsgerichts belehrte die Allianz auch im Zuge der Annahme des Angebots von Herrn Endress diesen nicht über seine durch § 5a VVG a. F. garantierten Rechte(10).

Infolgedessen wurde nach Angaben des vorlegenden Gerichts die in § 5a VVG a. F. festgelegte 14-tägige Frist nicht in Lauf gesetzt.

Gemäß dem Vertrag war für einen Zeitraum von fünf Jahren jährlich eine Versicherungsprämie zu entrichten. Nach den auf den Vertrag anwendbaren Allgemeinen Versicherungsbedingungen war der Rückkaufwert bei Kündigung auf die Höhe des garantierten Werts im Todesfall begrenzt.

Von Dezember 1998 bis Dezember 2002 zahlte Herr Endress Versicherungsbeiträge. Im Jahr 2004 entrichtete er offenbar eine weitere Prämie.

Am 1. Juni 2007 kündigte Herr Endress den Vertrag zum 1. September 2007. Im September 2007 kehrte die Versicherungsgesellschaft einen Rückkaufwert aus, der weniger als die Summe der eingezahlten Versicherungsprämien zuzüglich Zinsen betrug.

Mit Schreiben vom 31. März 2008 (also nach mehr als einem Jahr seit Zahlung der ersten Prämie) übte Herr Endress seine Rechte aus § 5a VVG a. F. aus. Er machte geltend, der Vertrag sei nicht wirksam geschlossen, und verlangte vom Versicherer Rückzahlung aller Prämien zuzüglich Zinsen (nach Verrechnung des Rückkaufwerts). Es ist unklar, wie und zu welchem Zeitpunkt er von seinem Recht aus § 5a VVG a. F. und den Modalitäten der Ausübung dieses Rechts Kenntnis erlangt hat oder in Kenntnis gesetzt worden ist.

Das erstinstanzliche Gericht wies die von Herrn Endress gegen den Versicherer erhobene Klage auf Zahlung eines weiteren Betrags ab. Das Berufungsgericht wies die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung zurück.

Daraufhin legte Herr Endress Revision beim Bundesgerichtshof ein, nach dessen Ansicht die Entscheidung über die Revision von der Beantwortung der Frage abhängt, ob die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung der Regel entgegenstanden, wonach das Recht des Versicherungsnehmers gemäß § 5a Abs. 2 VVG a. F. ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie erlosch (im Folgenden: Ein-Jahr-Regel). Angesichts dieses Sachverhalts hat der Bundesgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und die folgende Frage vorgelegt:

Ist Art. 15 Abs. 1 Satz 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung unter Berücksichtigung des Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen, dass er einer Regelung – wie § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a. F. – entgegensteht, nach der ein Rücktritts- oder Widerspruchsrecht spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie erlischt, selbst wenn der Versicherungsnehmer nicht über das Recht zum Rücktritt oder Widerspruch belehrt worden ist?

Herr Endress, die Allianz, die deutsche Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und in der Sitzung vom 24. Januar 2013 mündlich verhandelt.

Würdigung

Vorbemerkungen


Dem Vorlagebeschluss zufolge macht Herr Endress vor den deutschen Gerichten geltend, dass die Ein-Jahr-Regel gegen die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung verstoße.

Ich werde daher prüfen, ob die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung einer Bestimmung wie § 5a VVG a. F., in der die Ein-Jahr-Regel normiert war, entgegenstanden und, falls diese Frage zu verneinen sein sollte, welche Rechtsfolgen sich aus diesem Ergebnis für die vorliegende Rechtssache ergeben.

§ 5a VVG a. F. ist zwar außer Kraft getreten(11), die Vorschrift gilt jedoch immer noch für eine beträchtliche Anzahl von Lebensversicherungsverträgen. Das Urteil des Gerichtshofs in der vorliegenden Rechtssache dürfte daher auch andere Versicherungsnehmer als Herrn Endress berühren(12). Es könnte auch für Versicherungsnehmer von Belang sein, die Lebensversicherungsverträge geschlossen haben, für die andere Bestimmungen als § 5a VVG a. F. maßgeblich sind, bei denen jedoch für das Rücktrittsrecht dieselbe (oder eine ähnliche) Ein-Jahr-Regel gilt.

In den in der vorliegenden Rechtssache gemachten Ausführungen werden das deutsche Lebensversicherungsrecht und insbesondere die Besonderheiten des Zustandekommens und des Widerspruchs gegen das Zustandekommen von Lebensversicherungsverträgen der in § 5a VVG a. F. beschriebenen Art nur bruchstückhaft skizziert.

Nach Angaben des vorlegenden Gerichts regelte diese Vorschrift den Vertragsschluss nach dem sogenannten Policenmodell. Danach stellte der Lebensversicherungsantrag des Versicherungsnehmers ein Angebot zum Abschluss eines Vertrags dar, und die Annahme dieses Angebots durch den Versicherer erfolgte dadurch, dass dieser dem Antragsteller die Versicherungspolice, die Allgemeinen Versicherungsbedingungen und die Verbraucherinformation übersandte. Offenbar wurde der Vertrag aber erst nach Ablauf einer Frist von 14 Tagen nach Überlassen dieser Unterlagen geschlossen, sofern der Antragsteller nicht innerhalb dieser Frist seinen Willen erklärte, an den Vertrag nicht gebunden zu sein. Während dieser Frist war der Vertrag nach deutschem Recht schwebend unwirksam. Blieb der Antragsteller während der Frist untätig, galt der Vertrag als zu dem Zeitpunkt geschlossen, zu dem dem Antragsteller die Versicherungspolice, die Allgemeinen Bedingungen und die Verbraucherinformation zugingen. Stellte der Versicherer dem künftigen Versicherungsnehmer diese Unterlagen nicht ordnungsgemäß zur Verfügung, wurde die 14-tägige Frist nicht in Lauf gesetzt. Nach Ablauf eines Jahres seit Zahlung der ersten Prämie konnte der Antragsteller seinen Willen, nicht an den Vertrag gebunden zu sein, jedoch nicht mehr erklären.

Die Frage des vorlegenden Gerichts betrifft insbesondere § 5a Abs. 2 Satz 4 VVG a. F., wonach der Antragsteller seinen Willen, nicht an den Vertrag gebunden zu sein, nach Ablauf eines Jahres seit Zahlung der ersten Prämie nicht mehr erklären konnte, selbst wenn – wie das vorlegende Gericht hervorhebt – der Versicherer die maßgeblichen Informationen (einschließlich Angaben zum Recht des Antragstellers zur Erklärung seines Willens, nicht an den Vertrag gebunden zu sein) nicht mitgeteilt hatte und somit die 14-tägige Frist nicht in Lauf gesetzt worden war.

Das vorlegende Gericht untersucht die Ein-Jahr-Regel unter dem Gesichtspunkt der Bestimmungen der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung, die das Rücktrittsrecht nach Mitteilung des Vertragsschlusses bzw. die Verpflichtung zur Mitteilung bestimmter Angaben an den Antragsteller (d. h. den künftigen Versicherungsnehmer) vor Abschluss des Vertrags betrafen.

Ich bin mir nicht sicher, ob die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften als Regelung des Rücktrittsrechts im Sinne von Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung oder eines anderen Rechts zu verstehen sind, das dem Antragsteller, der den Abschluss des Lebensversicherungsvertrags verhindern will, zusteht und in der Richtlinienbestimmung nicht normiert ist.

Nach dem Wortlaut von § 5a VVG a. F. ist Gegenstand der Bestimmung ein „Widerspruchsrecht“, während in der deutschen Sprachfassung von Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung der Fall geregelt ist, dass der Versicherungsnehmer vom Vertrag „zurücktritt“, und nach der deutschen Sprachfassung von Anhang II der Dritten Richtlinie Lebensversicherung die vor Abschluss des Vertrags mitzuteilenden Informationen die „Ausübung des Widerrufs[-] und Rücktritt[s]rechts“ umfassen. Demgegenüber ersucht das vorlegende Gericht in seiner Frage den Gerichtshof um Prüfung des „Rücktritts- oder Widerspruchsrechts“, womit offenbar sowohl das in der Zweiten und in der Dritten Richtlinie Lebensversicherung aufgeführte Recht (oder ein Teil dieses Rechts) als auch das in § 5a VVG a. F. geregelte Recht gemeint ist.

Um dem vorlegenden Gericht sachdienliche Hinweise zu geben und gleichzeitig zu vermeiden, zum Inhalt des deutschen Rechts abschließend Stellung zu nehmen, werde ich die folgenden beiden Fragen getrennt behandeln: i) Standen die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung einer Regelung entgegen, wonach das Rücktrittsrecht nach mehr als einem Jahr seit Zahlung der ersten Prämie unabhängig davon nicht mehr ausgeübt werden konnte, ob der Versicherungsnehmer über das Rücktrittsrecht belehrt worden ist? ii) Standen die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung ungeachtet des Rücktrittsrechts im Sinne von Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung dem Zustandekommen von Lebensversicherungsverträgen nach Maßgabe einer Vorschrift wie § 5a VVG a. F. entgegen? Der ersten Frage liegt die Prämisse zugrunde, dass die nationale Rechtsvorschrift das Rücktrittsrecht im Sinne der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung betraf, während die zweite Frage davon ausgeht, dass dies nicht der Fall war.

Falls § 5a VVG a. F. das Rücktrittsrecht betraf, standen dann die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung der Ein-Jahr-Regel entgegen?

Nach Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung begann die Rücktrittsfrist mit der Mitteilung an den Versicherungsnehmer, dass der Vertrag geschlossen ist. Dieser Anfangszeitpunkt beruht auf den folgenden beiden Voraussetzungen: Erstens ist ein Rücktritt nur von einem Vertrag möglich, der auch geschlossen worden ist, und zweitens kann ein Versicherungsnehmer das Rücktrittsrecht nur dann ausüben, wenn er ordnungsgemäß und rechtzeitig darüber belehrt worden ist. Deshalb schrieb Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung vor, dass die maßgeblichen Angaben im Sinne von Anhang II dieser Richtlinie dem Antragsteller vor Abschluss des Vertrags mitzuteilen waren.

In Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung sind jedoch nicht die Rechtsfolgen genannt, die sich ergeben, wenn diese Informationen, zu denen auch die Modalitäten der Ausübung des Widerrufs- und Rücktrittsrechts gehören, nicht ordnungsgemäß vor Abschluss des Vertrags mitgeteilt wurden.

Ebenso wenig definierte Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung diese Rechtsfolgen und regelte auch nicht, ob sich die Rechtsfolgen nach dem Recht des zuständigen Mitgliedstaats bestimmten. In Art. 31 Abs. 4 hieß es lediglich, dass die Durchführungsvorschriften zu diesem Artikel und zu Anhang II dem Recht des Mitgliedstaats der Verpflichtung unterliegen.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, ob die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung einem Mitgliedstaat den Erlass einer Regelung verwehrten, wonach in Fällen, in denen dem Versicherungsnehmer die maßgeblichen Informationen – darunter eine Belehrung über das Rücktrittsrecht – nicht (ordnungsgemäß) mitgeteilt wurden, das Rücktrittsrecht nur innerhalb eines Jahres nach Zahlung der ersten Prämie ausgeübt werden konnte.

Meines Erachtens ist es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, erschöpfend die Rechtsfolgen einer Unterlassung der Mitteilung der vorgeschriebenen Informationen darzulegen. Vielmehr ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Dritte Richtlinie Lebensversicherung (insbesondere Art. 31) unionsrechtskonform und insbesondere im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der Effektivität umzusetzen.

Meiner Meinung nach dürfen es die Mitgliedstaaten nicht einfach dabei belassen, eine Mitteilungsunterlassung mit keinerlei Rechtsfolgen zu verbinden. Nicht nur bestünde dann für den Versicherer kein Anreiz zur Beachtung der Mitteilungspflicht mehr, sondern dem potenziellen Versicherungsnehmer eines Lebensversicherungsvertrags würde auch der Schutz entzogen. Andererseits begründeten die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung meines Erachtens auch keine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Unwirksamkeit des Vertrags immer dann vorzusehen, wenn die Verpflichtung zur Mitteilung von Informationen vor Abschluss des Vertrags missachtet wurde. Diese Sanktion mag nicht in allen Fällen einen angemessenen und wirksamen Rechtsbehelf dargestellt haben.

So ist z. B. denkbar, dass der Versicherer die in Anhang II Buchst. A der Dritten Richtlinie Lebensversicherung aufgeführten Informationen überhaupt nicht oder zu einem großen Teil nicht mitteilte. In diesem Fall ist das Zustandekommen eines Vertrags nur schwer vorstellbar, da der einen Partei sämtliche oder ein erheblicher Teil der wesentlichen Informationen über den Vertrag fehlten.

Möglich ist aber auch, dass nur die Informationen über das Rücktrittsrecht und die Modalitäten der Ausübung dieses Rechts nicht mitgeteilt wurden und dass der künftige Versicherungsnehmer in anderer Hinsicht ordnungsgemäß informiert wurde. In einem solchen Fall wäre dem Versicherungsnehmer lediglich der allgemeine Schutz, den ihm das Rücktrittsrecht verleiht, unbekannt geblieben. Es erscheint unwahrscheinlich, dass eine Person, die einen Lebensversicherungsvertrag abschließen wollte, dadurch vom Abschluss des Vertrags abgehalten worden wäre, dass ihr der durch das Rücktrittsrecht gewährte allgemeine Schutz bekannt gewesen wäre. Ein Mitgliedstaat konnte daher zu dem Ergebnis gelangen, dass in solchen Fällen der angemessene Rechtsbehelf darin besteht, dem Versicherungsnehmer ab dem Zeitpunkt, zu dem er über sein Rücktrittsrecht ordnungsgemäß belehrt wurde, eine bestimmte Frist für die Ausübung dieses Rechts einzuräumen. Alternativ hätte der Mitgliedstaat dem Versicherungsnehmer auch weiter gehenden Schutz gewähren oder dem Wunsch des Versicherungsnehmers, den Vertrag für unwirksam zu erklären, Rechnung tragen können(13).

Ich erinnere an die Feststellung des Gerichtshofs im Urteil Heininger in Bezug auf das Widerrufsrecht nach der Richtlinie über Haustürgeschäfte(14), dass „der Verbraucher das Widerrufsrecht nicht ausüben kann, wenn es ihm nicht bekannt ist“(15). In jener Rechtssache ging es um eine deutsche Rechtsvorschrift, der zufolge ein Verbraucher, der die vorgeschriebenen Informationen nicht erhalten hatte, das Widerrufsrecht bis zur beiderseits vollständigen Erbringung der Leistung ausüben konnte, jedoch nicht später als ein Jahr nach Abgabe der auf den Abschluss des Vertrags gerichteten Willenserklärung. Der Gerichtshof hat im Weiteren entschieden, dass eine Befristung des Widerrufsrechts aus Gründen der Rechtssicherheit nicht gerechtfertigt sei, soweit diese Gründe eine Einschränkung der Rechte implizierten, die dem Verbraucher ausdrücklich verliehen worden seien, um ihn vor den Gefahren zu schützen, die sich daraus ergäben, dass Kreditinstitute bewusst Verträge außerhalb ihrer Geschäftsräume abschlössen(16).

Zwischen der Richtlinie über Haustürgeschäfte und der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung bestehen erhebliche Unterschiede. Dennoch verstehe ich die vom Gerichtshof im Urteil Heininger vertretene Auffassung dahin, dass Verbraucherrechte nicht um der Rechtssicherheit eines Verkäufers willen geschwächt werden dürfen, der dem Verbraucher nicht ordnungsgemäß und rechtzeitig Informationen mitgeteilt hat, die dem Verbraucher die Ausübung seines Widerrufsrechts innerhalb der vom Unionsgesetzgeber festgelegten Frist ermöglicht hätten(17).

Meines Erachtens gilt dies auch für die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung.

Ebenso wie der Verbraucher bei einem Haustürgeschäft ist der Versicherungsnehmer im Vertragsverhältnis mit dem Versicherer die schwächere Partei. Er ist über die Konsequenzen des Vertrags zu belehren, damit er fundierte Entscheidungen sowohl hinsichtlich des Versicherers als auch des Vertrags treffen kann, ehe er durch den Vertrag rechtlich gebunden wird. Entsprechend der Regelung in der Richtlinie über Haustürgeschäfte erlegten die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung dem Versicherer die Pflicht zur Mitteilung der erforderlichen Informationen auf(18). Der Versicherer darf sich nicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen, um eine Situation zu bereinigen, die er durch seine Nichtbeachtung der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Mitteilung der in einer Liste festgelegten Informationen selbst herbeigeführt hat(19).

Ich füge hinzu, dass die Zahlung der ersten Prämie als Anhaltspunkt für den Willen des Versicherungsnehmers gewertet werden mag, an den Vertrag gebunden zu sein, allerdings nur auf der Grundlage der Informationen über den Vertrag, die ihm vor oder zu diesem Zeitpunkt mitgeteilt worden waren. Aufgrund des Unterlassens seitens des Versicherers verfügte er jedoch nicht über sämtliche Informationen, die das Unionsrecht als für den Abschluss des Vertrags maßgeblich erachtet.

Ein Versicherungsnehmer, der vom Versicherer nicht über sein Rücktrittsrecht belehrt wurde, konnte davon vielleicht auf anderem Weg Kenntnis erlangen, was aber nichts daran ändert, dass der Versicherer der durch die Dritte Richtlinie Lebensversicherung und die Umsetzungsvorschriften des nationalen Rechts auferlegten Pflicht nicht nachgekommen ist. Dem Versicherer kann nicht gestattet werden, unter Berufung auf diese Unterlassung (vorausgesetzt er könnte nachweisen, zu welchem Zeitpunkt der Versicherungsnehmer Kenntnis vom Rücktrittsrecht erhielt) den Ablauf der Rücktrittsfrist geltend zu machen. Nur wenn der Versicherer nachzuweisen vermag, dass er alle erforderlichen Informationen mitgeteilt hat, herrscht hinreichend Rechtssicherheit, so dass die Rücktrittsfrist in Lauf gesetzt werden und ablaufen kann.

Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der Versicherungsnehmer nicht bereits vor einer Belehrung durch den Versicherer vom Vertrag zurücktreten kann, wenn er auf einem anderen Weg von seinem Rücktrittsrecht Kenntnis hat oder erhält. Andernfalls käme es wiederum dazu, dass der Versicherer aus seiner eigenen Unterlassung der Mitteilung Vorteil ziehen könnte, um dem Versicherungsnehmer sein Recht vorzuenthalten.

Deshalb gelange ich zu dem Ergebnis, dass Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung und Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der das Rücktrittsrecht nach mehr als einem Jahr seit Zahlung der ersten Prämie unabhängig davon nicht mehr ausgeübt werden kann, ob der Versicherer den Versicherungsnehmer ordnungsgemäß und rechtzeitig über dieses Recht belehrt hat. Obwohl der Versicherer seine gesetzliche Verpflichtung zur Belehrung des Versicherungsnehmers nicht erfüllt hat, ist bei einer solchen Regelung die Rücktrittsfrist abgelaufen, weil der Versicherungsnehmer (durch Zahlung der fälligen Prämie) seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllt hat. Dieses Ergebnis wäre abwegig.

Diese Ausführungen mögen dem vorlegenden Gericht im vorliegenden Fall bereits weiterhelfen. Dennoch werde ich kurz auch die Frage prüfen, ob Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung es einem Mitgliedstaat verwehrt, eine längere Rücktrittsfrist als die Frist von 14 bis 30 Tagen nach Mitteilung des Vertragsschlusses vorzusehen.

Meiner Ansicht nach ging aus Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung hervor, dass die Rücktrittsfrist nicht kürzer als 14 Tage – ab dem Zeitpunkt der Mitteilung des Vertragsschlusses – sein durfte. Die Frist konnte zwischen 14 und 30 Tagen betragen. In Art. 15 Abs. 1 waren daher eine Mindest- und eine Höchstdauer der Rücktrittsfrist festgesetzt, die die Mitgliedstaaten in ihren Rechtsvorschriften vorsehen konnten. Die Mindestdauer diente offenkundig dazu, dem Versicherungsnehmer ein Mindestmaß an Schutz zu bieten. Die Höchstdauer sollte logischerweise wohl Rechtssicherheit sowohl für den Versicherungsnehmer als auch für den Versicherer garantieren.

Wie verhält es sich, wenn der Lebensversicherungsvertrag nicht entsprechend den Erfordernissen der Zweiten und Dritten Richtlinie Lebensversicherung geschlossen wurde? Wie verhält es sich insbesondere, wenn die in Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung bezeichneten Angaben erst später mitgeteilt wurden?

In einem solchen Fall muss der Versicherungsnehmer aus den vorstehend dargelegten Gründen die Möglichkeit haben, vom Vertrag innerhalb einer Frist zurückzutreten, deren Lauf mit der Mitteilung der betreffenden Informationen beginnt.

Musste dem Versicherungsnehmer dann eine Rücktrittsfrist zur Verfügung gestellt werden, die die in Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung festgelegte Höchstdauer überschritt?

Dieser Meinung bin ich nicht.

In Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung war zwar der Zeitpunkt angegeben, zu dem in solchen Fällen der Lauf der Rücktrittsfrist beginnt(20), meines Erachtens kann das nationale Recht jedoch nicht vorsehen, dass dem Versicherungsnehmer ein Rücktrittsrecht auch noch nach Ablauf einer Frist zusteht, die die in der genannten Vorschrift ausdrücklich festgelegte Höchstdauer überschreitet.

Falls § 5a VVG a. F. nicht das Rücktrittsrecht betraf, standen dann die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung dem Zustandekommen eines Lebensversicherungsvertrags nach Maßgabe von § 5a VVG a. F. entgegen?

Für den Fall, dass das vorlegende Gericht zu der Auffassung gelangt, dass das in § 5a VVG a. F. vorgesehene Recht ein gegenüber dem in Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung geregelten Rücktrittsrecht eigenständiges Recht darstellte, ist zu prüfen, ob die Zweite und die Dritte Richtlinie Lebensversicherung einem Mitgliedstaat die Zulassung eines Modells wie des Policenmodells für das Zustandekommen eines Lebensversicherungsvertrags verwehrten. Sollte diese Frage zu verneinen sein, ist die Vorlagefrage nämlich hypothetisch.

Beide Richtlinien(21) fanden auf das Zustandekommen eines Lebensversicherungsvertrags und auf den Rücktritt von einem solchen Vertrag Anwendung. Ihre einschlägigen Vorschriften erfassten fünf verschiedene Abschnitte: i) Zustandekommen des Vertrags, ii) Abschluss des Vertrags, iii) Mitteilung über den Abschluss des Vertrags an den Versicherungsnehmer, iv) Beginn der Rücktrittsfrist nach dieser Mitteilung und v) möglicher Rücktritt vom Vertrag innerhalb dieser Frist.

Für Abschnitt i war in Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung die Verpflichtung verankert, dem künftigen Versicherungsnehmer die in Anhang II Buchst. A der Richtlinie aufgeführten Angaben vor Abschluss des Vertrags mitzuteilen. Insbesondere meine ich, dass der Versicherungsnehmer vor der Wahl eines bestimmten Versicherers und eines bestimmten Vertrags entsprechend informiert werden musste, um ihm eine fundierte Entscheidung zu ermöglichen. Der Zweck der Mitteilungspflicht bestand darin, den künftigen Versicherungsnehmer in die Lage zu versetzen, den seinen Bedürfnissen am ehesten entsprechenden Vertrag auszuwählen, und ihm „klare und genaue Angaben über die wesentlichen Merkmale der ihm angebotenen Produkte und über die Stellen …, an die etwaige Beschwerden der Versicherungsnehmer, Versicherten oder Begünstigten des Vertrages zu richten sind“, zur Verfügung zu stellen(22). Diese Informationen mussten auch die Modalitäten des Rücktritts vom Vertrag umfassen(23).

Im Hinblick auf die Abschnitte ii bis v bestimmte Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, dass der Versicherungsnehmer nach Abschluss des Vertrags und Erhalt einer entsprechenden Mitteilung innerhalb einer begrenzten Rücktrittsfrist vom Vertrag zurücktreten konnte. Es liegt auf der Hand, dass ein Rücktritt von einem Vertrag, der noch nicht geschlossen ist, weil kein Angebot und keine Annahme vorliegen, die zu einer Vereinbarung der Parteien mit bindenden Vertragsbedingungen führen, nicht möglich ist.

Folglich war es nach der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung in Verbindung mit der Dritten Richtlinie Lebensversicherung vorgeschrieben, dass dem (künftigen) Versicherungsnehmer bestimmte Angaben vor Abschluss des Vertrags mitgeteilt wurden und ihm dann nach Mitteilung des Vertragsschlusses eine Rücktrittsfrist von 14 bis 30 Tagen zur Verfügung stand. Nationale Regelungen, die diesen Erfordernissen nicht entsprachen, waren daher nach den beiden genannten Richtlinien unzulässig.

Soweit nach innerstaatlichem Recht das Zustandekommen des Lebensversicherungsvertrags auch ohne ordnungsgemäße und rechtzeitige Mitteilung der maßgeblichen Angaben entsprechend den Erfordernissen von Art. 31 Abs. 1 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung möglich war, dürfte die Richtlinie dem wohl entgegengestanden haben. Der Zweck der Belehrungspflicht wäre verfehlt worden, wenn die Informationen erst nach Abgabe des Angebots durch den Versicherungsnehmer und somit nach seiner Wahl eines Versicherers und eines Vertrags vorgelegt worden wären.

Falls nach der Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats eine Frist vorgesehen war, innerhalb deren der Antragsteller dem Abschluss des Vertrags widersprechen konnte, und davon ausgegangen wurde, dass während dieser Frist der Vertrag noch nicht geschlossen war, handelte es sich bei dieser Frist offensichtlich nicht um eine Rücktrittsfrist im Sinne von Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, so dass dieses Recht in Abschnitt i (Zustandekommen des Vertrags), nicht jedoch in den anschließenden Abschnitten zum Tragen kam.

Angesichts dessen hätte im Recht eines Mitgliedstaats vorgesehen sein müssen, dass nach Ablauf der Frist, innerhalb deren der Antragsteller seinen Willen erklären konnte, nicht an den Vertrag gebunden zu sein (Abschnitt ii), der Versicherungsnehmer vom Abschluss des Vertrags in Kenntnis gesetzt wird (Abschnitt iii) und der Versicherungsnehmer dann innerhalb einer bestimmten Frist nach Vertragsschluss zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt ist (Abschnitte iv und v), wobei sich diese Frist von der Frist unterscheidet, in der er dem Abschluss des Vertrags widersprechen konnte (Abschnitt ii). Andernfalls wäre bei Abschluss des Vertrags die Rücktrittsfrist wohl bereits abgelaufen gewesen.

Folgen

Im Ausgangsrechtsstreit zwischen Herrn Endress und der Allianz, die beide private Parteien sind, ist deutsches Recht anwendbar. Das vorlegende Gericht hat dieses Recht im Einklang mit dem Unionsrecht, insbesondere mit der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung auszulegen, die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses galten. Es ist jedoch anerkannt, dass in einem Rechtsstreit, in dem sich zwei Private gegenüberstehen, eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist(24).

Ich bin zu dem Ergebnis gelangt, dass Art. 15 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung und Art. 31 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung dahin auszulegen sind, dass sie i) einem Mitgliedstaat den Erlass einer Regelung verwehren, wonach das Rücktrittsrecht nach einem Jahr seit Zahlung der ersten Prämie unabhängig davon erlischt, ob der Versicherungsnehmer über dieses Recht ordnungsgemäß und rechtzeitig belehrt worden ist, und ii) einem Mitgliedstaat den Erlass einer Regelung verwehren, wonach dem (künftigen) Versicherungsnehmer bestimmte obligatorische Angaben nicht vor dem Abschluss des Vertrags mitgeteilt werden müssen und ihm eine 14- bis 30-tägige Rücktrittsfrist nicht nach Mitteilung des Vertragsschlusses zur Verfügung stehen muss.

Jedes der beiden Ergebnisse kann erhebliche Auswirkungen auf die Rechtsstellung von Herrn Endress und des Versicherers im Ausgangsverfahren haben.

Wie diese Auswirkungen aussehen, hängt insbesondere davon ab, inwieweit das vorlegende Gericht in der Lage ist, das deutsche Recht in Konformität mit der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung auszulegen. Insoweit verlangt die Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das vorlegende Gericht „das gesamte nationale Recht berücksichtigt, um zu beurteilen, inwieweit es so angewendet werden kann, dass es nicht zu einem der Richtlinie widersprechenden Ergebnis führt“(25). Somit ist das vorlegende Gericht zur Anwendung derjenigen im nationalen Recht anerkannten Auslegungsmethoden verpflichtet, die es ermöglichen, eine innerstaatliche Bestimmung unter bestimmten Umständen so auszulegen, dass eine Kollision mit einer anderen Norm innerstaatlichen Rechts vermieden wird, oder die Reichweite dieser Bestimmung zu diesem Zweck einzuschränken und sie nur insoweit anzuwenden, als sie mit dieser Norm vereinbar ist(26). Gleichzeitig wird die Verpflichtung, bei der Auslegung und Anwendung des innerstaatlichen Rechts eine Richtlinie heranzuziehen, „durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt“ und „darf … nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen“(27).

Kann das von den einschlägigen Richtlinien vorgeschriebene Ziel nicht auf diesem Weg erreicht werden, ist außerdem anerkannt, dass das nationale Recht gegebenenfalls unangewendet bleiben muss(28) und dass bei Vorliegen eines Schadens, der durch den Verstoß gegen die dem Mitgliedstaat auferlegte Verpflichtung verursacht worden ist, das vorlegende Gericht „den Anspruch der geschädigten Verbraucher auf Schadensersatz im Rahmen des nationalen Haftungsrechts sicherzustellen“ hat(29).

Zur zeitlichen Wirkung des Urteils des Gerichtshofs

Für den Fall, dass der Gerichtshof eine nationale Regelung wie die Ein-Jahr-Regel für nach der Zweiten und der Dritten Richtlinie Lebensversicherung unzulässig erklären sollte, hat die Allianz beantragt, die zeitliche Wirkung des Urteils zu beschränken(30). Hierzu trägt die Allianz vor, dass mehr als 108 Millionen Verträge, die in der Zeit von 1995 bis 2007 geschlossen und in deren Rahmen Prämien in Höhe von insgesamt ungefähr 400 Mrd. Euro gezahlt worden seien, von dem Urteil berührt sein könnten(31). Sie selbst habe in diesem Zeitraum etwa 9 Millionen solcher Verträge geschlossen und Prämien in Höhe von insgesamt ungefähr 62 Mrd. Euro eingenommen.

Die Begrenzung der zeitlichen Wirkungen eines Urteils ist eine außergewöhnliche Maßnahme, auf die der Gerichtshof nur zurückgegriffen hat, i) „wenn eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestand, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhingen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen worden waren“, und ii) „wenn sich herausstellte, dass die Einzelnen und die nationalen Behörden zu einem mit dem Unionsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst worden waren, weil eine erhebliche objektive Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Bestimmungen des Unionsrechts bestand, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Europäischen Kommission beigetragen hatte“(32). Finanzielle Folgen allein können dieses außergewöhnliche Vorgehen nicht rechtfertigen(33).

Meines Erachtens liegen im vorliegenden Fall nicht genügend Gründe vor, um eine zeitliche Begrenzung der Wirkungen des Urteils des Gerichtshofs zu rechtfertigen. Der Gerichtshof hat keine Anhaltspunkte dafür, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Rücktritt von den vom Urteil gegebenenfalls betroffenen Lebensversicherungsverträgen erfolgt, in welcher Höhe dem/den Versicherer(n) infolgedessen Kosten entstehen oder inwieweit eine Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen besteht. Ich bin auch nicht überzeugt, dass „eine erhebliche objektive Unsicherheit“ hinsichtlich der in Rede stehenden Bestimmungen des Unionsrechts zumindest die nationalen Behörden dazu veranlasst hat, das Policenmodell beizubehalten oder die Zahlung der ersten Prämie zum Anknüpfungspunkt für den Beginn der betreffenden Frist nach der Ein-Jahr-Regel zu nehmen.

Ergebnis

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof folgende Antwort vor:


Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Recht auf Rücktritt von einem Lebensversicherungsvertrag spätestens ein Jahr nach Zahlung der ersten Versicherungsprämie unabhängig davon erlischt, ob der Versicherungsnehmer über dieses Recht ordnungsgemäß und rechtzeitig belehrt worden ist.


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